Helmut Oberdiek * 18.9.1947 — † 27.4.2016
Tätige Reue und überwachte Freiheit
Der Gesetzestext
Tätige Reue Art. 221
des türkischen Strafgesetzes (TSG)
(1) Ein Mitbegründer
oder Funktionär genießt Straffreiheit, wenn er vor Einleitung
eines Ermittlungsverfahrens und Begehung einer Straftat für die Organisation
die Organisation selbst zerschlägt oder Informationen gibt, die zur
Zerschlagung der Organisation führen.
(2) Ein Mitglied der Organisation
genießt Straffreiheit, wenn es sich an Aktivitäten der Organisation
in keiner Weise beteiligt hat, wenn es seine Loslösung von der Organisation
freiwillig den zuständigen Behörden mitteilt.
(3) Wenn ein Mitglied gefasst
wird, das sich in keiner Weise an Aktivitäten der Organisation beteiligt
hat, Reue zeigt und taugliche Informationen gibt, die zur Zerschlagung
der Organisation oder Festnahmen von Angehörigen der Organisation
führen, genießt es Straffreiheit.
(4) Wer eine Vereinigung
zum Zwecke der Begehung von Straftaten gründet, leitet oder dieser
Organisation angehört oder Mitglied dieser Organisation ist, sich
freiwillig stellt, Informationen über Aufbau der Organisation und
begangene Straftaten im Rahmen der Aktivitäten gibt, wird nicht wegen
Gründung, Leitung einer Organisation oder Mitgliedschaft in einer
Organisation bestraft. Wenn er diese Informationen nach seiner Festnahme
gibt, wird seine Strafe um 1/3 bis 3/4 gemindert.
(5) Personen, die von der
Tätigen Reue Gebrauch machen, werden zu einem Jahr überwachte
Freiheit verurteilt. Der Zeitraum der überwachten Freiheit kann bis
zu drei Jahren verlängert werden.
(6) (mit dem Gesetz 5560
vom 06.12.2006 hinzugefügt) Diese Bestimmung können nur einmal
angewendet werden.
Weitere Bestimmungen
Zuerst bestimmt der Artikel
58 TSG, dass bei Verfahren, in denen ein Urteil ausgesetzt (geri birakma)
wird, die "überwachte Freiheit" zum Tragen kommt. Dem Artikel 231
der türkischen Strafprozessordung (TSPO; das Gesetz 5271 mit Wirkung
vom 01.06.2005) wurden mit dem Gesetz 5560 vom 19.12.2006 die Absätze
8-11 hinzugefügt. Sie besagen, dass die überwachte Freiheit bei
ausgesetzten Urteilen 5 Jahre beträgt. Für die Dauer von einem
Jahr kann auf Gerichtsbeschluss ein Schulungsprogramm (berufsbezogen) angeordnet
werden. Es können auch Auflagen wie Aufenthalt an bestimmten Orten
gemacht werden.
Wenn die Zeit ohne weitere
Straftaten und Erfüllung der Auflagen vorüber ist, wird das Verfahren
eingestellt. Wenn nicht, wird ein Urteil gefällt, in dem die Verbüßung
der Haft (bis zur Hälfte) reduziert werden kann oder die Strafe zur
Bewährung ausgesetzt wird.
Artikel 104 des Gesetzes
zum Strafvollzug (GSV, das Gesetz 5275 mit Wirkung vom 01.06.2005) bestimmt,
dass für Verurteilte, deren Strafen zur Bewährung ausgesetzt
wurden, die entlassen wurden oder denen eine andere Strafe als Haftstrafe
auferlegt wurde, Zentren für "überwachte Freiheit und Hilfe"
gegründet werden. Schutzräte sollen gebildet werden, damit die
"Straftäter" nach der Entlassung Arbeit finden. Einzelheiten werden
per Gesetz geregelt.
Dieses Gesetz mit der Nummer
5402 wurde am 03.07.2005 verabschiedet und am 20.07.2005 im Amtsblatt veröffentlicht.
Damit war es rechtskräftig. Dem Gesetz zufolge sollte die Organisierung
der Zentren durch entsprechende Einrichtungen unter der Leitung des Justizministeriums
vorgenommen werden. Die örtlichen Zentren sollten den Staatsanwaltschaften
unterstellt werden.
Meldungen zum Thema
Radikal vom 06.03.2006
Kein neues Reuegesetz nötig
Die 9. Kammer des
Kassationsgerichtshofs hat in einer Grundsatzentscheidung festgestellt, dass
Personen, die sich den Sicherheitskräften stellen und nicht an Straftaten
beteiligt waren, nach Artikel 221/2 des neuen TSG zu "effektiver
Reue" straffrei ausgehen. Es ging um das Verfahren von I.K., der sich am
7. Juni 2004 gestellt hatte, nachdem er in einem Lager der PKK in den Kandil
Bergen (Irak) ausgebildet worden war. Die 4. Kammer des Landgerichts Diyarbakir
hatte entschieden, dass weder das abgelaufene Gesetz zur Integration in die
Gesellschaft noch der Artikel 212/2 TSG anzuwenden sei. I.K. wurde am 13. Juni
2005 als Mitglied einer bewaffneten Organisation zu 6 Jahren, 3 Monaten Haft
verurteilt. Der Anwalt Yilmaz Demiroglu legte Revision ein und am 26. Dezember
2005 entschied der Kassationshof auf Anerkennung der Revision. Im letzten Jahr
sollen insgesamt 67 ehemalige Angehörige der PKK von dieser Vorschrift
profitiert haben.
So schreibt "bingolonline"
am 11. Dezember 2007:
Aufgrund von Artikel 221/2 TSG
haben sich viele Organisationsangehörige, die vor allem im Lager Mahmur die PKK verlassen und bei der KDP Unterschlupf fanden, die Grenze bei Habur
übertreten und sich den Sicherheitskräften gestellt. Sie wurden als Mitglieder
der Organisation angeklagt; in der ersten Verhandlung freigelassen und für die
meisten erging ein Urteil, dass keine Strafe zu erteilen sei. Nach Nachrichten in den Medien
haben sich in den letzten 2,5 Jahren 245 Terroristen gestellt. Es heißt, dass
sie von den Gerichten freigelassen wurden. Sie kamen aus dem Gebiet Kandil, vor
allem aus den Lagern Hakurk, Haftanin und Metina.
Im November
2006 berichtete die Tageszeitung Aksam von einer Entscheidung
des Kassationshofs.
Eingeleitet wird der Artikel mit
der Bemerkung, dass der Generalstabschef und der Kommandant der Gendarmerie die
PKK'ler aufforderten, sich zu stellen und der türkischen Justiz anzuvertrauen.
Diesen Aufruf habe nun die 9. Kammer des Kassationshofs mit einem Musterurteil
unterstützt. Es sei um das Verfahren von 2
Organisationsmitgliedern gegangen, die von der 4. Kammer des Landgerichts
Diyarbakir für schwere Straftaten verurteilt wurden, da ihre Anträge auf
Anwendung des Artikels 221 TSG abgelehnt wurden. Der Kassationshof meinte, dass
die "tätige Reue" nicht eng interpretiert werden dürfe. Wer nicht an
Straftaten beteiligt gewesen sei, falle unter diese Bestimmung. Das Urteil werde
für 164 Terroristen, die sich im Jahre 2006 den Sicherheitskräften stellten,
ein Beispiel sein. Es wird angenommen, dass sich derzeit in den Lagern der
Organisation im Nordirak 3.500 und in der Türkei 1.300 Militante befinden.
Im Nachrichtenportal "haber10"
wurde am 6. März 2008
behauptet, dass sich seit dem 1. Juni 2005 insgesamt 295 Terroristen gestellt
und in den Genuss der "tätigen Reue" kamen. Sie seien vor allem aus
den Lagern Zap, Hakurk, Hinera, Haftanin, Avasin, Keleras und Metina gekommen.
Vor Gericht (die Kammern 4-6 des Landgerichts Diyarbakir, ehemals die
Staatssicherheitsgerichte) machten diese Personen detaillierte Angaben zu den
Ereignissen, die sie bei der Organisation erlebten. Einige von ihnen waren ein
paar Monate bei der Organisation gewesen, andere jedoch schon 10 oder 12 Jahre.
Am 23.01.2008 schrieb die
Tageszeitung Milliyet, dass
das Justizministerium eine Liste der Verfahren angefordert habe, in denen die
Bestimmungen der tätigen Reue zur Anwendung kamen. Das Ministerium soll an
einem Entwurf arbeiten, mit dem die Bestimmungen erweitert werden sollen. Seit
der Einführung der Bestimmungen seien 150 PKK'ler in den Genuss des Gesetzes
gekommen. Sie wurden der überwachten Freiheit für ein Jahr unterworfen
(Unterschrift bei der nächsten Polizeiwache leisten). Bislang wurden lediglich
13 Anträge abgelehnt, da festgestellt wurde, dass sie an bewaffneten Aktionen
beteiligt waren.
Eine Geschichte
über Verweigerung der Anwendung des Artikels 221 TSG stand in Hürriyet vom
10.02.2008.
Es ging um ein Verfahren vor der
4. Kammer des Landgerichts Diyarbakir für schwere Straftaten. Angeklagt waren
ein Mann (N.T., 37 Jahre) und eine Frau (H.D., 32 Jahre). Sie hatten sich am
Grenzübertritt Habur den Sicherheitskräften gestellt. Der Mann sagte, dass er
sich vor 15 Jahren der Organisation angeschlossen habe. Er sei bei zwei
grenzüberschreitenden Operationen mit der Bezeichnung "Ejder" und
"Safak" in bewaffnete Auseinandersetzungen mit den türkischen
Sicherheitskräften verwickelt worden. Dabei sei er durch Schüsse aus einem
Hubschrauber "Kobra" verletzt worden. Viele Militante, die der PKK
den Rücken zugekehrt haben, würden für die türkische Firma Camlibel in Duhok
arbeiten.
Er sei nach Sengeseri gegangen und
habe sich der PUK gestellt. Die habe ihn in das Lager für Aussteiger bei der
PKK, Seyit Sadik, gebracht. Dort habe er seine Geliebte priesterlich geheiratet
und sie hätten beschlossen, in die Türkei zurückzukehren. Die Frau H.D. sagte, dass sie 14
Jahre lang in den Lagern Kandil, Haftanin, Zeli, Hakurk und Hinere gewesen sei.
Im Jahre 1992 habe ihr Vater versucht, sie mit einem älteren Mann aus einem
Nachbardorf im Kreis Idil (Sirnak) zu verheiraten. Deshalb habe sie sich der Organisation
angeschlossen. Das Gericht fragte beim
Generalstab nach, ob es Informationen zu dem Gefecht gibt, bei dem der Mann
verletzt worden sein will. Da die Antwort darauf negativ ausfiel, wurde er zu
10 Jahren Haft verurteilt. Die Frau ging straffrei aus.
Eine sehr detaillierte Schilderung des dem Urteil zugrunde liegenden Verfahrens
befindet sich unter
http://www.kenthaber.com/Arsiv/Haberler/2006/Mart/05/Haber_125760.aspx
Fundstelle: http://www.bingolonline.com/modules.php?name=Kose_Yazilari&file=yazi_oku&sid=587
Die eher propagandistischen Teile dieser Meldung habe ich nicht übersetzt
Fundstelle: http://www.aksam.com.tr/haber.asp?a=57283,4&tarih=02.11.2006
Fundstelle: http://www.haber10.com/haber/114849/
Fundstelle: http://www.milliyet.com.tr/2008/01/23/son/sontur27.asp
Fundstelle im März 2008: http://arama.hurriyet.com.tr/arsivnews.aspx?id=8203080
In der Zeitungsmeldung befinden sich hier (wie schon in der Aussage des Mannes)
Einzelheiten zu Personen und Aktivitäten in der Organisation, deren Inhalt ich
nicht wiedergegeben habe.
Eine Offensive (grenzüberschreitende Operation) unter dem Namen
"Ejder" (Drache) wird es im Jahr 1995 gegeben haben. Es gibt darüber
Bücher, CDs und Plastiken mit dem Namen. Die Operation "Safak"
(Morgengrauen) fand im Oktober 1997 statt. Dabei sollen 816
"Terroristen" unschädlich gemacht worden sein (vgl. Nachricht in CNN
http://www.cnnturk.com/DUNYA/haber_detay.asp?PID=319&HID=1&haberID=430959).
Ich kann natürlich nicht sagen, bei welcher dieser Operationen N.D.
verletzt
worden sein will und ob dessen Zeitangaben stimmen.
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