Urteil des BVerfG

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Urteil des BVerfG vom 12.02.2008

Wertungsrahmen überschritten

Mit der ohne weitere Sachverhaltsaufklärung getroffenen Einschätzung, die Strafverfolgung und die anstehende Strafhaft selbst stellten sich nicht als politische Verfolgung, sondern als bloße Ahndung des nach Ansicht der türkischen Justiz begangenen kriminellen Unrechts dar, hat das Verwaltungsgericht den ihm eröffneten fachgerichtlichen Wertungsrahmen überschritten. Falscher Verdacht kann aslyrelevant sein

Auch Maßnahmen eines Staates, die auf einer möglicherweise falschen Verdächtigung - hier der Mitgliedschaft in der Hizbullah - beruhen, können Asylrelevanz besitzen. Einer Maßnahme kann die Asylrelevanz nicht allein deshalb abgesprochen werden, weil der Betroffene objektiv kein Träger eines asylerheblichen Merkmals ist (vgl. BVerfGE 80, 315 <339 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 8. November 1990 - 2 BvR 933/90 -, NVwZ 1991, S. 772).

Politmalus

Solange sich ein so genannter Politmalus nicht von vornherein ausschließen lässt, ist es Aufgabe des Verwaltungsgerichts, den diesbezüglichen Sachverhalt in einer der Bedeutung des Asylgrundrechts entsprechenden Weise aufzuklären (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 27. April 2004 - 2 BvR 1318/03 -, NVwZ-RR 2004, S. 613 <614>.

Foltervorwurf ist aufzuklären

In diesem Zusammenhang wäre auch der Behauptung des Beschwerdeführers, er sei im Zuge der Ermittlungen gefoltert worden, als Indiz für das Bestehen eines "Politmalus" nachzugehen gewesen. Die Erwägungen des Verwaltungsgerichts, wonach in der strafgerichtlichen Verurteilung deshalb keine politische Verfolgung im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG zu sehen sei, weil Ablauf und Inhalt des Verfahrens keine Anhaltspunkte für eine willkürliche Vorgehensweise zu entnehmen seien, die Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung auch nach deutschem Strafrecht mit hohen Strafen geahndet werde und es nicht gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoße, wenn die türkische Justiz den Strafrahmen ausschöpfe, sind nicht geeignet, zu belegen, dass der Beschwerdeführer keiner politischen Verfolgung ausgesetzt war.

Verbleib im Lande

Auch mit der Einschätzung, die dem Beschwerdeführer in Polizeihaft zugefügte Folter sei nicht ausreiseauslösend gewesen, überschreitet das Verwaltungsgericht den ihm zustehenden Wertungsrahmen. Das Gericht hat die Bedeutung des dem Asylgrund¬recht zugrunde liegenden Zufluchtgedankens verkannt, indem es ohne weitere Sachverhaltsermittlungen aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft in der Türkei verblieben ist, auf die fehlende Kausalität der Folter für die Ausreise geschlossen hat.

Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts lag es aus der Sicht des Beschwerdeführers nicht fern, in der während der Polizeihaft erlittenen Folter nur solange einen abgeschlossenen und nicht weiter wirkenden Vorgang zu sehen, als ihm keine schärfere Bestrafung und eine erneute Inhaftierung drohte. Zum Zeitpunkt seiner Freilassung durfte der Beschwerdeführer möglicherweise darauf vertrauen, dass der türkische Staat von einer weiteren Verfolgung absehen würde. Es ist denkbar, dass erst mit der Aufhebung des zu seiner Freilassung führenden Urteils sich die Bedrohungslage erneut aktualisierte.

Der Beschwerdeführer hat klar zu erkennen gegeben, dass er einen Zusammenhang zwischen der Behandlung in der Polizeihaft und dem anschließenden Strafverfahren für gegeben erachtete, und gegenüber dem Bundesamt angegeben, nicht nur eine lange Inhaftierung zu fürchten, sondern Angst um sein Leben zu haben. Vor diesem Hintergrund hätte das Verwaltungsgericht den Schilderungen des Beschwerdeführers über die erlittene Folter weiter nachgehen müssen. Anschließend hätte der Klärung bedurft, ob der Beschwerdeführer unter dem durch die Verurteilung aktualisierten Druck einer Verfolgung, die sich in der von ihm behaupteten zurückliegenden menschenrechts- und rechtsstaatswidrigen Behandlung manifestierte, ausgereist ist. Sollte das Vorbringen des Beschwerdeführers umfassend zutreffend gewesen sein, wäre in Anwendung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs die Frage zu klären gewesen, ob er bei einer Rückkehr hinreichend sicher vor erneuter Verfolgung wäre (vgl. nur BVerfGE 54, 341 <360>. Das Verwaltungsgericht hat demgegenüber allein darauf abgestellt, dass der Beschwerdeführer ausgereist ist, um sich der Verbüßung einer langjährigen Haftstrafe zu entziehen. Die Feststellungen zur Gefahr drohender Folter bei einer Rückkehr genügen dem hier möglicherweise anzuwendenden herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab nicht.

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