Helmut Helmut Oberdiek * 18.9.1947 — † 27.4.2016
Wörterbuch  Bibliothek von HO aus HF in HH

Rechtsstaatlichkeit politischer Prozesse

in der Türkei
(Antworten auf die Frage 4)
Recherchiert im Oktober 2005
Fertigstellung: Januar 2006

Es gibt folgende Unterpunkte:
1. Der Kassationsgerichtshof (Yargitay)
2. Das Europäische Gericht für Menschenrechte (EGfMR)
2.1. Der Fall Hulki Günes
2.2. Der Fall Metin Dikme
2.3. Die Fälle Remziye Dag, Mustafa Yasar und Emrullah Karagöz
3. Fazit

Antwort auf Frage 4
Frage 4 lautete: Ist effektiver Rechtsschutz bei drohender oder bereits erfolgter Verwertung von unter Folter erlangten Aussagen/Geständnissen zu erlangen? Sind Fälle bekannt, in welchen ein Eilrechtsantrag an den Kassationsgerichtshof und/oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte den weiteren Lauf der Verhandlung beeinflusst hat?
Die Möglichkeit eines Eilrechtsantrages an den Kassationsgerichtshof ist mir nicht bekannt, lediglich Entscheidungen des Kassationsgerichtshof zu Entscheidungen anderer Gerichte auf "einstweilige Verfügungen". Nach dem Artikel 39 der Verfahrensregeln des EGfMR gibt es die Möglichkeit, einstweilige Verfügungen (vorläufige Maßnahmen) zu erlassen, es ist aber nicht weiter spezifiziert, in welchen Fällen dies möglich ist. Man kann aber wohl davon ausgehen, dass von diesem Mittel nur in absoluten Ausnahmefällen Gebrauch gemacht wird (z. B. wenn eine Person über die maximale Dauer der Polizeihaft hinaus incommunicado festgehalten wird und die Gefahr der Folter oder des "Verschwindenlassens" besteht). Unter den von mir aufgelisteten Fällen ist es in einer Sache zu einem Antrag auf einstweilige Verfügung beim EGfMR gekommen (Fall 5):
"Mit der Begründung, dass die notwendige Behandlung in der Türkei nicht sicherzustellen sei, wurde am 29.03.2005 der EGfMR angerufen und um eine einstweilige Anordnung, das Ausreiseverbot aufzuheben, gebeten. Mit Entscheid vom 04.05.2005 teilte der EGfMR mit, dass nach Regel 39 zur Gerichtsbarkeit des EGfMR beschlossen wurde, der türkischen Regierung keine Mitteilung zu machen."
Ich denke, dass unter dieser Prämisse nicht damit zu rechnen ist, dass entweder der Kassationsgerichtshof, der meines Wissens über dieses Instrument nicht verfügt, noch der EGfMR einstweilige Verfügungen erlassen, wenn die Gefahr besteht, dass erfolterte Aussage verwendet werden, um a) Anträge auf Haftentlassung abzulehnen oder b) Angeklagte zu langjährigen Haftstrafen zu verurteilen.
Sinnvoller ist es zu schauen, welche Entscheidungen zu diesem Punkt sowohl in der nationalen als eben auch der europäischen "Revisionsinstanz" nach einem Urteil (bzw. dem Ende eines unfairen Verfahrens) ergangen sind.
Wichtig ist dabei zu bedenken, dass sowohl der Kassationsgerichtshof als auch der EGfMR keine Berufungsinstanzen sind. Während der Kassationsgerichtshof direkt an die 1. Instanz zurückverweisen und als obere Instanz bestimmte Vorgaben für die Wiederaufnahme des Verfahrens machen kann, steht dem EGfMR auch diese Kompetenz nicht zu.
a. Der Kassationsgerichtshof
aa. Lange Verfahrensdauer
Zunächst einmal sollte festgehalten werden, dass der Kassationsgerichtshof eine Instanz ist, die mit für die lange Dauer der Verfahren verantwortlich ist. Dies ist ein Verstoß gegen Artikel 5, Absatz 3 der EMRK. Häufig warten die Betroffenen (selbst wenn sie sich in Haft befinden) nach dem Urteil des erstinstanzlichen Gerichts ein Jahr und länger auf eine Entscheidung des Kassationsgerichtshofs. Viele Verfahren werden aus banalen Gründen, wie unvollständige Einträge im Einwohnerregister oder fehlende Unterschriften unter ein Dokument, an die erste Instanz zurückverwiesen, wo die Verfahren zuvor schon etliche Jahre gedauert haben.
Nehmen wir als Beispiel das Verfahren gegen Lokman Külter (Unterpunkt zu Fall 9). Er wurde im Mai 1992 festgenommen. Die 2. Kammer des SSG Diyarbakir brauchte sechs Jahre, bevor sie ihn am 3. Juli 1998 zu 45 Monaten Haft verurteilte. Der Kassationsgerichtshof befand mehr als ein Jahr darauf (am 14.10.1999), dass der Angeklagte wegen Mordes zu verurteilen sei. Nachdem die 2. Kammer des SSG Diyarbakir zur 5. Kammer des Landgerichts Diyarbakir geworden war, wurde am 29. Dezember 2004 (im Sinne des Kassationsgerichtshofs) auf eine lebenslange Haftstrafe entschieden. Dieses Mal war der Kassationsgerichtshof schneller, kam aber zu einer völlig anderen Entscheidung, d. h. er fand Widersprüche in den Beweisen. Die 5. Kammer des Landgerichts Diyarbakir verhandelte erneut und vermutlich im Oktober 2005 wurde der Angeklagte freigesprochen und aus der Haft entlassen. Zwischenzeitlich war der Betroffene wohl auf freiem Fuß gewesen, aber erst nach 13 Jahren und fünf Monaten wurde hier "Recht" gesprochen. (Auch der EGfMR hat sich mit diesem Verfahren befasst. Da es aber zu einer gütlichen Einigung kam, ist nicht zu erkennen, welche Ansicht das Gericht im Falle einer Entscheidung vertreten hätte, d. h. welche Verstöße gegen die EMRK festgestellt worden wären).
ab. Aufhebung von Urteilen wegen Ermittlungen bei Foltervorwürfen
Ein vielleicht unerwartetes Resultat meiner Recherche ist das "Aufdecken" von gleich drei Verfahren (auf die durchnummerierten Beispiele bezogen: zwei Verfahren) von 18, in denen gesagt werden kann, dass der Kassationsgerichtshof die Urteile aufhob, indem er den Umgang der erstinstanzlichen Gerichte mit Foltervorwürfen kritisierte. Ausschlaggebend dabei war, dass zum Zeitpunkt der Urteilsfindung Prozesse gegen mögliche Folterer (von zumindest einem Teil) der Angeklagten anhängig waren. Es sind neben den Fällen 6 und 7 auch der im Unterpunkt zu Fall 6 geschilderte Fall von Asiye Zeybek Güzel. In ihrem Fall kam der Kassationsgerichtshof zu dieser Ansicht, obwohl in der Türkei kein Verfahren anhängig war, sondern (lediglich) eine Beschwerde vor dem EGfMR zur Entscheidung anstand.
Dies ist sicherlich eine positive Entwicklung, zumal (bis auf die Ausnahme einer ähnlichen Entscheidung im Jahre 1998 im Fall der Jugendlichen von Manisa (1) mir solche Entscheidungen vor 2003 nicht bekannt sind. Ein Garant dafür, dass erfolterte Aussagen nicht (mehr) als Beweismittel akzeptiert werden, können diese (und sicherlich vorhandene Parallelentscheidungen) aber nicht sein, zumal es nur in den seltensten Fällen gelingt, Ermittlungen zu den Foltervorwürfen einzuleiten, bzw. es noch seltener der Fall ist, dass sich vermeintliche Folterer vor Gericht verantworten müssen.
Es sollte dabei berücksichtigt werden, dass das Verwertungsverbot von erfolterten Aussagen in der Türkei spätestens seit 1988 galt. In dem Jahr wurde die UN Anti-Folter-Konvention ratifiziert, und nach Artikel 90 der Verfassung sind international anerkannte Normen als nationales Recht zu betrachten. Im Jahre 1992 gab es die Erweiterung des Artikels 135 alte StPO mit einem ausdrücklichen Verbot der Verwertung von Beweisen, die mit unerlaubten Verhörmethoden aufgenommen wurden. Der Kassationsgerichtshof hat also mehr als zehn Jahre gebraucht, bis er ansatzweise diese Bestimmung in die Urteilsfindung einbezog.
Nur wenn ein medizinisches Gutachten die Folter bestätigt (in aller Regel durch äußerlich sichtbare Spuren) und die mit Augenbinden verhörten Folteropfer ihre Peiniger identifizieren können und deshalb ein Verfahren eröffnet wird, würde der Kassationsgerichtshof (in seiner jetzigen Rechtssprechung) fordern, dass der Ausgang des Verfahrens abgewartet werden muss, bevor die mutmaßlich gefolterten Beklagten verurteilt werden. Mit anderen Worten würde der Kassationsgerichtshof nur dann von "erfolterten" Aussagen sprechen, wenn es zur Verurteilung von Folterern kommt, die allerdings (immer noch) meistens straffrei ausgehen.
ac. Weitere Fälle
Bei der Suche nach Entscheidungen des Kassationsgerichtshofs, in denen das Wort "Folter" (bzw. verbotene Verhörmethoden) vorkam, habe ich ein 4. Urteil aus der Zeit nach 2003 gefunden, mit dem das Gericht der ersten Instanz (SSG Istanbul) aufgefordert wird, das Ergebnis von Ermittlungen zu Foltervorwürfen abzuwarten, bevor es ein Urteil fällt. Hier geht es um Personen, die im September 2002 in Istanbul festgenommen worden waren. In der Presse wurde von elf HADEP-Mitgliedern gesprochen, die der PKK/KADEK angehören sollen. Der Kassenwart Tayfun Turgut sei beim Verlassen der Parteibüros in Bagcilar festgenommen worden, während Süleyman Kiliç, Mehmet Kurt, Hamit Bülbül, Yasin Savci, Sacibe Sincar, Nezir Alpaydin, Abdurrahman Özer, Halef Dayan, Ramazan Atabey und Bilal Turgut nach Hausdurchsuchungen inhaftiert wurden. Tayfun Turgut wurde kurz darauf, Hüseyin Atabey, Sacibe Sincar, Nezir Alpaydin, Bilal Turgut und Hamit Bülbül am 19. September wieder freigelassen. Ramazan Atabey, Yasin Savci, Abdurrahman Özer, Halef Dayan und Süleyman Kiliç kamen in U-Haft. Über den anschließenden Prozess habe ich nichts gefunden, aber anscheinend wurde Ramazan Atabey als Mitglied beschuldigt, während die anderen Angeklagten Unterstützungshandlungen vorgenommen haben sollen. Des Weiteren entnehme ich der Entscheidung des Kassationsgerichtshofs vom 27.04.2004, dass nur der Angeklagte Ramazan (im Entscheid werden stets nur die Vornamen genannt) verurteilt und die anderen Angeklagten freigesprochen wurden. Der Kassationsgerichtshof bestätigte die Freisprüche, da die Beweise weder qualitativ noch quantitativ für eine Verurteilung ausreichten. In Bezug auf den Angeklagten Ramazan sei keine ausreichende Beweisaufnahme erfolgt, weil das Ergebnis der Ermittlungen zu den Foltervorwürfen des Angeklagten Ramazan nicht abgewartet wurde. Hier könnte es sein, dass es nur ein "Geständnis" von einem Angeklagten gab (neben den als "materiell" geltenden Beweismitteln wie einschlägige Publikationen z. B.).
Als "bahnbrechend" wurde ein Urteil des Kassationsgerichtshofs Mitte 2005 in der Presse vorgestellt. Ich kann das Urteil nur anhand des Artikels in der Tageszeitung Radikal vom 28. Juni 2005 referieren, da ich den Fall auf den Seiten des Kassationsgerichtshofs nicht gefunden habe. Hintergrund war der Mord an einer 22-jährigen Frau in Sinop im Jahre 2001. Anderthalb Jahre später wurde der Finanzbeamte Hüseyin Göklerinoglu als Tatverdächtiger verhaftet, nachdem die Polizei herausgefunden hatte, dass die Frau und er miteinander im Internet "gechattet" hatten. Das Gericht verhängte eine Strafe von 24 Jahren, erkannte aber auf "Handlung im Affekt" und reduzierte die Strafe auf 15 Jahre Haft. Im Urteil reagierte das Gericht auf die Foltervorwürfe in der Art: "Selbst wenn der Angeklagte der geschilderten intensiven Folter ausgesetzt gewesen sein sollte, so widerspricht es der Lebenserfahrung, dass er deswegen ein Verbrechen wie Mord gesteht ..." Dabei hatte der Verteidiger durch die Vorlage von Videoaufnahmen die Behauptung der vernehmenden Polizeibeamten, dass die Wunden des Angeklagten von dem Versuch der Lynchjustiz bei einem Ortstermin herrührten, widerlegt.
Im Juni 2005 beschloss die 1. Kammer des Kassationsgerichtshofs nicht nur, das Urteil aufzuheben und der 1. Instanz vorzuschreiben, dass er freizusprechen sei, sie ordnete auch Haftentlassung an. Für das erstinstanzliche Gericht wurde darauf hingewiesen, dass der Angeklagte zu Beginn der Polizeihaft keine Beschwerden hatte, aber ihm am Ende der Polizeihaft Läsionen bescheinigt wurden, die zeigten, dass er Schlägen und Gewalt ausgesetzt war. Daher dürfe das Gericht nicht über die Foltervorwürfe hinwegsehen. Das auf Video aufgezeichnete Verhör vom 27.06.2002 bestand anscheinend aus zwei Teilen, wobei in einem Teil der Beschuldigte anwaltlichen Beistand forderte und darauf entgegnet wurde, dass das eigentliche Verhör später (aber am gleichen Tage) stattfinden solle. Dem Angeklagten seien seine Rechte nicht erläutert worden, es sei kein Anwalt bei der Aufnahme der Aussage anwesend gewesen und auch das Protokoll des Ortstermins (mit einem Staatsanwalt) entspreche nicht den Vorschriften des Artikels 135 alte StPO. Materielle Beweise für die Schuld des Angeklagten seien nicht vorhanden, folgerte das Revisionsgericht. Der einzige Zeuge sei ein Geisteskranker, der in seiner ursprünglichen Vernehmung von einem 18-20 Jahre alten Mann in Begleitung der Frau gesprochen hatte, wobei der Angeklagte 1956 geboren sei.
Auch dies ist sicherlich eine positive Entscheidung, wobei es bezweifelt werden kann, ob es weit reichende Folgen (als Musterurteil) auf andere Verfahren haben wird. Es gab nur einen Angeklagten, bei dem deutliche Spuren von Gewalteinwirkung nach der Polizeihaft offiziell festgestellt wurden. Es existierten in sich widersprüchliche Aufzeichnungen von Verhören und es gibt nur einen einzigen (geistig nicht voll zurechnungsfähigen) Zeugen, dessen Aussage keine klare Zuordnung des Mordes zuließ. Diese Konditionen (Attest, keine belastende Aussage außer dem eigenen "Geständnis") treffen auf die wenigsten politischen Fälle zu und daher wird diese Entscheidung kaum die Bedeutung einer "Grundsatzentscheidung" erlangen.
Etwas deutlicher wurde der Kassationsgerichtshof in einem Urteil, das ich bei der Suche von Entscheidungen, in denen das Wort "Folter" (bzw. verbotene Verhörmethoden) vorkam, fand. Der Entscheid vom 16.02.2004 war in der türkischen Öffentlichkeit unbeachtet geblieben, obwohl er starke Parallelen zu dem Fall in Sinop aufweist. Über das Revisionsverfahren hatte anscheinend aber nur die Lokalzeitung "Kocaeli" (Izmit) am 30.05.2005 berichtet. Hintergrund war ein Mord im Stadtteil Yenikent (von Izmit) am 21. Februar 2002. Nevzat Demirci war erschlagen worden und als erste wurde seine Ehefrau Mualla verdächtigt. Dann aber waren andere "Beweise" aufgetaucht, so dass die Brüder der Ehefrau mit auf die Anklagebank kamen. Der Bruder Engin Gönül wurde als Täter zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, während der Bruder Cengiz Gönül und Mualla Demirci als Helfer zu 16 Jahren und acht Monaten Haft verurteilt wurden. Der Zeitungsbericht geht nicht auf das erste Urteil des Kassationsgerichtshofs ein, aus dem ich jetzt zitieren möchte. Demnach hatte die 2. Kammer des Landgerichts Kocaeli am 7. März 2003 das angefochtene Urteil gefällt. Nach Lage der Akte war der Getötete (wie immer) gegen 1 Uhr morgens nach Hause gekommen und war von der Ehefrau ins Haus gelassen worden. Gegen 10 Uhr teilte die Ehefrau den Nachbarn mit, dass er tot sei.
Da es nur einen Zeugen (wie alle anderen Personen im Urteil nur mit Vornamen als "Sezer" genannt) gab, konnte der Vorfall nicht vollständig aufgeklärt werden. Als Hauptverdächtige galt Mualla, gegen die am 08.03.2002 eine Anklageschrift erstellt wurde. Dann aber stellte sich heraus, dass das gemeinsame Kind der Eheleute, Sezer (geb. 1995), zu Hause gewesen war. Der Onkel (väterlicherseits) Dursun holte Sezer von seiner Großmutter und ließ ihn das, was er zur Tat wissen sollte, auf Video schildern. Die Videokassette brachte er zur Staatsanwaltschaft, der gegen die anderen Angeklagten ermittelte. Auch vor dem Staatsanwalt soll Sezer am 21.05.2002 ähnliche Angaben gemacht haben, die vorwiegend die Brüder Cengiz und Engin beschuldigten, wobei die tödliche Handlung von seinem Onkel (mütterlicherseits) Cengiz ausgeführt worden sein soll. Die Brüder wurden noch am gleichen Tag festgenommen und bis zum 24.05.2002 festgehalten. An diesem Tage wollten die uniformierten Kräfte ihre Aussage aufnehmen, aber die Beschuldigten nahmen das Recht auf Aussageverweigerung in Anspruch und sagten, dass sie vor dem Staatsanwalt aussagen wollten. Vor der Aussage beim Staatsanwalt soll ein Polizeibeamter heimlich ein Gespräch mit Cengiz auf Video aufgenommen haben, in dem dieser seine Mittäterschaft zugab und Engin des Mordes beschuldigte. Später sagte Cengiz, dass er dies aus Angst vor Folter gesagt habe. In allen anderen Stadien des Verfahrens hatten beide Angeklagten stets ihre Unschuld beteuert.
Der Kassationsgerichtshof kritisierte das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts wegen seiner mangelnden Würdigung des Foltervorwurfs. Dort war festgestellt worden, dass die von der Polizei aufgenommene Kassette im Beisein eines Gutachters und den Vertretern der Parteien angeschaut worden sei. Man habe gesehen, dass der Betroffene ohne Druck begonnen habe zu reden und er nach 5-10 Minuten die Ruhe einer Person ausgestrahlt habe, die inneren Frieden gefunden habe. Außerdem habe der Inhalt mit den von Sezer gemachten Angaben im Wesentlichen übereingestimmt.
Daraus folgert der Kassationsgerichtshof, dass die angebliche Aussage des Angeklagten zum wesentlichen Beweismittel gemacht wurde und zitiert den zu dem Zeitpunkt gültigen Artikel 135/a alte StPO (verbotene Verhörmethoden). Um eine Aussage als Beweis verwerten zu können, müsse sie aus freien Stücken (eigenem Willen) abgegeben worden sein. Hier aber sei der Angeklagte, der klargestellt hatte, dass er keine Aussage machen wolle, hintergangen und daran gehindert worden, aus freien Stücken eine Aussage zu machen. Diese Aussage sei also nicht zu verwerten und das Urteil habe sich mit den sonstigen Beweisen zu begnügen. So hätte das Gericht prüfen sollen, ob die Angeklagten, wie vom Zeugen behauptet, in jener Nacht das Telefon im Hause benutzten. Außerdem hätte den Angeklagten nach einem veränderten Tatvorwurf eine zusätzliche Frist für die Verteidigung eingeräumt werden sollen.
Nach der Auflösung des Urteils gab es nach dem Zeitungsbericht vom 30.05.2005 eine erneute Verhandlung vor der 2. Kammer des Landgerichts Kocaeli, in der die Angeklagten nun zu je zehn Jahren Haft verurteilt wurden. Dieses Urteil ging erneut an den Kassationsgerichtshof, der dieses Mal einen Schritt weiter ging und neben Auflösung des Urteils auch die Haftentlassung für die Brüder anordnete. In der Verhandlung vom 29.05.2005 folgte das Gericht dann der Vorgabe und sprach die Brüder frei, während Mualla Demirci eine Strafe von zehn Jahren Haft erhielt.
Diese Entscheidung geht insofern über den Entscheid zum Urteil in Sinop hinaus, als dass es anscheinend keine ärztlichen Gutachten über erlittene Folter gab (dieser Punkt wäre sonst wohl erwähnt worden). Der zentrale Punkt wird hier gewesen sein, dass eine Videoaufnahme ohne Einwilligung des Verdächtigen gemacht wurde.
In diesen zwei unpolitischen Verfahren ist eine etwas ausführlichere Auseinandersetzung des Kassationsgerichtshofs zu erfolterten Aussagen zu finden als in den politischen Fällen. Das erste Urteil wurde dabei vor der gleichen Kammer gefällt, welche die meisten politischen Fälle beurteilt (die 9. Kammer). Das andere Urteil stammt von der 1. Kammer des Kassationsgerichtshofs. Neben der Einschränkung, dass es in beiden Verfahren nur um das "Geständnis" einer Person ging, sollte auch nicht vergessen werden, dass in diesen (Mord)Verfahren Unschuldige mehr als drei Jahre in Haft verbrachten, bevor "Recht" gesprochen wurde.
Die während der Erstellung des Gutachtens ergangene Entscheidung des Kassationsgerichtshofs zum Fall 18 (Presse vom 01.12.2005, Entscheid deshalb vom 30.11.2005) geht nicht auf den Vorwurf ein, dass erfolterte Aussagen als Beweis verwertet worden sein könnten. Ich kann an den Zeitungsmeldungen auch nicht erkennen, dass das obere Gericht die Ablehnung der Beweisanträge der  Verteidigung moniert hätte. Die Aufhebung des Urteils der 14. Kammer des Landgerichts Istanbul erfolgte aus rein formalen Gründen. Während der Staatsanwalt am Kassationsgerichtshof lediglich die Anwendung des neuen TStG forderte, (2) bemängelte das oberste Gericht außerdem, dass eine Seite des Urteils von einem Richter nicht unterschrieben wurde und dass die Beweise in den Verfahren gegen andere Organisationsmitglieder vor dem (aufgelösten) SSG nicht gemeinsam bewertet wurden. (3) In jedem Fall aber hat der Kassationsgerichtshof die Gründe, die dieses Verfahren zu einem unfairen Verfahren im Sinne der EMRK machen, nicht einmal angesprochen.
b. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGfMR)
ba. Allgemeines
Nachdem die Türkei 1987 die Individualbeschwerde und 1990 die obligatorische Zuständigkeit des EGfMR anerkannte, hat sich dieses Instrument einer steigenden Beliebtheit unter den Bürgern und Bürgerinnen der Türkei erfreut. Im Jahre 2002 kamen 3.879 Beschwerden aus der Türkei; 2003 waren es 2.944 und im Jahre 2004 wurden 3.491 Beschwerden in Straßburg eingereicht. (4) Nur Polen und Russland hatten mehr Beschwerden zu verzeichnen (wobei es sich hier evtl. um so genannte Sammelklagen gehandelt haben könnte). Mit 156 Entscheidungen (von 621 insgesamt) traf das Gericht im Jahre 2004 die meisten Beschlüsse zur Türkei.
Die hohe Anzahl von Verfahren aus der Türkei zeugt zum einen vom Misstrauen der Bürger und Bürgerinnen in die eigene Justiz bzw. das Empfinden, vor den nationalen Instanzen ungerecht behandelt worden zu sein, bedeutet aber auch Vertrauen in eine Instanz, die sich bislang eher zögerlich mit einigen heiklen Fragen der Menschenrechte in der Türkei befasst hat. So wurde meines Wissen bisher in keinem Verfahren, in dem ein Verstoß nach Artikel 14 der EMRK (Diskriminierungsverbot) angemahnt wurde, eine Diskriminierung der Kurden in der Türkei festgestellt.
Die größte Schwäche des Instruments der Individualbeschwerde ist sicherlich die lange Dauer der Verfahren. Betroffene, die bis zur Ausschöpfung aller rechtlichen Mittel im eigenen Lande schon jahrelang gewartet haben, können erst dann (in einer Frist von sechs Monaten) Beschwerde beim EGfMR einlegen. Hier muss das Verfahren zunächst einmal zugelassen werden, bevor der Staat, in dem Rechte nach der EMRK verletzt worden sein sollen, zu einer Stellungnahme aufgefordert wird. Diese Kommunikation zwischen dem Gericht und den Parteien kann ebenfalls Jahre dauern, bevor dann ein Termin zur Urteilsfindung anberaumt wird.
bb. Wiederaufnahme des Verfahrens
Ein weiteres "Manko" ist, dass der EGfMR keine Berufungsinstanz ist. Während der Kassationsgerichtshof direkt an die 1. Instanz zurückverweisen und als obere Instanz bestimmte Vorgaben für die Wiederaufnahme des Verfahrens machen kann, steht dem EGfMR diese Kompetenz nicht zu. Sobald eine Verletzung von Menschenrechten, wie sie in der EMRK verbrieft sind, festgestellt wurde, wird in der Regel auf Entschädigung erkannt. Die Türkei hat 1990 zwar die Rechtssprechung des EGfMR als bindend akzeptiert, aber erst im Jahre 2002 die Möglichkeit geschaffen, dass Verfahren, in denen eine Entscheidung gegen die Türkei ergangen ist, wieder aufgenommen werden können. Nach Artikel 311(2) der neuen StPO gilt dies jedoch nur für Entscheidungen des EGfMR, die zum Stichtag des 04.02.2003 anhängig waren.
Auch an diesem Punkt darf wohl behauptet werden, dass die Türkei diese Veränderungen nicht gemacht hätte, wenn mit dem Verfahren gegen die DEP-Abgeordneten (s. o., Kap. III 3 d) nicht ein "harter Brocken" auf dem Weg zum Beginn der Beitrittsverhandlungen zur Mitgliedschaft in der EU im Wege gestanden hätte. Im Endeffekt sind die Abgeordneten aber nur knapp ein Jahr vor ihrer regulären Haftentlassung aus der (in den Augen der türkischen Richter Strafhaft, aber nach internationalem Recht wohl eher) Untersuchungshaft entlassen worden, d. h. sie mussten auf diesen Schritt mehr als zehn Jahre warten.
In einigen der von mir dargestellten Beispiele dürften Entscheidungen des EGfMR entweder schon "zu spät" ergangen sein (vgl. Fall 17) oder aber die Lage der Betroffenen nur unwesentlich ändern, wenn einmal eine Entscheidung gefällt werden sollte. So kann im Fall 1 davon ausgegangen werden, dass nach dem Bekanntwerden des neuen Strafgesetzes (September 2004) schon vor dem zunächst erwarteten Datum des Inkrafttretens (1. April 2005) der Verurteilte gegen Ende des Jahres 2004 aus der Haft entlassen worden ist, da er nach den neuen Bestimmungen 75% einer sechs Jahre und drei Monate betragenden Haftstrafe zu verbüßen hatte. Sollte also irgendwann einmal über die am 07.12.2001 beim EGfMR eingegangene und unter der Nummer 7930/02 registrierte Beschwerde entschieden werden, dann hat der Betroffene außer einer Entschädigung nichts zu erwarten. Er kann nicht einmal die Wiederaufnahme seines Verfahrens beantragen, weil a) nach dem 04.02.2003 entschieden wurde und b) die Beschwerde vor diesem Datum eingereicht wurde.
bc. Weitere Fälle
Um näher auf die hier vorliegende Fragestellung einzugehen, sollte ich erst einmal sagen, dass mir keine Entscheidungen des EGfMR (bis auf die Beschwerde von Abdullah Öcalan) bekannt, in denen es um Verfahren vor einem SSG ging, in denen das Urteil nach dem Ausscheiden der Militärrichter gefällt wurde. Für die Verfahren, die unter Teilnahme eines Militärrichters geführt wurden, konnte es sich das Gericht in Straßburg einfach machen und die Anwesenheit eines Militärrichters als das Kriterium benennen, das die Verfahren unfair werden ließ. Nach der Feststellung, dass diese Verfahren vor einem Gericht stattfanden, das nicht unabhängig und unparteilich genannt werden kann, wurde meistens auf eine Überprüfung der anderen Beschwerdepunkte nach Artikel 6 der EMRK verzichtet. Hier bilden das Verfahren zu Abdullah Öcalan, die Abgeordneten der Demokratiepartei DEP und ein Verfahren, in dem ursprünglich die Todesstrafe verhängt wurde, Ausnahmen (weil hier weitergehende Feststellungen getroffen wurden).
Der Fall Hulki Günes
In diesem Verfahren spielten "erfolterte Aussagen" eine Rolle, so dass ich darauf näher eingehen möchte. Von diesem Fall habe ich erst im Dezember 2005 Kenntnis erlangt. Grund war eine Pressemitteilung des Europarates zu einer Resolution des Ministerrates vom 30.11.2005. Die Türkei wurde darin aufgefordert, das Verfahren gegen Hulki Günes wieder aufzunehmen.
Ein paar Einzelheiten aus diesem Verfahren und die Entscheidung des EGfMR fasse ich aus dem englischen Entscheid vom 19.06.2003 zusammen. (5) Der 1964 geborene Hulki Günes war am 19. Juni 1992 in Varto (Provinz Mus) festgenommen worden. Er wurde beschuldigt, an einer bewaffneten Auseinandersetzung mit den Sicherheitskräften fünf Tage zuvor beteiligt gewesen zu sein, bei der ein Soldat umgekommen und zwei Soldaten verletzt worden waren. Bei seiner Festnahme war er unbewaffnet. Er soll zu Beginn der Polizeihaft (bzw. Haft bei der Gendarmerie) laut einem Arztbericht Abschürfungen im Gesicht, auf der Brust und dem Rücken gehabt haben. Bis zum 4. Juli war er bei der Gendarmerie in Haft und wurde dort verhört. Am Vortage wurde er zwei Mal untersucht. Im ersten Attest wurden ihm verschorfte Abschürfungen am Brustbein und im zweiten Attest am gleichen Tag wurden ihm verschorfte Abschürfungen am Brustbein, sowie Abschürfungen am Rückgrat und in der Lendengegend bescheinigt. In zwei weiteren Attesten wurde das Ergebnis der 2. Untersuchung bestätigt.
Vor dem Haftrichter erhob Hulki Günes am 4. Juli 1992 Foltervorwürfe. Ermittlungen fanden aber erst statt, nachdem der EGfMR den Fall der türkischen Regierung vorgelegt hatte. Die Ermittlungen wurden zwei Mal eingestellt (15.10.1998 und 25.08.1999).
Am 30.10.1992 hatte das Gericht entschieden, dass die Aussagen von drei Soldaten, die den Angeklagten angeblich identifiziert hatten, im Rahmen der Amtshilfe eingeholt werden könnten und schickte dazu Fotos des Angeklagten an ein (anderes) Gericht. In der Verhandlung vom 15.01.1993 sagte der inzwischen im Zusammenhang mit dem gleichen Vorfall verhaftete Herr Erdal aus, dass er den Angeklagten nicht kenne. Als "Überläufer", d. h. jemand, der in den Genuss des Reuegesetzes kommen wollte, räumte er aber ein, an dem Gefecht vom 14.06.1992 beteiligt gewesen zu sein.
Im Plädoyer forderte der Staatsanwalt am 3. September 1993 Freispruch aus Mangel an Beweisen. Er wies dabei auf wesentliche Widersprüche in den Aussagen der Belastungszeugen hin. So sollten die Angreifer (der PKK) einer Aussage zufolge alle vermummt gewesen sein, in einer anderen Aussage soll nur der Angeklagte nicht vermummt gewesen sein.
Am 24.12.1993 kamen neue "Beweise" zur Akte. Geschwister des Angeklagten, die unter dem Verdacht, Angehörige der Organisation (PKK) zu sein, festgenommen worden waren, hätten ausgesagt, dass auch Hulki Günes der Organisation angehört habe. Die Verteidigung erhielt Zeit, um sich auf die veränderte Rechtslage vorzubereiten, der Staatsanwalt aber fand schon sechs Tage später den Angeklagten "schuldig im Sinne der Anklage" und forderte eine Bestrafung nach Artikel 125 altes TStG.
Das Gericht verhängte darauf hin die Todesstrafe nach einer Sitzung am 11.03.1994. Die Todesstrafe wurde in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Am 16.11.1994 bestätigte der Kassationsgerichtshof das Urteil.
Die Beschwerde des Angeklagten wurde am 29.05.1995 an die (damals noch existierende) Europäische Kommission für Menschenrechte gerichtet, am 01.11.1998 an das Gericht weitergeleitet und am 09.10.2001 für zulässig erklärt. Die Beschwerde berief sich auf eine Verletzung von Artikel 3 der EMRK, wobei der Beschwerdeführer von Aufhängen am Palästinenser-Haken, Stromstößen und Schlägen auf verschiedene Körperteile sprach. Die Beschwerde war auch mit einem Verstoß gegen Artikel 6 EMRK begründet worden. Neben der Teilnahme eines Militärrichters an dem Verfahren wurde kritisiert, dass in der Hauptverhandlung keine Zeugen gehört wurden, die den Angeklagten belastet hatten.
Angesichts der vorhandenen Arztberichte folgerte der EGfMR, dass harte Foltermethoden nicht mit Sicherheit angenommen werden könnten und in diesem Fall von unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gesprochen werden müsse. Das sei ein Verstoß gegen Artikel 3 EMRK.
In Bezug auf Artikel 6 kam das Gericht aufgrund der Anwesenheit eines Militärrichters zu der Schlussfolgerung, dass es sich nicht um ein unabhängiges und unparteiliches Gericht gehandelt habe.
In diesem Fall hat sich das EGfMR aber nicht mit dieser Feststellung begnügt. So wurde die Bewertung der Zeugenaussagen kritisiert. Hulki Günes hatte stets bestritten, dass drei Soldaten ihm nach der Festnahme gegenübergestellt wurden und ihn identifizierten. Diese "fragwürdigen" Belastungszeugen seien nicht vor Gericht gehört worden und sollen ihn nur anhand von Fotos identifiziert haben. Der EGfMR bedauerte, dass das SSG Diyarbakir keinen Kommentar zu der Art der Aufnahme eines "Geständnisses" des Angeklagten abgegeben hatte: Zum Zeitpunkt dieses "Geständnisses" sei der Beschwerdeführer nicht durch einen Anwalt vertreten gewesen. Unter diesen Umständen hätten die Belastungszeugen (unbedingt) in der Hauptverhandlung angehört werden müssen. Deshalb wurde auf einen Verstoß gegen die Absätze 1 und 2 des Artikel 6 EMRK erkannt. Das EGfMR hat sich also nicht mit der Frage befasst, ob erfolterte Aussagen als Beweis verwendet wurden.
Bislang hat der Entscheid dem nach mehr als 13 Jahren immer noch inhaftierten Beschwerdeführer nicht zu seinem "Recht" verholfen. Immerhin vergingen sechs Jahre, bevor das EGfMR das Verfahren zuließ.
Dieser Fall ist vom Europarat sozusagen als "Testfall" auserkoren worden. An ihm wird sich entscheiden, ob die Türkei auch die Wiederaufnahme von Verfahren zulässt, in denen der EGfMR nach dem 04.02.2003 auf einen Verstoß gegen Artikel 6 des EMRK entschieden hat, die Beschwerde jedoch vor dem 04.02.2003 eingereicht wurde. Nach einem Bericht in der Tageszeitung "Radikal" vom 11. Mai 2005 sollen dies ca. 90 Verfahren sein, von denen 30 schon dem Delegiertenkomitee im Europarat vorliegen. Im Vordergrund der Debatte steht dabei sicherlich das Verfahren gegen Abdullah Öcalan bzw. die Frage, ob ihm ein Recht auf die Wiederaufnahme seines Verfahrens eingeräumt wird oder nicht.
Der Fall Metin Dikme
Schon vor diesem Urteil hatte sich der EGfMR mit einem ähnlichen Fall (sogar ausführlicher) auseinandergesetzt. Über die Beschwerde des Metin Dikme wurde am 11.07.2000 entschieden. Dem als vermeintlichen Angehörigen von Dev-Sol in Istanbul am 10. Februar 1992 festgenommenen Metin Dikme wurde aufgrund von Attesten vom EGfMR beschieden, dass er gefoltert worden sein. Die Frage eines unfairen Verfahrens entschied das Gericht jedoch nicht, weil nach der Aufhebung (am 07.04.1999) eines ersten Urteils des SSG Istanbul (ergangen am 26.06.1998) auf Todesstrafe nach Artikel 146 altes TStG ein zweites Urteil noch nicht ergangen sei. (6)
Die Europäische Kommission für Menschenrechte, die auf einen Verstoß gegen Artikel 6/2 der EMRK entschieden hatte, weil bei der polizeilichen Aussage kein Anwalt zugegen war, wurde vom Gericht kritisiert, da sie unter den gegebenen Umständen diesen Teil der Beschwerde nicht hätte zulassen dürfen. Es könne nicht allein wegen fehlenden Rechtsbeistandes im Stadium der Ermittlungen gefolgert werden, dass ein Verfahren unfair sei, sondern es müsse eine Gewichtung der unter diesen Umständen entstandenen Beweise in Bezug zur gesamten Beweislage vorgenommen werden.
Auch hier hat das Urteil des EGfMR kaum Auswirkungen auf das laufende Verfahren gehabt, bis auf die Tatsache, dass der Kassationsgerichtshof dem erstinstanzlichen Gericht vorschrieb, die Entscheidung des EGfMR zu berücksichtigen. Immerhin wurde Metin Dikme Ende 2004 aus der Haft entlassen. Nach einem Bericht in der Tageszeitung Sabah erfolgte die Entlassung, da in der neuen StPO, die im Dezember 2004 verabschiedet wurde und am 1. April 2005 in Kraft treten sollte, wäre die Höchstdauer der Untersuchungshaft in politischen Verfahren auf maximal 10 Jahre begrenzt worden.
Die Fälle Remziye Dag, Mustafa Yasar und Emrullah Karagöz
Wie schwer sich das EGfMR immer noch tut, gegen die Türkei auf Folter zu erkennen, zeigt ein Beispiel aus der neueren Zeit. Am 8. November 2005 fällte das EGfMR mehrere Entscheidungen, u. a. auch zur Türkei. Mit zwei separaten Beschwerden hatten sich Remziye Dag, Mustafa Yasar und Emrullah Karagöz über Folter in Diyarbakir im Oktober und November 2001 und eine zu lange Haftdauer beschwert. Sie waren nach dem Dekret 430 (mehrfach) aus der U-Haft geholt worden und erneuten Verhören bei der Gendarmerie unterworfen worden. Bei jeder "Verlängerung" (zu jener Zeit jeweils für weitere zehn Tage möglich) waren sie untersucht worden, ohne dass Verletzungen festgestellt wurden. Die Gesamtdauer der Haft bei der Gendarmerie hatte bei R. Dag 18 Tage und bei M. Yasar und E. Karagöz 40 Tage betragen.
Das EGfMR entschied, dass Artikel 5/1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und Artikel 5/4 der EMRK (alsbaldige Vorführung vor einen Richter) verletzt worden seien. Es entschied aber nicht auf Verletzung von Artikel 3 der EMRK (Folterverbot), weil die Folter nicht über jeden vernünftigen Zweifel hinaus erwiesen sei (keine Atteste und angeblich keine Beschwerden der Opfer gegenüber den untersuchenden Ärzten).
Die Beschwerdeführer hatten erfolglos Strafanzeige in der Türkei gestellt und sich danach an den EGfMR gewandt. In den Strafanzeigen hatten sie u. a. über folgende Foltermethoden berichtet: Frau Dag beschwerte sich über Schläge, Drohungen, Beleidigungen und Entziehung von Nahrung. Herr Yasar sprach von Schlägen, Aufhängen am so genannten Palästinenser-Haken, Stromstößen und Abspritzen mit kaltem Wasser. Herr Karagöz nannte Schläge, Abspritzen mit kaltem Wasser und das Quetschen der Hoden. Die Staatsanwaltschaft in Diyarbakir hatte die Ermittlungen wegen Folter aus Mangel an Beweisen eingestellt.
Eine viel bessere "Beweislage" haben die meisten Folteropfer in der Türkei nicht. Wenn aber auch der EGfMR nur dann bereit ist, die Anwendung von Folter zu konstatieren, wenn medizinische Berichte vorliegen, wird es in der Mehrzahl der Fälle nicht auf ein unfaires Verfahren erkennen, selbst wenn "erfolterte Aussagen" als Beweis verwendet wurden.
c. Fazit
Bei drohender oder bereits erfolgter Verwendung von erfolterten Aussagen/Geständnissen ist weder vor dem Kassationsgerichtshof noch vor dem EGfMR effektiver Rechtsschutz zu erlangen.
Mir sind keine Fälle bekannt, in welchen ein Eilrechtsantrag an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte den weiteren Lauf der Verhandlung beeinflusst hat. Folgt man der Entscheidung im Falle der Beschwerde von Metin Dikme, so wird das EGfMR solange nicht über die Fairness eines Verfahrens entscheiden, bis das Urteil in der Türkei rechtskräftig ist.
Es hat (zumindest seit 2003) einige Entscheidungen des Kassationsgerichtshofs gegeben, in denen Urteile an die erste Instanz zurückverwiesen wurden, weil schwebende Verfahren zum Vorwurf der Folter existierten. Das ist jedoch keine Anweisung an die untergeordneten Gerichte, Foltervorwürfe selber zu ergründen. Dies aber müsste geschehen, um eine Entscheidung über die Verwertbarkeit von erfolterten Aussagen machen zu können.

Fußnoten:
(1) Hier kann ähnlich wie im Falle der Abgeordneten in Ankara (siehe oben) argumentiert werden, dass der Fall der Jugendlichen von Manisa national und international so prominent war, dass eine andere Entscheidung des Kassationsgerichtshofs zu einer Welle von Empörung geführt hätte.
(2) Für mich unverständlich, denn in den Strafbestimmungen, die in diesem Verfahren zum Tragen kamen, ist das neue TStG eher von Nachteil, da neben der erschwerten lebenslangen Haft für "Hochverrat" (in beiden Gesetzen) nach dem neuen Gesetz jedes Delikt (wenn es solche gibt) noch einmal gesondert bestraft werden muss.
(3) Dieser Satz ist interpretationsbedürftig. Entweder es heißt, dass nicht alle Verfahren gegen andere Personen aus dieser Gruppierung berücksichtigt wurden, oder aber, dass die so genannten materiellen Beweise (Waffen etc.) nicht gesondert gewürdigt wurden.
(4) Vgl. "Survey of Activities 2004" auf der Internetseite http://www.echr.coe.int/ECHR/EN/Header/Reports+and+Statistics/Reports/Annual+surveys+of+activity/
(5) http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/portal.asp?sessionId=4847369&skin=hudoc-en&action=request
(6) Im Juli 2004 wurde ein zweites Urteil des SSG Istanbul vom 23.09.2003 vom Kassationsgerichtshof aufgehoben, da die Entscheidung des EGfMR nicht berücksichtigt worden sei.

Seitenanfang
Startseite
zurück mit alt+<--
- Sitemap - Impressum