Helmut Helmut Oberdiek * 18.9.1947 — † 27.4.2016
Wörterbuch  Bibliothek von HO aus HF in HH

Rechtsstaatlichkeit politischer Prozesse

in der Türkei
(Antworten auf die Fragen 1-3)
Recherchiert im Oktober 2005
Fertigstellung: Januar 2006

Jedes Kapitel hat ein Fazit (Zusammenfassung):
1. Antwort auf Frage 1: Werden erfolterte Aussagen als Beweis verwendet?
1.1. Fazit
2. Antwort auf Frage 2: Wie reagieren Gerichte auf Foltervorwürfe?
2.1. Fazit
3. Antwort auf Frage 3: Rechte der Verteidigung und Beweiswürdigung
3.1. Fazit
Fußnoten

1. Antwort auf Frage 1
Sie lautete: Werden Geständnisse und Aussagen Dritter, welche unter Folter erpresst wurden, entgegen dem Verwertungsverbot zur entscheidenden Grundlage von Verurteilungen in Strafverfahren (insbesondere wegen politischer Taten wie Hochverrat, Mitgliedschaft etc.) gemacht?
Anders formuliert könnte die Frage in Bezug auf die von mir geschilderten Beispiele lauten: Wie wären die Verfahren ausgegangen, wenn es keine erfolterten Aussagen gegeben hätte?
a. Vorbemerkungen
Bei der Beantwortung der Frage: "Wie wäre das Verfahren ausgegangen, wenn es keine erfolterten Aussagen als Beweis gegeben hätte bzw. die Aussagen, von denen behauptet wurde, dass sie unter Folter aufgenommen wurden, nicht verwertet worden wären?" sollte ich zunächst einmal einräumen, dass nicht alle der von mir berücksichtigten Fälle (schon) in ein Urteil mündeten bzw. erfolterte Aussagen nicht als einziges Auswahlkriterium für meine Beispiele dienten. Ich kann daher nicht behaupten, dass alle referierten 18 Fälle anders ausgegangen wären, wenn Aussagen, von denen behauptet wurde, dass sie erfoltert wurden, nicht berücksichtigt worden wären. Bezogen auf die Fälle 1-8 und 15-18 würde ich allerdings meinen, dass die erstinstanzlichen Urteile anders ausgefallen wären, wenn diese Aussagen nicht als Beweise verwendet worden wären. (1)
In den Fällen 1-6 war kein Militärrichter bei der Urteilsfindung dabei. In den Fällen 4 und 5 ist das erstinstanzliche Gericht auch nach Umbenennung zu keinem anderen Urteil gekommen. In den Fällen 7 und 8 spielen mit ziemlicher Sicherheit (2) erfolterte Aussage eine zentrale Rolle bei der unverhältnismäßig lang andauernden Untersuchungshaft von bis zu zehn Jahren und mehr. Das Gleiche gilt für die Fälle, auf die die Anwältin Fatma Karakas Bezug nimmt (2. Unterpunkt zu Fall 7), sowie den aus Zeitungsmeldungen und einer Entscheidung des EGfMR rekonstruierten Fall (als Unterpunkt zu Fall 8). Der Fall 17 ist aus der Zeit vor 1999 und ist von amnesty international gut dokumentiert. Die Beispiele 15, 16 und 18 sind aus der jüngeren Vergangenheit und beinhalten neben dem Element von vermutlich erfolterten Aussage als Beweismittel auch das "Fabrizieren" zusätzlicher Beweismittel.
Wie zu sehen, sind die meisten Entscheidungen (Beispiele mit einem Urteil) aus der Zeit nach 2000, und in fünf Fällen gibt es Urteile, die nach der Umbenennung der SSG (Juni 2004) gefällt wurden. Davon sind vier Urteile nach dem m. E. wichtigeren Datum des 1. Juni 2005 gefällt worden (der Tag, an dem ein neues Strafrecht, eine neue Strafprozessordnung und andere Gesetze in Kraft traten).
Allem Anschein nach hat sich also an der Rechtsprechung in politischen Verfahren nichts geändert, selbst wenn neue Gesetze gelten und die Gerichte einen anderen Namen erhalten haben.
b. Folter: Behauptung oder Tatsache?
Ich habe mich seit mehr als 20 Jahren mit dem Phänomen der Folter in der Türkei auseinander gesetzt und zahllose Berichte über die Qualen in der Polizeihaft zur Kenntnis genommen. Viele der Opfer habe ich persönlich interviewt, in anderen Fällen lagen mir detaillierte Schilderungen vor. Schon vor dieser Recherche habe ich sehr viele Prozessakten eingesehen und bin mit der Art der Protokollierung von Verhandlungen durch häufige Prozessbeobachtungen (u. a. für amnesty international) vertraut. Auf Grundlage dieser Erfahrungen habe ich die hier vorgestellten Fälle gewürdigt und komme zu dem Ergebnis, dass die vorgebrachten Behauptungen von Folter das Ausmaß der Folter eher unter- als übertreiben.
Im Fall 1 liegt eine eindrucksvolle, 10-seitige Schilderung des Betroffenen vor. Sie allein dürfte jeden Zweifel an den Foltervorwürfen ausräumen. (3) Im Fall 5 habe ich fünf der acht Betroffenen direkt interviewt und verbürge mich für die Glaubwürdigkeit der Personen. Gleiches gilt für den Fall 17, wo ich mich mit mindestens fünf der Betroffenen nach dem Ende ihrer Untersuchungshaft unterhalten habe und vor Erstellung des Gutachtens noch mit einem weiteren Betroffenen sozusagen "meine Erinnerung aufgefrischt" habe.
Selbst wenn in den meisten Fällen nur Protokolle von richterlichen Vernehmungen und/oder aus der Hauptverhandlung vorliegen, so stimmen die dort gewählten Formulierungen durchaus mit dem überein, was ich aus Verfahren kenne, in denen ich mir einen persönlichen Eindruck zu den massiven Foltervorwürfen verschaffen konnte, die jedes Mal weit über die protokollierten Vorwürfe hinausgingen.
Ein Haupteinwand zu den Foltervorwürfen dürfte das Fehlen von Attesten, die körperliche Spuren von Misshandlung oder Folter bescheinigen, darstellen. Auf der anderen Seite haben sich Gerichte selbst dann noch über Foltervorwürfe hinweg gesetzt, wenn es solche Atteste gab (siehe dazu vor allem den Unterpunkt zu Fall 7: "Massive Foltervorwürfe in 'Endlosverfahren'").
Ich halte ein solch formalistisches Herangehen an Foltervorwürfe für absolut unzureichend, wenn eingeschätzt werden soll, ob gefoltert wurde oder nicht. Sicherlich sind "objektive Befunde" so etwas wie der Nachweis der Folter. Ich halte es aber für abwegig, im Falle von fehlenden Attesten davon auszugehen, dass nicht gefoltert wurde. (4) Auf der einen Seite gibt es etliche Foltermethoden, die keine sichtbaren Spuren (Wunden) hinterlassen. Zum anderen kommt es sowohl auf die Umstände (Anwesenheit der Folterer bzw. Einschüchterung von Arzt und/oder Opfer) als auch auf den "Mut" von Arzt und Opfer an, in solchen Situationen auf die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften für diese Untersuchungen zu bestehen.
Spätestens mit dem Erlass des Gesundheitsministerium der Türkei vom 20.09.2000 für "Dienste der Gerichtsmedizin und Erstellung von Attesten", der wiederum Bezug auf Dekrete aus den Jahren 1995 und 1997 nahm (zu finden unter: http://www.adlitabiplik.saglik.gov.tr/index.php?p=arsiv), haben die Berichte der Mediziner mindestens Ort und Zeit des Vorfalls und die Beschwerden des Untersuchten zu enthalten. Des Weiteren muss auf psychische Symptome geachtet. Im Falle von sexuellen Übergriffen muss ein weiteres Formblatt ausgefüllt werden.
Die Arztberichte zu den meisten der für die Zeit nach September 2000 berichteten Schicksale in der Polizeihaft erfüllen diese Konditionen nicht. Es gab zwar Orte, an denen Formblätter verwendet wurden, aber die mit moderner Technologie leicht auszudruckenden Vorlagen des Justizministeriums waren in den mir vorliegenden Fällen nicht darunter. (5) In einer "modernen" Stadt wie Izmir gab es Mitte 2002 noch nicht einmal die Formblätter, d. h. die so genannten Befunde, die aus dem Satz bestanden "keine Spuren von Schlägen und Gewalt", sahen eher aus wie "Schmierzettel" für Notizen an der Pinnwand. (6)
In mehreren der von mir referierten Fälle haben die Betroffenen geschildert, wie sich die angeblichen Untersuchungen abspielten. Fall 1: "Bevor wir dem Staatsanwalt vorgeführt wurden, wurden wir einem Arzt gezeigt. Neben ihm war der stellvertretende Kommandant der Kompanie und ein Hauptgefreiter."; "Ich habe (dem Arzt) die Schwellungen an den Füßen gezeigt. Er meinte, das sei nicht weiter wichtig und werde verheilen. Andere Stellen am Körper hat er sich nicht angeschaut."; "Der Arzt hat nur den Blutdruck gemessen."; Fall 5: "Nachdem ich mein T-Shirt angehoben hatte, war die Untersuchung beendet."; Fall 6: "Der Arzt hat einen Bericht angefertigt, ohne mich zu untersuchen."; Fall 9: "Obwohl Spuren von Schlägen zu sehen waren, hat der Arzt sich das nicht angeschaut."; Fall 14: "Der Arzt hat mich nicht ordentlich untersucht. Außerdem sind die Polizisten ständig rein und raus gegangen und ich war nie mit dem Arzt alleine."
In der Regel bringen Polizisten oder Soldaten der Gendarmerie die Verdächtigen sowohl vor Beginn der Verhöre als auch am Ende der Verhöre (bzw. vor der Verlängerung der Polizeihaft) zu einem Arzt. Das sind nicht unbedingt die gleichen Personen, die auch die Verhöre durchführen, aber immerhin haben sie Dienst auf der gleichen Wache, an denen die Verdächtigen möglicherweise gefoltert wurden.
Die Untersuchungen werden meistens in Institutionen in der Nähe der Polizeiwache oder Gendarmeriestation durchgeführt. Das kann auf einer Gesundheitsstation (saglik ocagi) oder in einem Staatskrankenhaus sein. Nur selten wird die Gerichtsmedizin direkt eingeschaltet (Ausnahme: die Gerichtsmedizin im Gebäude des SSG Istanbul). Die meisten dieser Mediziner sind fachlich nicht auf solche Situationen vorbereitet und in vielen Fällen suchen sich die Sicherheitskräfte die Mediziner anhand früherer Erfahrungen aus (um kein Verfahren wegen Folter zu riskieren).
Den einzigen Unterschied, den ich zwischen Attesten aus den 80er Jahren und der Zeit nach 2000 feststellen konnte, war die Tatsache, dass nun zu jeder Person ein Bericht erstellt wird. In den 80er und teilweise noch in den 90er Jahren verfasste die Polizei (oder Gendarmerie) eine Liste aller Verdächtigen, und der Arzt (die Ärztin) durfte lediglich ein Urteil zu allen Personen abgeben. Einschränkend sollte ich anmerken, dass schon damals mutige Ärzte und Ärztinnen Feststellungen zu einzelnen Personen notierten.
In einigen wenigen Fällen enthalten die Berichte heutzutage auch Details (wie z. B. die Beschwerden der untersuchten Person). Das sind in meinen Fallschilderungen jene Atteste, die von der Gerichtsmedizin Istanbul ausgestellt wurden.
Fast wie "in alten Tagen" mutet ein Bericht an, den ich während der Erstellung des Gutachtens in der Tageszeitung "Radikal" vom 24.11.2005 fand. Hier wird aus Konya die Festnahme von 22 Personen in der so genannten Operation "Brüder Sevinc" im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität gemeldet. Angehörige der schnellen Eingreiftruppe (die so genannten "Rambos", die vorwiegend bei Demonstrationen zum Einsatz kommen) sollen die 22 Verdächtigen am 23.11. gegen 6 Uhr zum Numune Krankenhaus gebracht haben. Sie ließen aber niemanden aussteigen, sondern holten den Arzt Dr. Hasan Coksaglamdemir in den halbdunklen Bus, wo er einen Bericht unterschrieb, dass es keine Spuren von Schlägen und Gewalt gebe. Diesen Bericht soll er den Sicherheitskräften übergeben haben. (7)
Weit gewichtiger ist für mich ein Einspruch gegen Foltervorwürfe, wenn der/die Beschwerdeführer/in die Aussage bei der Polizei vor dem Staatsanwalt und dem Haftrichter bestätigt hat.
Es kann wohl kaum behauptet werden, dass die Verdächtigen zum Zeitpunkt ihrer Vernehmung durch einen Staatsanwalt oder den Haftrichter gefoltert werden. Meistens aber finden diese "Anhörungen" im unmittelbaren Anschluss an die polizeilichen "Ermittlungen" statt. (8) So wurden z. B. im Fall 9 die Verdächtigen die ganze Nacht bis in die frühen Morgenstunden des 31. März 2005 von der Polizei verhört. Alle sechs Verdächtigen wurden am 31.03.2005 sowohl dem Staatsanwalt als auch dem Haftrichter vorgeführt (leider sind hier keine Uhrzeiten vermerkt).
Behauptungen, dass ein Staatsanwalt bei der polizeilichen Vernehmung (d. h. bei der Folter) anwesend ist, können vielleicht zutreffen, sind aber nicht zu belegen (vgl. Fall 1). Es ist aber nicht ungewöhnlich, dass Polizeibeamte bei der Aufnahme der Aussagen durch den Staatsanwalt anwesend sind. Im Fall 15 wurde von mehreren Angeklagten darauf hingewiesen, dass die Polizeibeamten sogar bei der richterlichen Vernehmung anwesend waren.
Als Regelfall kann davon ausgegangen werden, dass die Verdächtigen auf dem Weg zum Gerichtsgebäude (zur Staatsanwaltschaft und dem Haftrichter) von den sie begleitenden Sicherheitsbeamten bedroht werden, dass sie oder Angehörige von ihnen Schaden erleiden, wenn sie ihre Aussagen bei der Polizei nicht bestätigen. Dies kann gerade für unerfahrene und willensschwache Menschen einen so einschüchternden Effekt haben, dass sie unwahre Beschuldigungen "eingestehen". (9)
Das im Fall 18 erwähnte Verfahren aus dem Jahre 1998 hatte 29 Angeklagte, von denen anscheinend alle (zumindest nach dem Urteil aus dem Jahre 2000) bei der Polizei ein Geständnis abgelegt haben. Wiederum nach dem, was im Urteil zusammengefasst dargestellt wird, haben nur vier unter ihnen diese Angaben beim Staatsanwalt und Haftrichter bestätigt. Daraus würde ich folgern, dass sich vier Personen einschüchtern ließen und die anderen nicht.
Aus der Praxis sollte noch ein Punkt erwähnt werden, der bei der Beurteilung von Foltervorwürfen nicht unwichtig ist: Nicht alle Verdächtigen werden mit der gleichen Härte gefoltert.
In der Regel werden vorrangig die Hauptverdächtigen "bearbeitet", damit sie eine Selbstbezichtigung unterschreiben. Wenn dies nicht (sofort) gelingt und/oder eine Person "aus der 2. Reihe" sozusagen "umfällt", d. h. bereit ist, alles zu unterschreiben, was ihm oder ihr vorgelegt wird, kommt eine Art von "Kronzeugen-Aussage" zustande (siehe z. B. die Aussage des fast Analphabeten E. Kaldi im Fall 12, der fast 150 Mitglieder einer illegalen Organisation mit vollen Namen und Stellung innerhalb der Organisation gekannt haben soll).
Viele der sekundär verdächtigten Personen sind sich jedoch nicht der Bedeutung ihrer Aussagen bewusst und halten das "Geständnis" eines minderen Aktivitätsgrades für "ungefährlich" (z. B. das Lesen gewisser Zeitschriften). Sie merken dabei nicht, dass ihre Aussagen sowohl für sie selber, aber insbesondere für ihre (privaten) Freunde zu einem "stützenden Beweis" werden können. Das ist selbst den um die 40 Jahre alten Angeklagten aus dem Verfahren in Izmir (Fall 5) passiert, obwohl sie sich als lebenserfahren und politisch interessiert bezeichnen würden. (10) So werden Beweise gewonnen, die ein erfoltertes oder unter unzulässigen Vernehmungsmethoden zustande gekommenes Geständnis (das vom Gericht aber nicht als solches bewertet wird) in der Begründung der Verurteilung verwertbar machen.
Nimmt man nun noch den "normalen" Ablauf der Vernehmungen bei der Staatsanwaltschaft und dem Haftrichter hinzu, dann wird deutlich, warum einige (entweder unerfahrene bzw. nur zweitgradig gefährdete) Personen falsche bzw. irreführende Angaben bei der Polizei auch ohne direkte Einwirkung von Folter bestätigen können. In beiden Instanzen reichen in der Regel drei Sätze, die ungefähr wie folgt formuliert sein können: "Sie werden mit diesem und jenem beschuldigt. Bei der Polizei haben sie so und so ausgesagt. Stimmt das?" Wer (möglicherweise aus Angst) die Polizei nicht als "Lügner", "Fälscher" oder eben auch als "Folterer" beschuldigen will, akzeptiert dann Dinge, die er oder sie aus freien Stücken nie gesagt hätte.
Die Richter in der Türkei gehen aber noch einen Schritt weiter. Wenn jemand bei der Staatsanwaltschaft oder dem Haftrichter zumindest ein Teilgeständnis abgelegt hat, so "kann er/sie" in ihren Augen "auch bei der Polizei nicht gefoltert worden sein".
Dies wird in dem unter Fall 18 geschilderten Prozess vor der 2. Kammer des SSG Istanbul deutlich. In seiner richterlichen Vernehmung räumte der Hauptangeklagte, der Prediger (imam) Mehmet Demir, lediglich den Gedanken an ein Attentat auf "ein Denkmal von Atatürk" (nicht das Mausoleum) ein und sagte weiter, dass sie davon Abstand nahmen, als sie bei der Besichtigung von verschiedenen Denkmälern in Ankara feststellten, dass bei einer solchen Aktion viele Menschen zu Schaden kommen würden. Nur in der Aussage bei der Polizei war die Rede von einem geplanten Attentat mit einem Flugzeug voller Sprengstoffe auf das Mausoleum in Ankara.
Hätte das Gericht die Aussage bei der richterlichen Vernehmung und nicht die zur Polizei als den "gültigen" Beweis genommen, so wäre die Verurteilung der Angeklagten nicht nach Artikel 168 und 169 altes TStG, sondern Artikel 7 ATG erfolgt und somit wäre auch der aus Deutschland abgeschobene Metin Kaplan nicht in der Weise bestraft worden, wie es im Juni 2005 geschah.
Wenn im Jahre 2000 die 2. Kammer des SSG Istanbul (noch) diese Linie verfolgte, so hätte die 14. Kammer des Landgerichts Istanbul (vormals 6. Kammer des SSG Istanbul) unter Berücksichtigung einer neuen Vorschrift (Artikel 148 neue StPO) die Aussage des Mehmet Demir bei der Polizei als nicht verwertbar einstufen können (da sie ohne anwaltlichen Beistand aufgenommen war). Dann aber hätte das gesamte Urteil neu geschrieben werden müssen.
Dies zeigt, wie entscheidend eine Aussage sein kann, von der anzunehmen ist, dass sie unter Folter aufgenommen wurde. Den schmalen Grat zwischen Freispruch und Verurteilung machen in vielen Fällen solche Aussagen aus (siehe dazu auch die aus der Presse entnommenen Beispiele als Unterpunkt zu den Fallschilderungen 3 und 4).
c. Fazit
Sowohl vor den Kammern der Staatssicherheitsgerichte (SSG), an denen einer von drei Richtern ein Militärrichter war (bis Juni 1999), als auch vor den SSG ohne Beteiligung eines Militärrichters (von Juni 1999 bis Juni 2004) und den Kammern der entweder nach dem Gesetz 5190 oder dem Artikel 250 der neuen StPO zuständigen Landgerichte wurden immer wieder Vorwürfe erhoben, dass die Aussagen bei den Sicherheitskräften erfoltert seien und daher nicht als Beweis verwertet werden dürfen.
An den diesem Gutachten zugrunde liegenden Fallschilderungen ist nicht zu erkennen, dass die mit den politischen Verfahren befassten Gerichte (unabhängig von der jeweiligen Bezeichnung) diesen Vorwürfen selbst nach der Gesetzesreform vom 1. Juni 2005 nachgehen würden. Entgegen ihrer Pflicht als Staatsbedienstete haben sie den Verstoß der Folter nicht einmal zur Anzeige gebracht. (11) Falls die Angeklagten oder die Verteidigung Strafanzeige stellten, so wurde in jüngster Zeit schon einmal nach dem Stand der Ermittlungen gefragt, aber es gibt auch Entscheidungen, die gefällt wurden, bevor ein laufendes Verfahren gegen mögliche Folterer beendet wurde. (12)
In den meisten Fällen hätte entweder kein Schuldspruch gefällt werden können oder es hätten andere Strafvorschriften herangezogen werden müssen, wenn die Aussagen, von denen behauptet wurde, dass sie unter Folter erpresst wurden, nicht als Beweis verwertet worden wären. Das macht diese fragwürdigen Beweismittel zu den entscheidenden Beweisen in diesen Verfahren.
2. Antwort auf Frage 2
Sie lautete: Wird die Rüge, die Aussage sei unter Folter zu Stande gekommen, von den Gerichten berücksichtigt?
Wenn ich die Frage mit dem Zusatz "adäquat" versehen würde, könnte meine Antwort ein klares "Nein" sein. Dennoch sollte etwas genauer hingeschaut werden, denn in manchen Fällen lässt es sich (auch für noch so "hart gesottene" Richter) nicht vermeiden, auf Foltervorwürfe einzugehen. In der Regel aber kommt gar keine oder wenig Reaktion auf den Vorwurf der Angeklagten oder der Verteidigung, dass die Aussagen bei der Polizei nicht verwertet werden dürfen.
a. Beispiele aus den Fallschilderungen
Dies war auch in der von mir beobachteten Abschlussverhandlung des Verfahrens zu Angeklagten aus Sirnak (Fall 15) der Fall. Die Richterbank hörte sich desinteressiert das Plädoyer der Anwältin Meral Danis an, in dem sie auf die von ihrem Mandanten und anderen Angeklagten erhobenen, aber vom Gericht nicht beachteten Foltervorwürfe hinwies und deutlich machte, warum die in dieser Form aufgenommenen Aussagen nach nationalem und internationalen Recht nicht zu verwerten seien. Der Vorsitzende Richter ließ hauptsächlich die zitierten Rechtsvorschriften zu Protokoll zu nehmen. Nach dem Ende der Verhandlung beklagten die anwesenden Anwälte einmütig, dass ihre Bemühungen vom Gericht nicht gewürdigt, ja sogar ignoriert würden. Inwieweit das Gericht in der Begründung des Urteils, die mit einiger Verzögerung nach der Verkündung erstellt wird, auf die Argumente der Verteidigung eingehen wird, bleibt abzuwarten. Sehr optimistisch kann man jedoch nach dem erfolgten Schuldspruch nicht sein.
In den anderen Verfahren, wo in der Hauptverhandlung Foltervorwürfe erhoben wurden und ich im Besitz der Protokolle zu solchen Sitzungen bin, sah es in den jeweiligen Sitzungen bzw. in der Begründung des Urteils folgendermaßen aus:
Fall 1: Das SSG Izmir protokollierte zum Vorwurf des Hauptangeklagten: "Vom Augenblick der Festnahme bis zum Eintreten in das Gerichtsgebäude war ich unter intensivem körperlichem und psychologischem Druck. Da meine Augen verbunden waren, dachte ich, dass meine Aussage von Polizisten aufgenommen wurde. Ich habe beim Haftrichter erfahren, dass die Gendarmerie meine Aussage aufgenommen hat. Ich akzeptiere meine unter Folter aufgenommene Aussage nicht."
Dies ist mit Sicherheit eine stark verkürzte Wiedergabe dessen, was der Angeklagte sagen "durfte". Verglichen zu den zehn eng beschriebenen Seiten, auf denen er seine Behandlung bei der Gendarmerie schilderte (ausführliche Übersetzung in der Fallschilderung), sind die Ausdrücke "körperlicher und psychischer Druck" das Minimum einer Zusammenfassung. Es folgten keine Fragen und in den Beschlüssen des Tages wurde auf die Straftat "Folter" nicht eingegangen (ebenso wenig wie in einer Verhandlung davor, in der andere Angeklagte Foltervorwürfe erhoben hatten).
In seinem Urteil vom 14.12.2000 ging das SSG Izmir nicht auf die Foltervorwürfe ein. Es versäumte sogar, eine Entscheidung über eine inzwischen erfolgte Strafanzeige abzuwarten. Darauf ging auch das bestätigende Urteil des Kassationsgerichtshofs vom 02.04.2001 nicht ein.
Fall 2: Im Urteil der 3. Kammer des SSG Diyarbakir vom 19.03.2002 wurde auf Foltervorwürfe nicht eingegangen. Hier entschied das Gericht sogar gegen den Staatsanwalt, der zwei Aussagen, die in der Hauptverhandlung als "erfoltert" bezeichnet wurden, als ungenügende Beweise betrachtete, auf erschwerte lebenslange Haft.
Fall 3: Im Urteil des SSG Malatya vom 31.05.2001 wird in einem Absatz auf die "beharrlichen Vorwürfe der Angeklagten und der Verteidigung" hingewiesen. Diese wurden aber aufgrund von fehlenden medizinischen Gutachten und dem angeblichen Verzicht der Angeklagten auf Rechtsbeistand zurückgewiesen (der angebliche "Verzicht" wird am Anfang der Protokolle bei der Polizei gestanden haben, wobei die Unterschrift der Angeklagten unter diese Protokolle durchaus erfoltert sein können).
Fall 5: Foltervorwürfe wurden durch das SSG Izmir protokolliert, aber weder untersucht noch spielten sie bei der Urteilsfindung (Urteil vom 24.07.2003) eine Rolle. Das hat auch in der Entscheidung des Kassationsgerichtshofs vom 08.04.2004 keinen Niederschlag gefunden, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits ein Prozess gegen die als Folterer beschuldigten Polizeibeamten anhängig war.
Nachdem das SSG Izmir zur 8. Kammer des Landgerichts Izmir umbenannt worden war, blieb dieser Punkt weiterhin unbeachtet (Urteil vom 12.10.2004). Ein Entscheid des Kassationsgerichtshofes dazu steht nach mehr als einem Jahr immer noch aus.
Fall 6: Im Urteil des SSG Izmir vom 06.05.2003 wurden die Foltervorwürfe der angeklagten Frau als abstrakte Behauptung dargestellt, da vor Beginn und am Ende der Polizeihaft Atteste angefertigt wurden, in denen stehe, dass "Spuren von Schlägen und Gewalt nicht vorgefunden" wurden. Sodann heißt es: "Selbst wenn einen Augenblick angenommen werden sollte, dass die Angeklagte bei der Polizei ideellem (psychischem) und keinem materiellem (physischem) Druck ausgesetzt war und sie unter dem ideellem Druck eine in der Form nicht gewollte Aussage gemacht hat, so hat sie (aber) in ihrer Verteidigung bei der republikanischen Oberstaatsanwaltschaft am Staatssicherheitsgericht am 11.12.2002 ähnliche Angaben gemacht, ihre Verteidigung als korrekt bezeichnet und dem republikanischem Staatsanwalt gesagt, dass sie keiner Folter ausgesetzt war. Es kann nicht davon die Rede sein, dass im Gerichtsgebäude vom republikanischen Staatsanwalt Druck auf die Angeklagte ausgeübt wurde oder er sie ideeller oder materieller Folter ausgesetzt hat."
Zu belastenden Aussagen von Angeklagten aus anderen Verfahren, die wahrscheinlich ebenfalls Foltervorwürfe erhoben hatten, wird lediglich in einem Fall darauf verwiesen, dass die Aussage beim Staatsanwalt und Haftrichter bestätigt wurde und daher als korrekt (verlässlich) betrachtet werden müsse.
Dennoch hat der Kassationsgerichtshof den Schuldspruch des SSG Izmir mit der Begründung aufgehoben, dass das Gericht erst eine Entscheidung in einem Verfahren gegen die vermeintlichen Folterer der Angeklagten abwarten müsse. "Solange nicht darüber entschieden sei, ob die Angeklagte gefoltert wurde", (dieser gedankliche Zusatz stammt von mir, HO) müsse die Beweisaufnahme in dem Verfahren als unzureichend betrachtet werden, so der Kassationsgerichtshof. (13)
Fall 8: In der Verhandlung vom 31.03.2005 forderte der sich seit mehr als zehn Jahren in U-Haft befindliche Angeklagte seine Freilassung mit der Begründung (zitiert nach dem Verhandlungsprotokoll): "Ich habe einschließlich vor der Staatsanwaltschaft in Tatvan die mir zur Last gelegten Taten stets zurückgewiesen. Seit 1994 sind Tausende von Organisationsangehörigen vor der Organisation geflohen, sind zu Überläufern geworden, aber kein Organisationsmitglied hat gegen mich eine Aussage gemacht. Meine Aussage bei den uniformierten Kräften beruht auf Druck, Gewalt und Folter. Seit zwölf Jahren bin ich Geschädigter. Ich möchte ein Ende meiner Situation als Geschädigter und wiederhole den Inhalt meines Antrages zwischen den Verhandlungen."
Das Gericht reagierte auf die vermutlich häufig wiederholten Foltervorwürfe nicht und ordnete die Fortdauer der U-Haft an. Dabei war in Zeitungsmeldungen zwei Wochen vor dieser Verhandlung deutlich geworden, dass auch Verwandte des Angeklagten gefoltert wurden, um ihn zu einem Geständnis zu bewegen. Außerdem drängte sich die Vermutung auf, dass jemand anders für den in diesem Verfahren angeklagten Mord verantwortlich war.
Fall 9: Das Gericht (normales Strafgericht in einer Kreisstadt) gab keine Stellungnahme zu den in der Hauptverhandlung am 12.05.2005 gemachten Foltervorwürfen ab. Immerhin wurde aber die Haftentlassung aller (jugendlichen) Angeklagten angeordnet.
Fall 11: Die erste Verhandlung fand am 18.08.2004 vor der 12. Kammer des Landgerichts Istanbul (vormals die 4. Kammer des SSG Istanbul) statt. Staatsanwalt und die Richterbank trafen keine Feststellungen zu den Foltervorwürfen. Allerdings beschloss die Kammer, den Angeklagten (schon) nach gut drei Monaten U-Haft zu entlassen, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass sie der Meinung war, dass anhand der (gültigen) Beweise der Vorwurf der Organisationsmitgliedschaft nicht zu halten sei. Es wurde auch beschlossen, die Beamten zu laden, die das Protokoll zum Tatort (14.05.) und zum Ortstermin (16.05.) erstellt hatten.
Fall 12: Hier wurde in der Hauptverhandlung am 30.07.2004 vor der 14. Kammer des Landgerichts Istanbul (vormals 6. Kammer des SSG Istanbul) zu den Foltervorwürfen mit folgender Notiz Stellung genommen: "Die Forderungen von einigen Verteidigern, die Aussagen von Erdogan Kaldi bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft und dem Haftrichter sowie die Ausdrucke von einem Computer aus der Akte zu entfernen, da die Aussagen nicht ordnungsgemäß aufgenommen und die Dokumente keine legalen Beweise seien, wurden unter Hinweis auf das endgültige Urteil abgelehnt (da in der Strafprozessordnung keine Vorschrift zum Entfernen von Papieren aus einer Akte existieren)." (14) Es wurde zudem beschlossen, die Polizeibeamten, die die Aussage des Angeklagten Erdogan Kaldi aufgenommen hatten und diejenigen, die das Protokoll der Identifizierung anhand von Fotos unterschrieben hatten, als Zeugen zu vernehmen.
Fall 13: Hier gibt es kein vom Angeklagten unterschriebenes "Geständnis", sondern ein von drei Polizeibeamten unterschriebenes "Gedächtnisprotokoll", in dem behauptet wird, dass der Angeklagte sich ihnen "anvertraut" (d. h. gestanden) habe. Unter Hinweis auf dieses nicht verwertbare Beweisstück stellte die Verteidigung wiederholt Anträge auf Freilassung, aber der Angeklagte wurde erst am 15. November 2005 entlassen (nach 7,5 Monaten U-Haft).
Fall 14: Hier fand die erste Verhandlung am 23.11.2004 vor der 7. Kammer des Landgerichts Diyarbakir (vormals die 4. Kammer des SSG Diyarbakir) statt. Das Gericht reagierte nicht auf Foltervorwürfe und ordnete die Fortdauer der U-Haft an. In der Sitzung vom 10.02.2005 erhoben auch Zeugen Foltervorwürfe. (15) Dazu gehörte auch die aus der kurdischen Sprache übersetzte Anschuldigung einer Frau, dass sie in Polizeihaft vergewaltigt worden sei. Die einzige Reaktion des Gerichtes war, bei der Staatsanwaltschaft in Silopi anzufragen, wie weit die Ermittlungen bezüglich einer Strafanzeige der Angeklagten bezüglich Folter seien. Die U-Haft wurde bei allen drei Angeklagten verlängert. Nach der Verhandlung am 31.03.2005 kam nur der Angeklagte frei, der bei der Polizei kein Geständnis unterschrieben hatte. Auch dies dürfte ein Hinweis auf die Bedeutung von aller Wahrscheinlichkeit "erfolterten Aussagen" der beiden anderen Angeklagten sein.
Fall 16: Die erste Verhandlung fand hier am 23.09.2004 vor der 6. Kammer des Landgerichts Diyarbakir (ehemals 3. Kammer des SSG Diyarbakir) statt. Am Ende der Sitzung wurde die Staatsanwaltschaft gefragt, ob im Zusammenhang mit diesem Vorfall gegen irgendeinen Polizeibeamten wegen Folter oder Misshandlung vorgegangen wurde. (16) In der Beweiswürdigung des Gerichtes (Urteil vom 09.06.2005, also nach den Gesetzesänderungen vom 01.05.2005) fanden die Foltervorwürfe der Angeklagten keine Erwähnung. Es wird auch nicht begründet, warum die polizeiliche Aussage des Servet Özgün die Grundlage für das Urteil bildet.
Fall 17: In dem ai-Bericht vom September 1997 (17) steht u. a.: "Trotz der offensichtlich glaubwürdigen und übereinstimmenden Aussagen der Studierenden haben die türkischen Behörden, soweit amnesty international bekannt, keinerlei Untersuchungen der von den Studierenden gemachten Foltervorwürfe eingeleitet. Es wurden keine Schritte unternommen um zu gewährleisten, dass die Geständnisse, welche den Studierenden zufolge durch Folter gewonnen wurden und welche sie vor Gericht widerrufen haben, nicht als Beweismittel zugelassen wurden."
Fall 18: Hier stützte sich die 14. Kammer des Landgerichts Istanbul (vormals 6. Kammer des SSG Istanbul) in seinem Urteil vom 20. Juni 2005 (also ebenfalls nach dem Inkrafttreten der neuen Gesetze) vorwiegend auf die polizeilichen Aussagen von sechs Angeklagten aus zwei anderen Verfahren, die vor dem SSG Istanbul geführt worden waren.
Das Verfahren gegen das Ehepaar Seven wurde vor der gleichen Kammer (6. des SSG Istanbul) mit der Grundnummer 1999/243 geführt. Das Urteil erging am 23.05.2001. In Bezug auf die Foltervorwürfe, mit denen das Ehepaar in der Hauptverhandlung die polizeilichen Aussagen zurückgenommen hatte, schrieb die Kammer ins Urteil: "Aus den Arztberichten geht hervor, dass die angeklagten Harun und Hanife Seven im Ermittlungsstadium keine Spuren von Schlägen oder Gewalt aufwiesen; mit anderen Worten keiner Misshandlung ausgesetzt waren..." Zudem sollen die Angeklagten keine Strafanzeige gestellt haben.
Das Urteil der 6. Kammer des SSG Istanbul wurde von der 9. Kammer des Kassationsgerichtshofs am 19.11.2001 bestätigt. Bei einer Bestätigung sollte angenommen werden, dass keine weitere Auseinandersetzung mit dem Problem der Foltervorwürfe erfolgte.
Das Urteil der 2. Kammer des SSG Istanbul zu 29 Angeklagten, von denen die Aussagen von vier Angeklagten als "Beweis" des Hochverrats von Metin Kaplan herangezogen wurden, erging am 11.04.2000. Laut der Abschrift des Urteils der 14. Kammer des Landgerichts Istanbul vom 20. Juni 2005 soll die 2. Kammer des SSG Istanbul die Beamten, die die Aussagen und diverse Protokolle (Gegenüberstellung, Ortstermine etc.) unterschrieben, als Zeugen geladen haben und diese sollen ausgesagt haben, dass die von ihnen aufgenommen Aussagen und angefertigten Protokolle korrekt seien. Im Urteil vom 11.04.2000 ist davon keine Rede und es findet sich auch kein Kommentar zu den Foltervorwürfen. Die 9. Kammer des Kassationsgerichtshofs hat das Urteil am 18.12.2000 bestätigt. Deshalb gehe ich davon aus, dass auch hier keine Feststellungen zu den Foltervorwürfen getroffen wurden.
b. Fazit
Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Staatssicherheitsgerichte bzw. die nach Artikel 250 der neuen StPO zuständigen Landgerichte die Rüge, eine Aussage sei unter Folter zu Stande gekommen, nicht berücksichtigen. Es finden sich nur dann Kommentare in den Urteilen bzw. auch in Begründungen zur Ablehnung von Anträgen auf Haftentlassung (aufgrund unzulänglicher Beweislage z. B.), wenn das Gericht in der "glücklichen" Lage ist, das Fehlen von medizinischen Gutachten bzw. die Bestätigung einer polizeilichen Aussage bei der Staatsanwaltschaft und/oder Haftrichter als "Beweis" anführen zu können, dass nicht gefoltert wurde.
Die Ladung von Polizeibeamten, die Protokolle (z. B. eines Ortstermins oder einer Gegenüberstellung) unterschrieben haben, deutet m. E. nicht darauf hin, dass die Gerichte Foltervorwürfe überprüfen wollen. Ich habe leider keine Protokolle über Gerichtsverhandlungen zur Verfügung, in denen die Vernehmung von Beamten hierzu erfolgte. Wären sie aber auch zu den Foltervorwürfen befragt worden, dann wäre ihre Beteuerung, dass nicht gefoltert wurde, sicherlich auch in die Urteile eingeflossen.
Von der Verteidigerin im Fall 16 weiß ich, dass die Beamten nur nach der Korrektheit der von ihnen erstellten Protokolle gefragt wurden, nicht aber nach der Art und Weise wie sie aufgenommen wurden und erst recht nicht nach möglichen unerlaubten Methoden, mit denen ein Verdächtiger zu einer Unterschrift hätte gezwungen werden können.
Für alle Verfahren kann bemängelt werden, dass die Gerichte Foltervorwürfe nicht ernst nehmen, sondern sie von vorneherein als den Versuch der Angeklagten ansehen, einer Bestrafung zu entgehen. Ich kenne keinen Fall, in dem ein Gericht ausführlichere Schilderungen von Folter akzeptiert hätte bzw. selber den Versuch unternommen hätte, den Wahrheitsgehalt der Foltervorwürfe (z. B. durch die Vernehmung der beschuldigten Polizeibeamten und einer ausführlichen Befragung der Angeklagten)  zu ergründen.
Weder die Staatsanwaltschaft, die in diesen Verfahren vertreten ist, noch die Richter als Staatsbeamte nehmen ihre Pflicht wahr, die Beschwerde über eine Straftat (Folter) offiziell anzuzeigen. Nur im Fall 16 wurde bei der Staatsanwaltschaft angefragt, ob es Ermittlungen gebe. Dies war aber nicht mit der Aufforderung verbunden, Ermittlungen einzuleiten, wenn das noch nicht geschehen sei.
Im Verfahren aus dem Jahr 1998, das an der 2. Kammer des SSG Istanbul zu einem Schuldspruch vom 11.04.2000 führte und das dem als Fall 18 aufgeführten Metin Kaplan zum Verhängnis wurde, hat die Staatsanwaltschaft am SSG Istanbul selbst nach einer Anfrage des Justizministeriums im August 1999 keine Veranlassung gesehen, gesonderte Ermittlungen einzuleiten, obwohl in neun Fällen Atteste zu Folterspuren vorlagen.
Ohne eine gründliche Auseinandersetzung mit Foltervorwürfen haftet den auf diese Weise gefällten Urteilen der dringende Verdacht an, dass sie sich im Wesentlichen auf in rechtswidriger Weise "erpresste" Beweise stützen und damit gegen das Gebot der Fairness von (politischen) Verfahren verstoßen. Es ist daher zu befürchten, dass auch in Zukunft Verfahren geführt werden, in denen fragwürdige, wenn nicht gar auf illegale Weise aufgenommene Aussagen ohne Rechtsbeistand (erst ab dem 1. Juni 2005 vorgeschrieben) zur Grundlage von Verurteilungen gemacht werden.
3. Antwort auf Frage 3
Sie lautete: Werden weitere Beweismittel in die Verfahren eingeführt? Welcher Art und Qualität sind diese und lässt sich aus dem Urteil erkennen, auf Grundlage welcher Beweismittel und welcher Gewichtung die Verurteilung stattfindet? Werden entlastende Beweismittel ermittelt und zum Beispiel Zeugen der Verteidigung zugelassen? Sind die Beweise der Anklage nachvollziehbar?
a. Das Recht entlastendes Material einzufordern
Artikel 135/5 der alten StPO und Artikel 147f der neuen StPO haben den gleichen Wortlaut: "Es wird daran erinnert, dass er/sie (der/die Angeklagte) das Sammeln von konkreten Beweisen beantragen kann, um sich vom Verdacht zu befreien, und es wird ihm/ihr Gelegenheit gegeben, die Verdachtsgründe gegen ihn/sie zu beseitigen oder die Sachen vorzubringen, die für ihn/sie sprechen."
Das bedeutet nichts anderes, als dass die Verdächtigen schon im Anfangsstadium der Ermittlungen (durch die uniformierten Kräfte) das Recht haben, das Einholen von entlastendem Material zu beantragen. Dies sollte auch Inhalt der Rechtsbelehrung am Anfang jeder Vernehmung sein.
In den von mir betrachteten Fällen ist nur einmal ansatzweise so verfahren worden. Der Bericht dazu lautet im Fall 9: "Die Aussage des späteren Hauptverdächtigen Cevat Tandogan (geb. 23.08.1977) soll am 31.03.2005 um 03.55 Uhr begonnen und um 04.15 Uhr beendet gewesen sein. Im Protokoll ist der Name eines Zeugen vermerkt, der seinen Aufenthalt in einem Cafe zwischen 20 und 23.30 Uhr bezeugen könne. Dieser Zeuge, Mustafa Akduman, wurde noch am selben Morgen um 07.40 Uhr vernommen."
Dabei soll der Zeuge gesagt haben, dass Cevat Tandogan entgegen seiner üblichen Gepflogenheit an diesem Tag das Cafe schon um 21 Uhr verlassen habe. Damit aber wurde der vermeintliche Entlastungszeuge eher zu einem Belastungszeugen. Inwieweit er von den vernehmenden Polizeibeamten manipuliert wurde, kann ich nicht überprüfen.
Während ich den ersten Teil der Frage durchaus mit "ja, es werden in etlichen Fällen anderweitige Beweise in die Verfahren eingeführt" beantworten kann, fällt mir die Antwort auf den 2. Teil etwas schwerer. Sie lautete: Welcher Art und Qualität sind diese, und lässt sich aus dem Urteil erkennen, auf Grundlage welcher Beweismittel und welcher Gewichtung die Verurteilung stattfindet?
Da die Frage auf das Verhalten der Richterbank in den Verhandlungen abzielt, sollte zunächst einmal ein Blick auf mögliche Beispiele geworfen werden.
Fall 1: In der Verhandlung am 14.12.2000 forderte der Verteidiger die Vernehmung der Jugendlichen, die vom Angeklagten in Taekwando unterrichtet worden sein sollten (die Anklage hatte dies als Unterweisung für die Ziele der illegalen "Hizbullah" bezeichnet). Der Staatsanwalt forderte die Ablehnung des Antrags. Das Gericht schloss sich diesem Antrag mit der Begründung an, dass die Vernehmung dieser Zeugen keinen großen Beitrag zu dem Verfahren leisten werde. Wenn das, was die Vernehmung der Jugendlichen beweisen sollte, als wahr unterstellt worden wäre, könnte die Ablehnung mit "bringt nichts Neues" vielleicht logisch erscheinen, aber a) stellte der Staatsanwalt im Plädoyer den Kontakt zu den Jugendlichen als Versuch, ihnen die Gedanken der Hizbullah näher zu bringen, dar und b) schloss das Gericht sich in seiner Urteilsbegründung praktisch im vollen Umfang der Staatsanwaltschaft an, ohne dem Beweisantrag der Verteidigung nachgegangen zu sein.
Fall 5: Es wurden keine Zeugen zu dem Punkt gehört, ob das Beisammensein im Hotel ein organisatorisches Treffen oder aber, wie die Angeklagten schilderten, ein feucht-fröhlicher Abend mit Gitarrenmusik und Gesang war.
Fall 9: In der Verhandlung vom 21.09.2005 wurde eine ganze Reihe von Zeugen der Verteidigung gehört, so dass am Ende selbst die Verteidigung auf die Einvernehmung weiterer Zeugen verzichtete.
Fall 10: Dieser Fall ist noch nicht abgeschlossen. Es geht hier sekundär um "erfolterte Beweise" und in erster Linie um die Verwertbarkeit von Beweisen, von denen behauptet wird, dass die Polizei sie fabriziert hat. In der von mir beobachteten 10. Verhandlung am 7. Oktober 2005 legte die Verteidigung dazu eine Präsentation vor und referierte den Inhalt über zwei Stunden.
Der Vortrag wurde vom Gericht nicht unterbrochen. Weitere Beweise zur Thematik (Gutachten) wurden unkommentiert zu den Akten genommen. Die Verteidigung hatte mit dem Vortrag bezweckt, die zu diesem Zeitpunkt noch in U-Haft befindlichen Angeklagten (8 von 76) frei zu bekommen. Inwieweit die Freilassung von nur zwei Angeklagten ein Indiz dafür ist, dass die von der Verteidigung vorgebrachten Argumente unbeachtet bleiben werden, kann zwar vermutet werden, aber Sicherheit wird es erst mit dem begründeten Urteil geben, auf das noch eine ganze Zeit gewartet werden muss.
Fall 12: Der Antrag einer Anwältin in der Verhandlung vom 30.07.2004, ein Gutachten bei der Gerichtsmedizin zur Fähigkeit des Lesens und Schreibens von Erdogan Kaldi erstellen zu lassen, wurde mit Hinweis auf die Nichtzuständigkeit der Gerichtsmedizin und das eigentliche Urteil abgelehnt.
Eine Feststellung zum Analphabetentum des mutmaßlich gefolterten Angeklagten sollte die Behauptung stützen, dass eine solche Person nur unter Folter eine Aussage unterschreibe, in der behauptet wird, dass er fast 150 hochrangige Organisationsangehörige mit Namen und Position in der Organisation kenne. Die eigene Sachkunde könnte in diesem Fall vermutlich ausreichen, denn (wie auch die Verteidiger in diesem Verfahren hervorhob) der niedrige Ausbildungsgrad des Angeklagten wurde schon an seiner Ausdrucksweise deutlich. Allerdings schloss das Gericht daraus nicht, dass das aus diesem Gesichtspunkt als unglaubwürdig geltende "Geständnis" bei der Polizei nicht verwertet werden darf.
Fall 13: Der Antrag des Verteidigers auf einen Ortstermin wurde in der Verhandlung vom 11.10.2005 mit der Begründung abgelehnt, dass angesichts der in der Akte befindlichen Protokolle keine neuen Erkenntnisse gewonnen würden. Hier wollte der Anwalt die Umstände der Hausdurchsuchung ergründen, bei der sein Mandant nicht anwesend war und als "Sprengstoff" Ammoniumnitrat gefunden wurde, das der Angeklagte und seine Ehefrau aber als Düngemittel bezeichneten.
Fall 14: Hier wurden in der Verhandlung vom 10.02.2005 entlastende Zeugen angehört, wobei ich nicht sicher bin, ob dies auf Antrag der Verteidigung oder Beschluss des Gerichts aufgrund der Aktenlage erfolgte. Von den Zeugen erhoben einige selber Foltervorwürfe. Sie waren als Verwandte bzw. Anwesende bei einer Hausdurchsuchung ebenfalls verhört worden. Die Anträge der Verteidigung, sowohl die Aussagen bei der Polizei (weil erfoltert) als auch das Protokoll der Hausdurchsuchung, bei der die Anwesenden in einen Raum eingesperrt waren, nicht zu verwerten bzw. unter Berücksichtigung des Nichtverwertbarkeits-Gebots die Angeklagten aus der Haft zu entlassen, wurde bei den zwei Angeklagten, die bei der Polizei ein Geständnis unterschrieben hatten, abgelehnt.
Fall 17: Hier steht im ai-Bericht vom September 1997: (18) "Der Vater eines der Studenten hatte ausgesagt, dass er in der Wohnung seines Sohnes übernachtet habe, nachdem dieser festgenommen worden war, aber noch bevor die polizeiliche Durchsuchung stattfand. Er behauptete, dass er weder Benzinbomben noch andere Gegenstände gesehen habe, die später von der Anklage als Beweismittel vorgelegt wurden. Er bat das Gericht, aussagen zu dürfen, doch dies wurde abgelehnt."
Fall 18: Hier haben die Anträge der Verteidigung zum Einführen von entlastendem Material und Anhören von Zeugen der Verteidigung einen etwas breiteren Raum eingenommen.
In der Verhandlung vom 4. April 2005 legte der Verteidiger Hüsnü Tuna Arztberichte zu sechs Angeklagten aus dem Verfahren 1998/425 vor der 2.Kammer des SSG Istanbul vor. Dieses Verfahren hatte der Staatsanwalt in seinem Plädoyer als belastend für den Angeklagten aufgeführt. Aus den Arztberichten gehe hervor, dass die Angeklagten Seyit Ahmet Bal, Selami Boztepe, Tanju Pekdemir, Tuncay Gög und Kenan Bingöl gefoltert worden seien. Die Verteidigung forderte, dass diese Personen als Zeugen gehört werden, da sie den Angeklagten beschuldigt haben sollen, die ihnen zur Last gelegten Aktionen angeordnet zu haben.
Der Angeklagte wies auf ein Urteil des Verfassungsgerichts in Deutschland hin, wo die Organisation Kalifatstaat im Jahre 2001 nicht als Terrororganisation eingestuft wurde. (Nicht explizit protokolliert) wird er die Beiziehung dieses Urteils gefordert haben. (19)
Auf die Ausdehnung der Beweisaufnahme angesprochen, sagte der Staatsanwalt, dass die Anträge auf eine Verzögerung des Verfahrens hinausliefen und daher abgelehnt werden sollten.
Das Gericht verwies u. a. darauf, dass die von der Verteidigung benannten Zeugen durch die 2. Kammer des SSG Istanbul verurteilt seien und die 9. Kammer des Kassationsgerichtshofs das Urteil bestätigt habe. Damit habe es Rechtskraft; daher würde die Ladung und Befragung dieser Zeugen nichts Neues für das Verfahren gegen Metin Kaplan bringen und daher sei der Antrag abzulehnen. Zum Antrag des Angeklagten auf Beiziehung von Akten aus Deutschland führte das Gericht aus: "...der Angeklagte hat beantragt, das Urteil des Gerichtes in Düsseldorf und des deutschen Verfassungsgerichts von 2001 zu berücksichtigen."
"Unser Gericht ist ein unabhängiges und unparteiliches Gericht, das im Namen des türkischen Volkes Recht spricht. Unser Gericht braucht von niemandem, keiner Einrichtung und von keinem Gericht, Suggestionen oder Empfehlungen. Wenn unser Gericht sein endgültiges Urteil fällt, wird es natürlich die türkische nationale Rechtslage, die Europäische Konvention der Menschenrechte und sonstige internationale Abkommen zu Menschenrechten sowie den Inhalt der Akte berücksichtigen. Aus diesem Grunde gibt es keinen Grund auf dieser Stufe (des Verfahrens) darüber zu befinden. "
In der Verhandlung vom 30.05.2005 regte der Anwalt Ismet Koca an, die oberste Polizeidirektion anzuschreiben und um eine Einschätzung der Organisation zu bitten. Der Angeklagte beantragte die Beiziehung der Entscheidung des deutschen Bundesgerichts (20) und des Urteils des Hohen Landgerichtes in Düsseldorf (21), da dort nicht die Auslieferung, sondern die Freilassung beschlossen worden sei. Anwalt Hüsnü Tuna beantragte, die Beweisaufnahme wieder aufzunehmen. Die Zeugen Aslan Demir und Mustafa Subasi, die in Deutschland die Reden des Angeklagten verfolgt hätten, seien anwesend und könnten zu der Frage etwas sagen, ob in den Reden zum Terrorismus aufgerufen wurde.
Das Gericht lehnte die Vernehmung der Zeugen Aslan Demir und Mustafa Subasi mit der Begründung ab, dass sie keine Neuigkeiten für das Verfahren präsentieren könnten und der Antrag auf Vernehmung von Zeugen aus dem Ausland nur darauf ausgerichtet sei, das Verfahren in die Länge zu ziehen, da eine solche Einvernehmung eine lange Zeit in Anspruch nehme. Gegen diese Entscheidung könne mit dem eigentlichen Urteil Revision eingelegt werden.
In Bezug auf das Urteil der 2. Kammer des SSG Istanbul betonte das Gericht, dass es im Ermessen der Gerichte liege, wie eine Organisation einzustufen sei, und es nicht erforderlich sei, ein Gutachten der obersten Polizeidirektion einzuholen. Auch hiergegen könne mit dem eigentlichen Urteil Revision eingelegt werden.
Am 20.06.2005 gab es erneut eine Diskussion über die Beweisanträge, wobei sich zeigte, dass das Gericht entschlossen war, ein Urteil zu fällen. Der Anwalt Hüsnü Tuna wiederholte den Antrag, Tanju Pekdemir, Selami Boztepe, Seyit Ahmet Bal, Kenan Bingöl, Tuncay Gög und die in Deutschland lebenden Aslan Demir und Mustafa Subasi als Zeugen zu hören. Von diesen Zeugen befänden sich Aslan Demir, Mustafa Subasi und Selami Boztepe vor dem Verhandlungsraum. Das Gericht machte wieder ausführlichere Ausführungen zur Ablehnung, wobei es darauf verwies, dass Verfahrensregeln nicht rückwirkend gelten und daher die in vorherigen Verhandlungen aufgeführten Gründe der Ablehnung zum Wiedereintritt in die Beweisaufnahme nach wie vor gültig seien. Danach folgte ein Befangenheitsantrag, dessen Ablehnung ich ebenso wie die Frage der angemessenen Frist für die Verteidigung in der Fallschilderung kommentiert habe.  Die Verhandlung wurde schließlich für anderthalb Stunden unterbrochen. Als die Verteidigung zum Plädoyer aufgefordert wurde, kamen erneut Anträge. Der Anwalt Ismet Koc sagte, dass er die Aussagen der abgelehnten Zeugen auf Kassette aufgenommen habe und sie vor Gericht abspielen könne. Der Angeklagte soll ein Gutachten verlangt haben, dessen Inhalt jedoch im Protokoll der Sitzung nicht spezifiziert wurde.
Das Gericht befand, dass das Abspielen von Videokassetten mit Aussagen gegen die Verfahrensordnung und das Gesetz verstießen, solange diese Aufnahmen nicht vor einem Gericht gemacht wurden. Zur Beiziehung eines Gutachters sei schon in der letzten Verhandlung entschieden worden und der Antrag werde daher einstimmig abgelehnt.
Neben Zeugen kommen Expertenmeinungen auch an anderen Punkten in Frage, z. B. im Fall 10 zum Problem der Verwertbarkeit von Beweisen. Ich kann am Verhalten der Gerichte, sowohl in den Verhandlungen als auch beim Verfassen der Urteile, eigentlich nur erkennen, dass sie sich (manchmal hartnäckig) sträuben, Beweisanträge zuzulassen, die die belastenden Elemente ins Wanken bringen könnten. Das gilt sowohl in Bezug auf die Erhärtung eines Foltervorwurfs als auch in Bezug auf die Anhörung von Zeugen der Verteidigung, wenn sie Behauptungen der Anklage widersprechen könnten (siehe Fall 18).
Nicht in allen Verfahren sind anderweitige Beweise, d. h. Dinge, die in der Anklageschrift nicht berücksichtigt wurden, von Belang. Manchmal aber ergibt sich schon aus den Umständen (z. B. einer Hausdurchsuchung), dass an dem Verfahren nicht beteiligte Personen als Zeugen in Frage kommen oder bestimmte Punkte durch einen Gutachter zu klären sind.
b. Gutachten
Gutachter werden vor allem in Verfahren zu so genannten Meinungsdelikten eingesetzt. Sie sollen dann z. B. beurteilen, ob bestimmte Äußerungen als Beleidigung oder Aufstachelung zum Rassenhass angesehen werden könnten. Das Problem der Gutachter hat in den von mir aufgelisteten Verfahren besonders in den Fällen 5, 17 und 18 eine (mitentscheidende) Rolle gespielt. Es handelt sich hier um Gutachten der obersten Polizeidirektion zu bestimmten Organisationen. Sie tauchen in vielen Verfahren auf und sind haben vor allem dann, wenn eine gängige Rechtssprechung zu bestimmten Organisationen fehlt, wichtig. Diese Art von Gutachten zählen eher zu den "Vorlagen" der Polizei, die neben den Aussagen bei den Sicherheitskräften sicherlich zum belastenden Material zu zählen sind. Ich bin auf diesen Punkt nur der Vollständigkeit halber eingegangen.
So war im Fall 5 die Bolschewistische Partei, der die Angeklagten angehören sollen, nicht nur den Richtern unbekannt. Das Gutachten der obersten Polizeidirektion kam zu dem Schluss, dass es sich um eine terroristische Organisation ohne Waffen handele und daher eine Verurteilung nach dem Artikel 7 des ATG in Frage komme. Daran hat sich das Gericht gehalten.
Im Fall 17 gab es unterschiedliche "Gutachten". Hier kann behauptet werden, dass extra eine Organisation mit dem Namen Devrimci Genclik (Revolutionäre Jugend) erfunden wurde, um die Angeklagten verurteilen zu können. (22) Allerdings waren die Experten bei der Polizeidirektion sich nicht einig, ob diese Organisation nun bewaffnet sei oder nicht. Entsprechend hat das SSG Ankara im ersten Urteil auf Mitgliedschaft in einer bewaffneten Bande erkannt (Artikel 168 altes TStG) und im zweiten Urteil den Vorwurf auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verwandelt.
Im Fall 18 hat es den Anschein, dass die oberste Polizeidirektion noch drei Jahre nach dem angeblichen Attentatsversuch auf das Mausoleum in Ankara die Organisation "Kalifatstaat/Union der Islamischen Gemeinden/Föderativer islamischer Staat Anatolien" (Abkürzung in Türkisch: HD/ICB/AFID) als terroristisch, aber nicht als bewaffnet einstufte und es erst im Jahre 2002 zu einer anderen Einschätzung kam, nachdem im Urteil der 2. Kammer des SSG Istanbul vom 10.04.2000 die Organisation als "bewaffnete Bande" eingestuft und das Urteil am 18.12.2000 durch den Kassationsgerichtshof bestätigt worden war.
c. Das Verfahren gegen die Abgeordneten der DEP
Besonders drastisch war das Verhalten des SSG Ankara im Falle der Abgeordneten der Demokratiepartei (DEP). Ich möchte dazu den Bericht der Internationalen Juristenkommission in Genf (ICJ) zum Verfahren am Kassationsgerichtshof im Juli 2004 (in eigener Übersetzung) zitieren. (23)
Fakten vor der Revision: Das SSG Ankara hatte Leyla Zana, Selim Sadak, Hatip Dicle und Orhan Dogan am 08.12.1994 nach Artikel 168 altes TStG zu je 15 Jahren Haft verurteilt. Am 17.07.2001 hatte der EGfMR entschieden, dass dieses Verfahren nicht fair war. (24)
Eigene Anmerkung: Obwohl der Kassationsgerichtshof das Urteil des SSG Ankara bestätigt hatte (d. h. es war rechtskräftig), kam es auf großen internationalen Druck, der sogar die EU-Mitgliedschaft der Türkei in Frage stellte, zu Gesetzesänderungen in der Türkei, die eine Wiederaufnahme des Verfahrens ermöglichten.
ICJ: Vor dem SSG Ankara fanden zwischen dem 21.02.2003 und dem 21.04.2004 insgesamt 15 Verhandlungen statt, die in einem Schuldspruch endeten. Die ICJ begrüßt die rasche Entscheidung des Revisionsgerichts und die Anordnung der Freilassung am 8. Juni (noch bevor ein Entscheid erging). Der Verteidiger erhielt mit einem Monat genügend Zeit seine Revision zu begründen. In der Bewertung ging das Revisionsgericht sogar so weit, dem Vorsitzenden Richter am SSG Ankara vorzuwerfen, dass er sich durch öffentliche Äußerungen selber als befangen disqualifiziert habe. Jedoch bleiben Bedenken in Bezug auf die Gleichheit der Mittel von Verteidigung und Anklage (die so genannte Waffengleichheit) und die gesamte Länge des Verfahrens gegen die Abgeordneten. Der Kassationsgerichtshof hob das Urteil des SSG Ankara auf. Das erneute Verfahren gegen die Abgeordneten wird an dem neu gegründeten Gericht für Zuchthausstrafen beginnen. Hier wird der Vorsitzende Richter des SSG Ankara, Orhan Karadeniz, mit auf der Bank sitzen, so dass befürchtet werden muss, dass es erneut zu einem unfairen Verfahren kommt.
In der Entscheidung des EGfMR wurde nicht nur die Präsenz des Militärrichters kritisiert, sondern auch die ungenügende Zeit der Verteidigung, sich zu einem veränderten Strafvorwurf zu äußern, bemängelt. Es wurde auch gerügt, dass die Verteidigung keine Gelegenheit hatte, Schlüsselzeugen in der Hauptverhandlung zu befragen.
Erst nach dem erneuten Schuldspruch des SSG Ankara befand am 07.06.2004 der Staatsanwalt am Kassationsgerichtshof, dass das Urteil aufzuheben sei, u. a. weil Zeugen der Verteidigung nicht angehört wurden, keine Gutachten zu Tonbandaufnahmen angefordert wurden und keine Gründe angegeben wurden, warum das Gericht sich nicht als befangen erklärt hatte, nachdem die Richter schon vor dem Urteil von der Schuld der Angeklagten gesprochen hatten. Diese Gründe waren ausschlaggebend für den aufhebenden Entscheid des Kassationsgerichtshofs.
Aus dem ursprünglichen Verfahren in den Jahren 1993 und 1994 weiß ich aus eigener Anschauung (ich beobachtete den Prozessbeginn) und sonstigen Berichten, dass über 70 Anträge der Verteidigung, Zeugen zur Entlastung zu hören, abgelehnt wurden. Von einem dieser Zeugen, Ali Dursun (siehe den Unterpunkt zu Fall 7 "Massive Foltervorwürfe in Endlosverfahren") wurde stattdessen erst in der Verhandlung vom 12.04.2004 eine Aussage verlesen, er aber nicht persönlich gehört.
An dem Verfahren gegen die Abgeordneten der DEP und an den in meinem Bericht vorgestellten Beispielen wird deutlich, dass die Gerichte kein Interesse daran haben, entlastendes Material zu ermitteln und Zeugen der Verteidigung zuzulassen.
Unter Vorwegnahme der Frage 4 darf ich auch darauf verweisen, dass ohne den internationalen Druck und die Prominenz der Angeklagten auch der Kassationsgerichtshof eine solche Unzulänglichkeit nur allzu bereitwillig ignoriert (immerhin hat er es nach dem ersten Verfahren gegen die Abgeordneten selbst bei ihnen gemacht).
d. Fazit
Die Gerichte haben kein Interesse daran, entlastendes Material zu ermitteln und Zeugen der Verteidigung zuzulassen. Sowohl in den Verhandlungen als auch beim Verfassen der Urteile wird deutlich, wie sich die Gerichte sträuben, Beweisanträge zuzulassen, die die belastenden Elemente ins Wanken bringen könnten. Das gilt sowohl in Bezug auf die Erhärtung eines Foltervorwurfs als auch in Bezug auf die Anhörung von Zeugen der Verteidigung, wenn sie Behauptungen der Anklage widersprechen könnten
Was eine Gewichtung der Beweise angeht, so kann ich an keinem der vorliegenden Urteile eine Abwägung der akzeptierten Beweise nach pro und kontra erkennen. Das einzige Element bei einer Verurteilung, wo eine Abwägung stattfindet, ist die Frage, ob Strafminderung wegen guter Führung gewährt werden sollte oder nicht.
Danach gefragt, ob die "Beweise" der Anklage nachvollziehbar sind, so kann ich nur sagen, dass sie "ihrer eigenen Logik folgen" und innerhalb dieser für mich auch nachvollziehbar sind: Wie ich schon zum Fall 18 ausgeführt habe, folgt die Anklageschrift der "Logik" der polizeilichen Ermittlungen. Die "Ergebnisse" werden in einer Übersicht (fezleke) von der Polizei zusammengefasst und finden sich in der Anklageschrift wieder. Daraus wird dann im Urteil nicht nur wörtlich unter der Überschrift "Anklage" zitiert, sondern in vielen Fällen finden sich die gleichen Formulierungen in der Urteilsbegründung.
Mit anderen Worten haben Zeugen, anderweitige Beweise und die Aussagen der Angeklagten in der Hauptverhandlung bzw. auch ihre Einlassungen beim Haftrichter nur eine untergeordnete Rolle.

Fußnoten:
(1) Dies bedeutet nicht, dass in den anderen Fällen (potentiell) erfolterte Aussagen keine Rolle spielen, aber sie sind nicht das zentrale Kriterium.
(2) Eine hundertprozentige Sicherheit fehlt mir aufgrund von Lücken bei der Akteneinsicht.
(3) Neben den (leider nur allzu) bekannten Foltermethoden, die auch jemand beschreiben könnte, der Folter nur vom Hörensagen kennt, schildert der Betroffene eindrucksvoll die physische und psychische Wirkung auf ihn sowie seine moralische Betroffenheit, die er in (eigentlich sinnlosen) Dialogen mit den Peinigern zum Ausdruck bringt. Neben dem (auch nur allzu bekannten) Spiel zwischen dem guten und schlechten (verständnisvollen und brutalen) Beamten wird nicht nur permanent Todesangst geschürt, sondern mit Drohungen von sexuellen Übergriffen an seinen Ehefrauen "gearbeitet", um den Verdächtigen zu einem Geständnis zu bringen. Bemerkenswert ist für mich die Tatsache, dass in einer Kleinstadt am Mittelmeer im Jahre 2000 Methoden angewendet wurden, wie ich sie vom Beginn der 80er Jahre vor allem aus der Hauptstadt Ankara her kannte (sich nach vorne gebeugt mit Fingern an der Wand abstützen). Auf dem Polizeipräsidium in Ankara arbeitete eine Abteilung "DAL" (Labor für vertiefte Ermittlungen) speziell auch mit diesem Mittel der physischen Zermürbung.
(4) Eine systematische Auseinandersetzung mit dem Thema findet sich in dem Bericht von amnesty international "TÜRKEI: Schluss mit Folter und Straflosigkeit!" vom Oktober 2001 (AI Index: EUR 44/072/2001). Ich werde hier die Sachlage (verkürzt) in eigenen Worten darstellen.
(5) Auf die Umsetzung des so genannten Istanbuler Protokolls, das von 75 Wissenschaftler/innen, 40 Ärzte-Organisationen und 15 Ländern, darunter die Bundesrepublik, unterzeichnet und den Vereinten Nationen als Arbeitsgrundlage zugeleitet und angenommen wurde, kann zumindest momentan noch nicht gehofft werden, obwohl türkische NROs maßgeblich daran beteiligt waren. Das Protokoll stellt eine Anleitung dar, wie man mit alternativen Untersuchungsmethoden an Folteropfern zu aussage- und beweiskräftigen Ergebnissen kommen kann.
(6) Im Vergleich zu den Zetteln aus einem Notizblock waren selbst die von der Gendarmerie in der Kreisstadt Kumluca (Provinz Antalya, die auch zum Zuständigkeitsbereich des SSG Izmir gehörte) im Jahre 2000 ausgestellten 1-seitigen Formblätter aussagekräftiger.
(7) Allein das Übergeben der Atteste an die Sicherheitskräfte widerspricht den seit dem 1. Juni 2005 gültigen Regeln für eine Untersuchung.
(8) In der "Verordnung zur Ergreifung, Festnahme und Aufnahme einer Aussage" werden im Artikel 4 Begriffe definiert. Dazu gehört: a) "ifade alma" (Aussage aufnehmen). Dies geschieht durch die uniformierten Kräften oder den Staatsanwalt; b) "sorgu" (Vernehmung, Verhör, Befragung zu den Tatvorwürfen) findet vor einem Richter statt. In der Praxis aber finden die eigentlichen Verhöre bei den uniformierten Kräften statt und daher habe ich mich nicht an die nach türkischem Recht juristisch korrekte Sprachregelung gehalten.
(9) Wenn von den Verfolgungsbehörden ein bestimmtes Verhalten wie Beginn eines Hungerstreiks nach der Festnahme oder das Beharren auf ein Aussageverweigerungsrecht als Indiz für Organisationsmitgliedschaft genommen wird, so sollte im Umkehrschluss jemand, der sich selbst beim Staatsanwalt und dem Haftrichter bezichtigt, den "Bonus" erhalten, dass er wohl keiner illegalen Organisation angehört, zumindest kein "erfahrener" Militanter ist, denn Militante wissen, dass sie spätestens beim Staatsanwalt Geständnisse zurücknehmen müssen.
(10) Diese Tatsache habe ich nicht in der Fallschilderung beschrieben, kann sie aber aufgrund meiner Gespräche mit den Betroffenen bezeugen.
(11) Der Artikel 279 neues TStG sieht eine Strafe von 6 Monaten bis zu 1 Jahr Haft vor, falls ein Staatsbediensteter ein Vergehen nicht zur Anzeige bringt.
(12) Da es nur in den seltensten Fällen zu Ermittlungen gegen mögliche Folterer kommt und nur in Ausnahmefällen auch ein Verfahren gegen Folterer eingeleitet wird, hält sich die Zahl dieser Verfahren natürlich in Grenzen.
(13) Auf die Bedeutung dieser (und ähnlicher) Entscheidungen werde ich bei der Beantwortung der Frage 4 eingehen.
(14) Eine im Wortlaut sehr ähnliche Begründung habe ich schon in einem Bericht von amnesty international vom Mai 1990 gefunden (nachzulesen im englischen Original "Turkey: Continuing Violations of Human Rights, AI Index: EUR 44/66/90, S. 31). Zu dem Zeitpunkt war die UN Anti-Folter-Konvention ratifiziert worden, aber die Richter meinten, dass sie sich nicht daran halten müssten, solange daraus nicht nationales Recht geworden sei. Seit der Änderung des nationalen Rechts durch die Erweiterung des Artikels 135 StPO im Jahre 1992 mit der Definition der verbotenen Verhörmethoden aber setzen sich die Richter an den Sondergerichten für politische Verfahren damit sogar über nationales Recht hinweg.
(15) Inzwischen war das Verfahren an der 6. Kammer des Landgerichts Diyarbakir gelandet, da die 7. Kammer aufgelöst worden war. Allerdings blieb der Vorsitzende Richter im Amt. Das Verfahren erhielt nur eine neue Nummer (vorher 2004/222 dann 2004/457)
(16) Nach Auskunft der Verteidigerin kam eine negative Antwort von der Staatsanwaltschaft, da niemand ein Attest mit "Spuren von Schlägen und Gewalt" hatte.
(17) Vgl. AI Index: EUR 44/54/97 vom September 1997
(18) Siehe vorherige Fußnote
(19) Es ist unklar, ob es sich hier um das am 8. Dezember 2001 vom Innenministerium ausgesprochene Verbot oder gerichtliche Schritte dagegen handelt.
(20) Gemeint ist vermutlich das Verfassungsgericht.
(21) Gemeint ist vermutlich das Oberverwaltungsgericht Düsseldorf.
(22) Es gab (sogar 2) Zeitschriften, die zu diesem Zeitpunkt unter dem Namen publiziert wurden, aber es gab und gibt meines Wissens keine Organisation, die sich diesen Namen gegeben hat.
(23) In englischer Sprache zu finden unter:
http://www.icj.org/news.php3?id_article=3536&lang=en
(24) Auf diese Entscheidung werde ich unter Frage 4 erneut zurückkommen.

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