Anhörung vor dem Bundestag

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HEARING Menschenrechte in der deutschen Innen- und Außenpolitik

am 11. und 12. Mai 1993 in der Landesvertretung des Landes Niedersachsen, Bonn

Einleitendes Referat

im Teil 2: Deutsche Menschenrechtspolitik dargestellt an Länderbeispielen:

Anspruch, Wirklichkeit, Rückwirkungen (AG 3 "Türkei")

Seit im September 1980 die Generäle in der Türkei putschten, sind die groben Menschenrechtsverletzungen in diesem Land nicht mehr zu übersehen. Verbessert hat sich die Lage unter zivilen Regierungen der letzten 10 Jahre nicht.

Eine halbe Million Bürger wurde wegen politischer Betätigung verhaftet und gefoltert, fast 300 Häftlinge überlebten die Folter nicht, 50 Menschen wurden hingerichtet, 27 davon waren politische Gefangene, in Massenprozessen wurden Zehntausende für ihre Gesinnung bestraft. Dies sind nur einige Zahlen, die die Schreckensbilanz der 80er Jahre verdeutlichen.

Trotz massiver Kritik hat die Staatsführung der Türkei auch in den 90er Jahren keine einschneidenden Maßnahmen gegen Menschenrechtsverstöße ergriffen. So genannte Reformen gingen über "kosmetische" Veränderungen nicht hinaus. Diese Haltung lässt sich mit dem Verb "idare etmek" umschrieben. Es bedeutet sowohl "verwalten", als auch "ein Auge zudrücken", "so tun als ob".

Die Staatenbeschwerde

Diese Kunst vollführten die unterschiedlichsten Regierungen in der Türkei. Am 1. Juli 1982 legten 5 Staaten (Dänemark, Norwegen, Schweden, Frankreich und die Niederlande) gegen die Militärjunta eine Beschwerde bei der Europäischen Menschenrechtskommission ein, in der u.a. Folter, unfaire Gerichtsverfahren und Beschneidung der Meinungsfreiheit bemängelt wurde. Nach dem Übergang zu ziviler Herrschaft wurde im Dezember 1985 eine gütliche Einigung getroffen. Die Türkei kam den Bedingungen dieses Abkommens "mit Leichtigkeit" nach. Sie legte in einem Jahr die erwarteten drei Berichte zur Menschenrechtssituation vor, ließ einen Ausschuss die Situation in den Gefängnissen (Folter) untersuchen, schaffte innerhalb von 18 Monaten das Kriegsrecht ab (um es in einigen Provinzen durch Ausnahmezustand zu ersetzen) und deklarierte die Verkürzung der Strafhaft vom März 1986 als "Amnestie".

Die Staatenklage, an der sich die Bundesrepublik übrigens nicht beteiligte, war damit zwar vom Tisch, aber Menschenrechtsverletzungen nahmen nicht ab. Immer wenn Kritik lauter wurde, "tat die Staatsführung so als ob". Im Januar 1987 wurde das individuelle Beschwerderecht unter der EMRK anerkannt. Im Februar 1988 wurde die Europäische Konvention zur Verhinderung von Folter ratifiziert und im August 1988 die UN-Anti -Folter Konvention. Folter aber ging systematisch weiter.

Das Anti-Terror Gesetz

Das von langer Hand vorbereitete "Anti-Terror Gesetz" vom April 1991 wurde schließlich als das durchschlagende Reformpaket präsentiert. Die bis dahin verhängten Todesstrafen wurden in Haftstrafen verwandelt und einige notorische Gesinnungsparagraphen wurden abgeschafft. Hierdurch kamen mehr als 20.000 Häftlinge frei. Das Gesetz aber machte einen Großteil der Opposition zu "Terroristen", redefinierte Gesinnungsdelikte, hob Geld- und Haftstrafen gerade für die Presse drastisch an und schützte Folterer vor Strafverfolgung.

Diese "zweifelhafte" Reform reichte auch national nicht. So geschah es, dass 1991 eine Koalitionsregierung an die Macht kam, die die Wahlen mit Parolen von "transparenter Politik", "gläsernen Polizeistationen" und "Einhaltung der KSZE-Bestimmungen" gewonnen hatte. Den Versprechungen zum Trotz aber hat sich die Lage noch verschlechtert. Das Grundübel Folter wurde in seinem Ausmaß sogar noch von politischen Morden (außergerichtlichen Hinrichtungen) übertroffen.

Eine Bilanz

Einer Aufstellung der Menschenrechtsstiftung in Ankara zufolge fielen in den ersten 500 Tagen der Demirel-Inönü Regierung (zwischen dem 21. November 1991 und 5. April 1993) 3474 Menschen "politischer Gewalt" zum Opfer. Davon sind

- 2097 Todesopfer dem Staat anzulasten. Im Einzelnen sind es
- 443 Hinrichtungen ohne Gerichtsurteil (extreme Gewaltanwendung bei Demonstrationen oder Verhören, beispielsweise 19 Foltertote),
- 493 Morde durch staatlich protektionierte Todesschwadrone (auch bekannt als Kontr-Guerilla und
- 1161 im "Kurden-Krieg" getötete Militante.
- 1377 Todesopfer gehen auf das Konto gewaltbefürwortender Organisationen. Im Einzelnen sind es
- 802 im "Kurden-Krieg" getötete Sicherheitsbeamte,
- 331 bei Attentaten ermordete staatliche Bedienstete und
- 224 bei Vergeltungsschlägen umgebrachte Zivilisten.

Kaum einer der fast 1000 Morde auf staatlicher Seite wurde aufgeklärt. Dies trifft auch für die 16 Morde an Journalisten zu (14 davon im kurdischen Siedlungsgebiet unter Ausnahmezustand). Durch Morde, Inhaftierung und Folter sollen Journalisten eingeschüchtert und freie Berichterstattung unterbunden werden. Besonders bedroht sind auch die wenigen Menschenrechtsaktivisten unter den Kurden. Der Rechtsanwalt Metin Can, Vorsitzender des Menschenrechtsvereins in Elazig, wurde am 21.02.1993 zusammen mit einem befreundeten Arzt entführt. 6 Tage später wurden die Leichen der beiden Männer in der Nähe von Tunceli gefunden. Sie wiesen Folterspuren und Schußwunden auf. Am 24.02.93 wurde die Leiche des Menschenrechtiers Cemal Akar aus Erzincan gefunden. Er war 35 Tage zuvor entführt worden.

Die als "Kurdenpartei" bekannte Volkspartei der Arbeit (HEP) steht kurz vor einem Verbot. Im letzten Jahr fielen 44 ihrer Mitglieder und Funktionäre politischen Morden zum Opfer. Mehrere Verfahren wurden gegen die Abgeordneten der HEP angestrengt, u.a. nach Paragraph 125 des türkischen Strafgesetzes, der die Todesstrafe vorsieht. Geltende Gesetze sehen bei einem Verbot der Partei Verlust des Mandats und somit der Immunität vor.

Wahlversprechen

Kaum eines der weit reichenden Wahlversprechen wurde in der zugesagten Frist von 500 Tagen erfüllt. Hoffnungen auf eine Reform der Strafprozessordnung (StPO), mit der Folter abgeschafft werden sollte, wurden arg enttäuscht. Die Änderungen im Dezember letzten Jahres führten zudem zweierlei Rechtsnormen ein. Für gewöhnliche Delikte wurde die Dauer der Polizeihaft von 48 auf 24 Stunden reduziert. Bei mehreren Beteiligten kann der Staatsanwalt eine Dauer von 4 Tagen und ein Richter eine maximale Dauer von 8 Tagen anordnen. Bei politischen Häftlingen wurde die bislang gültige Höchstdauer von 15 Tagen beibehalten.

Weitere Bestimmungen zur Länge der Untersuchungshaft, Belehrung über ein Aussageverweigerungsrecht, Rechtsbeistand bei Verhören, Stellung eines Anwaltes durch die Anwaltskammer, Akteneinsicht des Anwaltes und Privatheit des Verteidigergespräches gelten für politische Fälle (Verfahren vor den Staatssicherheitsgerichten) ebenfalls nicht. Unverändert geblieben sind auch die Vorschriften des Ausnahmezustands. Polizeihaft darf hier einen Monat dauern.

So wurde der 18-jährige Faruk Dondar im März und April dieses Jahres über 25 Tage von der Gendarmerie in Midyat und Mardin zu Kontakten mit seinen Geschwistern, die zu den Guerillas gegangen waren, verhört. Nach seiner Schilderung wurde er wiederholt geschlagen und nackt, an seinen auf dem Rücken zusammengebundenen Armen aufgehängt, mit eiskalten Wasser bespritzt und im hängenden Zustand wurde ihm ein Polizeiknüppel in den After gestoßen. Seine dabei erlittenen Verletzungen bedingten einen mehrwöchigen Aufenthalt im Krankenhaus der medizinischen Fakultät in Istanbul, wo er insgesamt drei Mal operiert wurde. Seit der Reform in der StPO sind mindestens 2 Menschen in der Polizeihaft an den Folgen der Folter gestorben.

Die Ausrufung einer einseitigen Waffenruhe durch die Kurdische Arbeiterpartei, PKK (sie trat m 20. März in Kraft) hat eine Verringerung der politischen Morde zur Folge gehabt. Allem Anschein nach halten sich die Guerillaeinheiten der PKK an den Waffenstillstand. Morde haben jedoch nicht aufgehört. Nach einer Aufstellung des Menschenrechtsvereins in Diyarbakir sind zwischen dem 20. März und Anfang Mai 51 Guerillas und 14 Zivilisten von staatlicher Seite getötet worden.

Besonders erwähnt werden müssen die mit unverminderter Härte geführten Aktionen der Sicherheitskräfte zur "Entvölkerung" von Dörfern. Durch Luft- und Landangriffe der Streitkräfte zusammen mit den für den Kampf mit den Guerillas bewaffneten Dorfschützern wurden in den ersten 45 Tagen nach Ausrufung der Waffenruhe die Bewohner von mehr als 20 Dörfern und noch einmal so vielen Ansiedlungen zum Verlassen ihrer Häuser gezwungen. Beobachter der Lage befürchten, dass man damit Gegenaktionen der PKK provozieren und den Waffenstillstand gefährden will.

NATO-Waffen im Einsatz

Bei Razzien und Angriffen gegen Dorf- und Stadtbewohner werden allen Erkenntnissen zufolge NATO-Waffen eingesetzt. Der Helsinki -Watch Bericht "The Kurds of Turkey: Killings, Disappearances and Torture" vom März 1993 berichtet von einem Bombenangriff auf eine Zeltsiedlung in der Nähe von Semdinli, Provinz Hakkari, im Juni letzten Jahres, in dessen Folge 5 Menschen starben und 33 verletzt wurden. Der Angriff soll von in den USA hergestellten F 104 oder F 16 Bombern geflogen worden sein.

Nach Berichten der türkischen Presse wurden schon Mitte der 80er Jahren mehr als 100 Starfighter (F 104 G-Bomber) von der Bundesrepublik an die Türkei geliefert. Dies ist aber nicht der einzige Beitrag von Waffen aus Deutschland, die gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden. Berühmt-berüchtigt wurde der Einsatz von NVA Panzern "BTR-60" während der blutigen Newroz-Feierlichkeiten 1992 (mehr als 90 Tote), aber auch bei Dauerbeschuss von Städten und Stadtvierteln wie Sirnak (August und Oktober 1992), Kulp (Oktober 1992) oder Cizre (November 1992). Im September wurde der in Vizre als "Dorftrottel" bekannte Mesut Dündar als vermeintlicher Terrorist entweder kurz vor oder nach seinem Tod von einem BTR-60 Panzer über einen Schotterweg gezogen.

Bedenklich ist neben der Ausbildung von Spezialeinheiten (özel tim), denen Kontr-Guerilla Aktivitäten nachgesagt werden, durch die GSG 9 auch die Ausstattung von Dorfschützern mit G-3 Gewehren. Unzählige Beispiele belegen, dass viele dieser mehr als 30.000 Dorfschützer ihre Waffen gegen (verfeindete) Nachbardörfer und andere Zivilisten einsetzen. So wurde am 23. April dieses Jahres eine Delegation aus Abgeordneten und Menschenrechtlern von Dorfschützern beschossen, als sie Untersuchungen in einem Dorf bei Bismil anstellten.

Deutsch-türkische Beziehungen

Die deutsch-türkischen Beziehungen wurden letztes Jahr vorübergehend getrübt, als die Bundesregierung zwischen Ende März und Anfang Juni Waffenlieferungen an die Türkei einstellte. Nach den USA bleibt die Bundesrepublik jedoch der zweitgrößte Waffenlieferant an die Türkei. Seit 1964 wurden der Türkei ca. 2 Milliarden DM an NATO-Verteidigungshilfen und 1,88 Milliarden DM an Rüstungssonderhilfen gewährt. Die enge militärische Verflechtung mit der Türkei kommt auch in umfangreichen Ausstattungs- und Ausbildungshilfen zum Ausdruck. Darüber hinaus sind deutsche Firmen an der türkischen Rüstungspro¬duktion beteiligt.

Ansonsten zeigte sich deutsches Kapital bei Investitionen in der Türkei bisher eher zurückhaltend. Es sind aber regelmäßig Wirtschaftshilfen aus der Bundesrepublik geflossen. Allein zwischen 1979 und 1982 wurden innerhalb eines OECD Programms 1,87 Milliarden DM Entwicklungshilfe von Deutschland aufgebracht.

Die Türkei betrachtet sich selber als Teil der westlichen Welt und betreibt die Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft. Neben der NATO gehört die Türkei auch dem Europarat an und nimmt an der KSZE teil. In all diesen Gremien hofft die Türkei auf eine Unterstützung durch die Bundesrepublik, in der über 2 Millionen ihrer Bürger leben.

Mit Ausnahme des kurzfristigen Waffenembargos 1992 hat die Bundesregierung keine Bereitschaft zu Sanktionen gegen die Türkei aufgrund ihrer negativen Menschenrechtspolitik gezeigt. In einzelnen Fällen wie der Inhaftierung des Freiburger Journalisten Stephan Waldberg ist ihr auch der diplomatische Erfolg versagt geblieben. Trotzdem muss erwartet werden, dass in bilateralen Kontakten, wie dem Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl nächste Woche, deutlich Position bezogen wird. Anlass dazu geben nicht nur die Berichte regierungsunabhängiger Organisationen wie ai oder Helsinki Watch, sondern auch die Tatsache, dass die Türkei das erste Land ist, das im vergangenen Dezember vom Europäischen Komitee zur Verhinderung der Folter in einem öffentlichen Bericht angeklagt wurde.