in der Türkei
(Antworten auf die Frage 4)
Recherchiert im Oktober 2005
Fertigstellung: Januar 2006
Es gibt folgende Unterpunkte:
1. Der Kassationsgerichtshof
(Yargitay)
2. Das Europäische
Gericht für Menschenrechte (EGfMR)
2.1. Der Fall Hulki
Günes
2.2. Der Fall Metin
Dikme
2.3. Die Fälle Remziye
Dag, Mustafa Yasar und Emrullah Karagöz
3. Fazit
Antwort auf Frage 4
Frage 4 lautete: Ist effektiver
Rechtsschutz bei drohender oder bereits erfolgter Verwertung von unter
Folter erlangten Aussagen/Geständnissen zu erlangen? Sind Fälle
bekannt, in welchen ein Eilrechtsantrag an den Kassationsgerichtshof und/oder
den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte den weiteren
Lauf der Verhandlung beeinflusst hat?
Die Möglichkeit eines Eilrechtsantrages
an den Kassationsgerichtshof ist mir nicht bekannt, lediglich Entscheidungen
des Kassationsgerichtshof zu Entscheidungen anderer Gerichte auf "einstweilige
Verfügungen". Nach dem Artikel 39 der Verfahrensregeln des EGfMR gibt
es die Möglichkeit, einstweilige Verfügungen (vorläufige
Maßnahmen) zu erlassen, es ist aber nicht weiter spezifiziert, in
welchen Fällen dies möglich ist. Man kann aber wohl davon ausgehen,
dass von diesem Mittel nur in absoluten Ausnahmefällen Gebrauch gemacht
wird (z. B. wenn eine Person über die maximale Dauer der Polizeihaft
hinaus incommunicado festgehalten wird und die Gefahr der Folter oder des
"Verschwindenlassens" besteht). Unter den von mir aufgelisteten Fällen
ist es in einer Sache zu einem Antrag auf einstweilige Verfügung beim
EGfMR gekommen (Fall 5):
"Mit der Begründung, dass die
notwendige Behandlung in der Türkei nicht sicherzustellen sei, wurde
am 29.03.2005 der EGfMR angerufen und um eine einstweilige Anordnung, das
Ausreiseverbot aufzuheben, gebeten. Mit Entscheid vom 04.05.2005 teilte
der EGfMR mit, dass nach Regel 39 zur Gerichtsbarkeit des EGfMR beschlossen
wurde, der türkischen Regierung keine Mitteilung zu machen."
Ich denke, dass unter dieser Prämisse
nicht damit zu rechnen ist, dass entweder der Kassationsgerichtshof, der
meines Wissens über dieses Instrument nicht verfügt, noch der
EGfMR einstweilige Verfügungen erlassen, wenn die Gefahr besteht,
dass erfolterte Aussage verwendet werden, um a) Anträge auf Haftentlassung
abzulehnen oder b) Angeklagte zu langjährigen Haftstrafen zu verurteilen.
Sinnvoller ist es zu schauen, welche
Entscheidungen zu diesem Punkt sowohl in der nationalen als eben auch der
europäischen "Revisionsinstanz" nach einem Urteil (bzw. dem Ende eines
unfairen Verfahrens) ergangen sind.
Wichtig ist dabei zu bedenken, dass
sowohl der Kassationsgerichtshof als auch der EGfMR keine Berufungsinstanzen
sind. Während der Kassationsgerichtshof direkt an die 1. Instanz zurückverweisen
und als obere Instanz bestimmte Vorgaben für die Wiederaufnahme des
Verfahrens machen kann, steht dem EGfMR auch diese Kompetenz nicht zu.
a. Der
Kassationsgerichtshof
aa. Lange Verfahrensdauer
Zunächst einmal sollte festgehalten
werden, dass der Kassationsgerichtshof eine Instanz ist, die mit für
die lange Dauer der Verfahren verantwortlich ist. Dies ist ein Verstoß
gegen Artikel 5, Absatz 3 der EMRK. Häufig warten die Betroffenen
(selbst wenn sie sich in Haft befinden) nach dem Urteil des erstinstanzlichen
Gerichts ein Jahr und länger auf eine Entscheidung des Kassationsgerichtshofs.
Viele Verfahren werden aus banalen Gründen, wie unvollständige
Einträge im Einwohnerregister oder fehlende Unterschriften unter ein
Dokument, an die erste Instanz zurückverwiesen, wo die Verfahren zuvor
schon etliche Jahre gedauert haben.
Nehmen wir als Beispiel das Verfahren
gegen Lokman Külter (Unterpunkt zu Fall 9). Er wurde im Mai 1992 festgenommen.
Die 2. Kammer des SSG Diyarbakir brauchte sechs Jahre, bevor sie ihn am
3. Juli 1998 zu 45 Monaten Haft verurteilte. Der Kassationsgerichtshof
befand mehr als ein Jahr darauf (am 14.10.1999), dass der Angeklagte wegen
Mordes zu verurteilen sei. Nachdem die 2. Kammer des SSG Diyarbakir zur
5. Kammer des Landgerichts Diyarbakir geworden war, wurde am 29. Dezember
2004 (im Sinne des Kassationsgerichtshofs) auf eine lebenslange Haftstrafe
entschieden. Dieses Mal war der Kassationsgerichtshof schneller, kam aber
zu einer völlig anderen Entscheidung, d. h. er fand Widersprüche
in den Beweisen. Die 5. Kammer des Landgerichts Diyarbakir verhandelte
erneut und vermutlich im Oktober 2005 wurde der Angeklagte freigesprochen
und aus der Haft entlassen. Zwischenzeitlich war der Betroffene wohl auf
freiem Fuß gewesen, aber erst nach 13 Jahren und fünf Monaten
wurde hier "Recht" gesprochen. (Auch der EGfMR hat sich mit diesem Verfahren
befasst. Da es aber zu einer gütlichen Einigung kam, ist nicht zu
erkennen, welche Ansicht das Gericht im Falle einer Entscheidung vertreten
hätte, d. h. welche Verstöße gegen die EMRK festgestellt
worden wären).
ab. Aufhebung von Urteilen wegen
Ermittlungen bei Foltervorwürfen
Ein vielleicht unerwartetes Resultat
meiner Recherche ist das "Aufdecken" von gleich drei Verfahren (auf die
durchnummerierten Beispiele bezogen: zwei Verfahren) von 18, in denen gesagt
werden kann, dass der Kassationsgerichtshof die Urteile aufhob, indem er
den Umgang der erstinstanzlichen Gerichte mit Foltervorwürfen kritisierte.
Ausschlaggebend dabei war, dass zum Zeitpunkt der Urteilsfindung Prozesse
gegen mögliche Folterer (von zumindest einem Teil) der Angeklagten
anhängig waren. Es sind neben den Fällen 6 und 7 auch der im
Unterpunkt zu Fall 6 geschilderte Fall von Asiye Zeybek Güzel. In
ihrem Fall kam der Kassationsgerichtshof zu dieser Ansicht, obwohl in der
Türkei kein Verfahren anhängig war, sondern (lediglich) eine
Beschwerde vor dem EGfMR zur Entscheidung anstand.
Dies ist sicherlich eine positive
Entwicklung, zumal (bis auf die Ausnahme einer ähnlichen Entscheidung
im Jahre 1998 im Fall der Jugendlichen von Manisa (1)
mir solche Entscheidungen vor 2003 nicht bekannt sind. Ein Garant dafür,
dass erfolterte Aussagen nicht (mehr) als Beweismittel akzeptiert werden,
können diese (und sicherlich vorhandene Parallelentscheidungen) aber
nicht sein, zumal es nur in den seltensten Fällen gelingt, Ermittlungen
zu den Foltervorwürfen einzuleiten, bzw. es noch seltener der Fall
ist, dass sich vermeintliche Folterer vor Gericht verantworten müssen.
Es sollte dabei berücksichtigt
werden, dass das Verwertungsverbot von erfolterten Aussagen in der Türkei
spätestens seit 1988 galt. In dem Jahr wurde die UN Anti-Folter-Konvention
ratifiziert, und nach Artikel 90 der Verfassung sind international anerkannte
Normen als nationales Recht zu betrachten. Im Jahre 1992 gab es die Erweiterung
des Artikels 135 alte StPO mit einem ausdrücklichen Verbot der Verwertung
von Beweisen, die mit unerlaubten Verhörmethoden aufgenommen wurden.
Der Kassationsgerichtshof hat also mehr als zehn Jahre gebraucht, bis er
ansatzweise diese Bestimmung in die Urteilsfindung einbezog.
Nur wenn ein medizinisches Gutachten
die Folter bestätigt (in aller Regel durch äußerlich sichtbare
Spuren) und die mit Augenbinden verhörten Folteropfer ihre Peiniger
identifizieren können und deshalb ein Verfahren eröffnet wird,
würde der Kassationsgerichtshof (in seiner jetzigen Rechtssprechung)
fordern, dass der Ausgang des Verfahrens abgewartet werden muss, bevor
die mutmaßlich gefolterten Beklagten verurteilt werden. Mit anderen
Worten würde der Kassationsgerichtshof nur dann von "erfolterten"
Aussagen sprechen, wenn es zur Verurteilung von Folterern kommt, die allerdings
(immer noch) meistens straffrei ausgehen.
ac. Weitere Fälle
Bei der Suche nach Entscheidungen
des Kassationsgerichtshofs, in denen das Wort "Folter" (bzw. verbotene
Verhörmethoden) vorkam, habe ich ein 4. Urteil aus der Zeit nach 2003
gefunden, mit dem das Gericht der ersten Instanz (SSG Istanbul) aufgefordert
wird, das Ergebnis von Ermittlungen zu Foltervorwürfen abzuwarten,
bevor es ein Urteil fällt. Hier geht es um Personen, die im September
2002 in Istanbul festgenommen worden waren. In der Presse wurde von elf
HADEP-Mitgliedern gesprochen, die der PKK/KADEK angehören sollen.
Der Kassenwart Tayfun Turgut sei beim Verlassen der Parteibüros in
Bagcilar festgenommen worden, während Süleyman Kiliç,
Mehmet Kurt, Hamit Bülbül, Yasin Savci, Sacibe Sincar, Nezir
Alpaydin, Abdurrahman Özer, Halef Dayan, Ramazan Atabey und Bilal
Turgut nach Hausdurchsuchungen inhaftiert wurden. Tayfun Turgut wurde kurz
darauf, Hüseyin Atabey, Sacibe Sincar, Nezir Alpaydin, Bilal Turgut
und Hamit Bülbül am 19. September wieder freigelassen. Ramazan
Atabey, Yasin Savci, Abdurrahman Özer, Halef Dayan und Süleyman
Kiliç kamen in U-Haft. Über den anschließenden Prozess
habe ich nichts gefunden, aber anscheinend wurde Ramazan Atabey als Mitglied
beschuldigt, während die anderen Angeklagten Unterstützungshandlungen
vorgenommen haben sollen. Des Weiteren entnehme ich der Entscheidung des
Kassationsgerichtshofs vom 27.04.2004, dass nur der Angeklagte Ramazan
(im Entscheid werden stets nur die Vornamen genannt) verurteilt und die
anderen Angeklagten freigesprochen wurden. Der Kassationsgerichtshof bestätigte
die Freisprüche, da die Beweise weder qualitativ noch quantitativ
für eine Verurteilung ausreichten. In Bezug auf den Angeklagten Ramazan
sei keine ausreichende Beweisaufnahme erfolgt, weil das Ergebnis der Ermittlungen
zu den Foltervorwürfen des Angeklagten Ramazan nicht abgewartet wurde.
Hier könnte es sein, dass es nur ein "Geständnis" von einem Angeklagten
gab (neben den als "materiell" geltenden Beweismitteln wie einschlägige
Publikationen z. B.).
Als "bahnbrechend" wurde ein Urteil
des Kassationsgerichtshofs Mitte 2005 in der Presse vorgestellt. Ich kann
das Urteil nur anhand des Artikels in der Tageszeitung Radikal vom 28.
Juni 2005 referieren, da ich den Fall auf den Seiten des Kassationsgerichtshofs
nicht gefunden habe. Hintergrund war der Mord an einer 22-jährigen
Frau in Sinop im Jahre 2001. Anderthalb Jahre später wurde der Finanzbeamte
Hüseyin Göklerinoglu als Tatverdächtiger verhaftet, nachdem
die Polizei herausgefunden hatte, dass die Frau und er miteinander im Internet
"gechattet" hatten. Das Gericht verhängte eine Strafe von 24 Jahren,
erkannte aber auf "Handlung im Affekt" und reduzierte die Strafe auf 15
Jahre Haft. Im Urteil reagierte das Gericht auf die Foltervorwürfe
in der Art: "Selbst wenn der Angeklagte der geschilderten intensiven Folter
ausgesetzt gewesen sein sollte, so widerspricht es der Lebenserfahrung,
dass er deswegen ein Verbrechen wie Mord gesteht ..." Dabei hatte der Verteidiger
durch die Vorlage von Videoaufnahmen die Behauptung der vernehmenden Polizeibeamten,
dass die Wunden des Angeklagten von dem Versuch der Lynchjustiz bei einem
Ortstermin herrührten, widerlegt.
Im Juni 2005 beschloss die 1. Kammer
des Kassationsgerichtshofs nicht nur, das Urteil aufzuheben und der 1.
Instanz vorzuschreiben, dass er freizusprechen sei, sie ordnete auch Haftentlassung
an. Für das erstinstanzliche Gericht wurde darauf hingewiesen, dass
der Angeklagte zu Beginn der Polizeihaft keine Beschwerden hatte, aber
ihm am Ende der Polizeihaft Läsionen bescheinigt wurden, die zeigten,
dass er Schlägen und Gewalt ausgesetzt war. Daher dürfe das Gericht
nicht über die Foltervorwürfe hinwegsehen. Das auf Video aufgezeichnete
Verhör vom 27.06.2002 bestand anscheinend aus zwei Teilen, wobei in
einem Teil der Beschuldigte anwaltlichen Beistand forderte und darauf entgegnet
wurde, dass das eigentliche Verhör später (aber am gleichen Tage)
stattfinden solle. Dem Angeklagten seien seine Rechte nicht erläutert
worden, es sei kein Anwalt bei der Aufnahme der Aussage anwesend gewesen
und auch das Protokoll des Ortstermins (mit einem Staatsanwalt) entspreche
nicht den Vorschriften des Artikels 135 alte StPO. Materielle Beweise für
die Schuld des Angeklagten seien nicht vorhanden, folgerte das Revisionsgericht.
Der einzige Zeuge sei ein Geisteskranker, der in seiner ursprünglichen
Vernehmung von einem 18-20 Jahre alten Mann in Begleitung der Frau gesprochen
hatte, wobei der Angeklagte 1956 geboren sei.
Auch dies ist sicherlich eine positive
Entscheidung, wobei es bezweifelt werden kann, ob es weit reichende Folgen
(als Musterurteil) auf andere Verfahren haben wird. Es gab nur einen Angeklagten,
bei dem deutliche Spuren von Gewalteinwirkung nach der Polizeihaft offiziell
festgestellt wurden. Es existierten in sich widersprüchliche Aufzeichnungen
von Verhören und es gibt nur einen einzigen (geistig nicht voll zurechnungsfähigen)
Zeugen, dessen Aussage keine klare Zuordnung des Mordes zuließ. Diese
Konditionen (Attest, keine belastende Aussage außer dem eigenen "Geständnis")
treffen auf die wenigsten politischen Fälle zu und daher wird diese
Entscheidung kaum die Bedeutung einer "Grundsatzentscheidung" erlangen.
Etwas deutlicher wurde der Kassationsgerichtshof
in einem Urteil, das ich bei der Suche von Entscheidungen, in denen das
Wort "Folter" (bzw. verbotene Verhörmethoden) vorkam, fand. Der Entscheid
vom 16.02.2004 war in der türkischen Öffentlichkeit unbeachtet
geblieben, obwohl er starke Parallelen zu dem Fall in Sinop aufweist. Über
das Revisionsverfahren hatte anscheinend aber nur die Lokalzeitung "Kocaeli"
(Izmit) am 30.05.2005 berichtet. Hintergrund war ein Mord im Stadtteil
Yenikent (von Izmit) am 21. Februar 2002. Nevzat Demirci war erschlagen
worden und als erste wurde seine Ehefrau Mualla verdächtigt. Dann
aber waren andere "Beweise" aufgetaucht, so dass die Brüder der Ehefrau
mit auf die Anklagebank kamen. Der Bruder Engin Gönül wurde als
Täter zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, während der
Bruder Cengiz Gönül und Mualla Demirci als Helfer zu 16 Jahren
und acht Monaten Haft verurteilt wurden. Der Zeitungsbericht geht nicht
auf das erste Urteil des Kassationsgerichtshofs ein, aus dem ich jetzt
zitieren möchte. Demnach hatte die 2. Kammer des Landgerichts Kocaeli
am 7. März 2003 das angefochtene Urteil gefällt. Nach Lage der
Akte war der Getötete (wie immer) gegen 1 Uhr morgens nach Hause gekommen
und war von der Ehefrau ins Haus gelassen worden. Gegen 10 Uhr teilte die
Ehefrau den Nachbarn mit, dass er tot sei.
Da es nur einen Zeugen (wie alle
anderen Personen im Urteil nur mit Vornamen als "Sezer" genannt) gab, konnte
der Vorfall nicht vollständig aufgeklärt werden. Als Hauptverdächtige
galt Mualla, gegen die am 08.03.2002 eine Anklageschrift erstellt wurde.
Dann aber stellte sich heraus, dass das gemeinsame Kind der Eheleute, Sezer
(geb. 1995), zu Hause gewesen war. Der Onkel (väterlicherseits) Dursun
holte Sezer von seiner Großmutter und ließ ihn das, was er
zur Tat wissen sollte, auf Video schildern. Die Videokassette brachte er
zur Staatsanwaltschaft, der gegen die anderen Angeklagten ermittelte. Auch
vor dem Staatsanwalt soll Sezer am 21.05.2002 ähnliche Angaben gemacht
haben, die vorwiegend die Brüder Cengiz und Engin beschuldigten, wobei
die tödliche Handlung von seinem Onkel (mütterlicherseits) Cengiz
ausgeführt worden sein soll. Die Brüder wurden noch am gleichen
Tag festgenommen und bis zum 24.05.2002 festgehalten. An diesem Tage wollten
die uniformierten Kräfte ihre Aussage aufnehmen, aber die Beschuldigten
nahmen das Recht auf Aussageverweigerung in Anspruch und sagten, dass sie
vor dem Staatsanwalt aussagen wollten. Vor der Aussage beim Staatsanwalt
soll ein Polizeibeamter heimlich ein Gespräch mit Cengiz auf Video
aufgenommen haben, in dem dieser seine Mittäterschaft zugab und Engin
des Mordes beschuldigte. Später sagte Cengiz, dass er dies aus Angst
vor Folter gesagt habe. In allen anderen Stadien des Verfahrens hatten
beide Angeklagten stets ihre Unschuld beteuert.
Der Kassationsgerichtshof kritisierte
das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts wegen seiner mangelnden Würdigung
des Foltervorwurfs. Dort war festgestellt worden, dass die von der Polizei
aufgenommene Kassette im Beisein eines Gutachters und den Vertretern der
Parteien angeschaut worden sei. Man habe gesehen, dass der Betroffene ohne
Druck begonnen habe zu reden und er nach 5-10 Minuten die Ruhe einer Person
ausgestrahlt habe, die inneren Frieden gefunden habe. Außerdem habe
der Inhalt mit den von Sezer gemachten Angaben im Wesentlichen übereingestimmt.
Daraus folgert der Kassationsgerichtshof,
dass die angebliche Aussage des Angeklagten zum wesentlichen Beweismittel
gemacht wurde und zitiert den zu dem Zeitpunkt gültigen Artikel 135/a
alte StPO (verbotene Verhörmethoden). Um eine Aussage als Beweis verwerten
zu können, müsse sie aus freien Stücken (eigenem Willen)
abgegeben worden sein. Hier aber sei der Angeklagte, der klargestellt hatte,
dass er keine Aussage machen wolle, hintergangen und daran gehindert worden,
aus freien Stücken eine Aussage zu machen. Diese Aussage sei also
nicht zu verwerten und das Urteil habe sich mit den sonstigen Beweisen
zu begnügen. So hätte das Gericht prüfen sollen, ob die
Angeklagten, wie vom Zeugen behauptet, in jener Nacht das Telefon im Hause
benutzten. Außerdem hätte den Angeklagten nach einem veränderten
Tatvorwurf eine zusätzliche Frist für die Verteidigung eingeräumt
werden sollen.
Nach der Auflösung des Urteils
gab es nach dem Zeitungsbericht vom 30.05.2005 eine erneute Verhandlung
vor der 2. Kammer des Landgerichts Kocaeli, in der die Angeklagten nun
zu je zehn Jahren Haft verurteilt wurden. Dieses Urteil ging erneut an
den Kassationsgerichtshof, der dieses Mal einen Schritt weiter ging und
neben Auflösung des Urteils auch die Haftentlassung für die Brüder
anordnete. In der Verhandlung vom 29.05.2005 folgte das Gericht dann der
Vorgabe und sprach die Brüder frei, während Mualla Demirci eine
Strafe von zehn Jahren Haft erhielt.
Diese Entscheidung geht insofern
über den Entscheid zum Urteil in Sinop hinaus, als dass es anscheinend
keine ärztlichen Gutachten über erlittene Folter gab (dieser
Punkt wäre sonst wohl erwähnt worden). Der zentrale Punkt wird
hier gewesen sein, dass eine Videoaufnahme ohne Einwilligung des Verdächtigen
gemacht wurde.
In diesen zwei unpolitischen Verfahren
ist eine etwas ausführlichere Auseinandersetzung des Kassationsgerichtshofs
zu erfolterten Aussagen zu finden als in den politischen Fällen. Das
erste Urteil wurde dabei vor der gleichen Kammer gefällt, welche die
meisten politischen Fälle beurteilt (die 9. Kammer). Das andere Urteil
stammt von der 1. Kammer des Kassationsgerichtshofs. Neben der Einschränkung,
dass es in beiden Verfahren nur um das "Geständnis" einer Person ging,
sollte auch nicht vergessen werden, dass in diesen (Mord)Verfahren Unschuldige
mehr als drei Jahre in Haft verbrachten, bevor "Recht" gesprochen wurde.
Die während der Erstellung
des Gutachtens ergangene Entscheidung des Kassationsgerichtshofs zum Fall
18 (Presse vom 01.12.2005, Entscheid deshalb vom 30.11.2005) geht nicht
auf den Vorwurf ein, dass erfolterte Aussagen als Beweis verwertet worden
sein könnten. Ich kann an den Zeitungsmeldungen auch nicht erkennen,
dass das obere Gericht die Ablehnung der Beweisanträge der Verteidigung
moniert hätte. Die Aufhebung des Urteils der 14. Kammer des Landgerichts
Istanbul erfolgte aus rein formalen Gründen. Während der Staatsanwalt
am Kassationsgerichtshof lediglich die Anwendung des neuen TStG forderte,
(2) bemängelte das oberste Gericht außerdem,
dass eine Seite des Urteils von einem Richter nicht unterschrieben wurde
und dass die Beweise in den Verfahren gegen andere Organisationsmitglieder
vor dem (aufgelösten) SSG nicht gemeinsam bewertet wurden. (3)
In jedem Fall aber hat der Kassationsgerichtshof die Gründe, die dieses
Verfahren zu einem unfairen Verfahren im Sinne der EMRK machen, nicht einmal
angesprochen.
b. Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte (EGfMR)
ba. Allgemeines
Nachdem die Türkei 1987 die
Individualbeschwerde und 1990 die obligatorische Zuständigkeit des
EGfMR anerkannte, hat sich dieses Instrument einer steigenden Beliebtheit
unter den Bürgern und Bürgerinnen der Türkei erfreut. Im
Jahre 2002 kamen 3.879 Beschwerden aus der Türkei; 2003 waren es 2.944
und im Jahre 2004 wurden 3.491 Beschwerden in Straßburg eingereicht.
(4) Nur Polen und Russland hatten mehr Beschwerden
zu verzeichnen (wobei es sich hier evtl. um so genannte Sammelklagen gehandelt
haben könnte). Mit 156 Entscheidungen (von 621 insgesamt) traf das
Gericht im Jahre 2004 die meisten Beschlüsse zur Türkei.
Die hohe Anzahl von Verfahren aus
der Türkei zeugt zum einen vom Misstrauen der Bürger und Bürgerinnen
in die eigene Justiz bzw. das Empfinden, vor den nationalen Instanzen ungerecht
behandelt worden zu sein, bedeutet aber auch Vertrauen in eine Instanz,
die sich bislang eher zögerlich mit einigen heiklen Fragen der Menschenrechte
in der Türkei befasst hat. So wurde meines Wissen bisher in keinem
Verfahren, in dem ein Verstoß nach Artikel 14 der EMRK (Diskriminierungsverbot)
angemahnt wurde, eine Diskriminierung der Kurden in der Türkei festgestellt.
Die größte Schwäche
des Instruments der Individualbeschwerde ist sicherlich die lange Dauer
der Verfahren. Betroffene, die bis zur Ausschöpfung aller rechtlichen
Mittel im eigenen Lande schon jahrelang gewartet haben, können erst
dann (in einer Frist von sechs Monaten) Beschwerde beim EGfMR einlegen.
Hier muss das Verfahren zunächst einmal zugelassen werden, bevor der
Staat, in dem Rechte nach der EMRK verletzt worden sein sollen, zu einer
Stellungnahme aufgefordert wird. Diese Kommunikation zwischen dem Gericht
und den Parteien kann ebenfalls Jahre dauern, bevor dann ein Termin zur
Urteilsfindung anberaumt wird.
bb. Wiederaufnahme des Verfahrens
Ein weiteres "Manko" ist, dass der
EGfMR keine Berufungsinstanz ist. Während der Kassationsgerichtshof
direkt an die 1. Instanz zurückverweisen und als obere Instanz bestimmte
Vorgaben für die Wiederaufnahme des Verfahrens machen kann, steht
dem EGfMR diese Kompetenz nicht zu. Sobald eine Verletzung von Menschenrechten,
wie sie in der EMRK verbrieft sind, festgestellt wurde, wird in der Regel
auf Entschädigung erkannt. Die Türkei hat 1990 zwar die Rechtssprechung
des EGfMR als bindend akzeptiert, aber erst im Jahre 2002 die Möglichkeit
geschaffen, dass Verfahren, in denen eine Entscheidung gegen die Türkei
ergangen ist, wieder aufgenommen werden können. Nach Artikel 311(2)
der neuen StPO gilt dies jedoch nur für Entscheidungen des EGfMR,
die zum Stichtag des 04.02.2003 anhängig waren.
Auch an diesem Punkt darf wohl behauptet
werden, dass die Türkei diese Veränderungen nicht gemacht hätte,
wenn mit dem Verfahren gegen die DEP-Abgeordneten (s. o., Kap. III 3 d)
nicht ein "harter Brocken" auf dem Weg zum Beginn der Beitrittsverhandlungen
zur Mitgliedschaft in der EU im Wege gestanden hätte. Im Endeffekt
sind die Abgeordneten aber nur knapp ein Jahr vor ihrer regulären
Haftentlassung aus der (in den Augen der türkischen Richter Strafhaft,
aber nach internationalem Recht wohl eher) Untersuchungshaft entlassen
worden, d. h. sie mussten auf diesen Schritt mehr als zehn Jahre warten.
In einigen der von mir dargestellten
Beispiele dürften Entscheidungen des EGfMR entweder schon "zu spät"
ergangen sein (vgl. Fall 17) oder aber die Lage der Betroffenen nur unwesentlich
ändern, wenn einmal eine Entscheidung gefällt werden sollte.
So kann im Fall 1 davon ausgegangen werden, dass nach dem Bekanntwerden
des neuen Strafgesetzes (September 2004) schon vor dem zunächst erwarteten
Datum des Inkrafttretens (1. April 2005) der Verurteilte gegen Ende des
Jahres 2004 aus der Haft entlassen worden ist, da er nach den neuen Bestimmungen
75% einer sechs Jahre und drei Monate betragenden Haftstrafe zu verbüßen
hatte. Sollte also irgendwann einmal über die am 07.12.2001 beim EGfMR
eingegangene und unter der Nummer 7930/02 registrierte Beschwerde entschieden
werden, dann hat der Betroffene außer einer Entschädigung nichts
zu erwarten. Er kann nicht einmal die Wiederaufnahme seines Verfahrens
beantragen, weil a) nach dem 04.02.2003 entschieden wurde und b) die Beschwerde
vor diesem Datum eingereicht wurde.
bc. Weitere Fälle
Um näher auf die hier vorliegende
Fragestellung einzugehen, sollte ich erst einmal sagen, dass mir keine
Entscheidungen des EGfMR (bis auf die Beschwerde von Abdullah Öcalan)
bekannt, in denen es um Verfahren vor einem SSG ging, in denen das Urteil
nach dem Ausscheiden der Militärrichter gefällt wurde. Für
die Verfahren, die unter Teilnahme eines Militärrichters geführt
wurden, konnte es sich das Gericht in Straßburg einfach machen und
die Anwesenheit eines Militärrichters als das Kriterium benennen,
das die Verfahren unfair werden ließ. Nach der Feststellung, dass
diese Verfahren vor einem Gericht stattfanden, das nicht unabhängig
und unparteilich genannt werden kann, wurde meistens auf eine Überprüfung
der anderen Beschwerdepunkte nach Artikel 6 der EMRK verzichtet. Hier bilden
das Verfahren zu Abdullah Öcalan, die Abgeordneten der Demokratiepartei
DEP und ein Verfahren, in dem ursprünglich die Todesstrafe verhängt
wurde, Ausnahmen (weil hier weitergehende Feststellungen getroffen wurden).
Der Fall
Hulki Günes
In diesem Verfahren spielten "erfolterte
Aussagen" eine Rolle, so dass ich darauf näher eingehen möchte.
Von diesem Fall habe ich erst im Dezember 2005 Kenntnis erlangt. Grund
war eine Pressemitteilung des Europarates zu einer Resolution des Ministerrates
vom 30.11.2005. Die Türkei wurde darin aufgefordert, das Verfahren
gegen Hulki Günes wieder aufzunehmen.
Ein paar Einzelheiten aus diesem
Verfahren und die Entscheidung des EGfMR fasse ich aus dem englischen Entscheid
vom 19.06.2003 zusammen. (5) Der 1964 geborene Hulki
Günes war am 19. Juni 1992 in Varto (Provinz Mus) festgenommen worden.
Er wurde beschuldigt, an einer bewaffneten Auseinandersetzung mit den Sicherheitskräften
fünf Tage zuvor beteiligt gewesen zu sein, bei der ein Soldat umgekommen
und zwei Soldaten verletzt worden waren. Bei seiner Festnahme war er unbewaffnet.
Er soll zu Beginn der Polizeihaft (bzw. Haft bei der Gendarmerie) laut
einem Arztbericht Abschürfungen im Gesicht, auf der Brust und dem
Rücken gehabt haben. Bis zum 4. Juli war er bei der Gendarmerie in
Haft und wurde dort verhört. Am Vortage wurde er zwei Mal untersucht.
Im ersten Attest wurden ihm verschorfte Abschürfungen am Brustbein
und im zweiten Attest am gleichen Tag wurden ihm verschorfte Abschürfungen
am Brustbein, sowie Abschürfungen am Rückgrat und in der Lendengegend
bescheinigt. In zwei weiteren Attesten wurde das Ergebnis der 2. Untersuchung
bestätigt.
Vor dem Haftrichter erhob Hulki
Günes am 4. Juli 1992 Foltervorwürfe. Ermittlungen fanden aber
erst statt, nachdem der EGfMR den Fall der türkischen Regierung vorgelegt
hatte. Die Ermittlungen wurden zwei Mal eingestellt (15.10.1998 und 25.08.1999).
Am 30.10.1992 hatte das Gericht
entschieden, dass die Aussagen von drei Soldaten, die den Angeklagten angeblich
identifiziert hatten, im Rahmen der Amtshilfe eingeholt werden könnten
und schickte dazu Fotos des Angeklagten an ein (anderes) Gericht. In der
Verhandlung vom 15.01.1993 sagte der inzwischen im Zusammenhang mit dem
gleichen Vorfall verhaftete Herr Erdal aus, dass er den Angeklagten nicht
kenne. Als "Überläufer", d. h. jemand, der in den Genuss des
Reuegesetzes kommen wollte, räumte er aber ein, an dem Gefecht vom
14.06.1992 beteiligt gewesen zu sein.
Im Plädoyer forderte der Staatsanwalt
am 3. September 1993 Freispruch aus Mangel an Beweisen. Er wies dabei auf
wesentliche Widersprüche in den Aussagen der Belastungszeugen hin.
So sollten die Angreifer (der PKK) einer Aussage zufolge alle vermummt
gewesen sein, in einer anderen Aussage soll nur der Angeklagte nicht vermummt
gewesen sein.
Am 24.12.1993 kamen neue "Beweise"
zur Akte. Geschwister des Angeklagten, die unter dem Verdacht, Angehörige
der Organisation (PKK) zu sein, festgenommen worden waren, hätten
ausgesagt, dass auch Hulki Günes der Organisation angehört habe.
Die Verteidigung erhielt Zeit, um sich auf die veränderte Rechtslage
vorzubereiten, der Staatsanwalt aber fand schon sechs Tage später
den Angeklagten "schuldig im Sinne der Anklage" und forderte eine Bestrafung
nach Artikel 125 altes TStG.
Das Gericht verhängte darauf
hin die Todesstrafe nach einer Sitzung am 11.03.1994. Die Todesstrafe wurde
in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Am 16.11.1994 bestätigte
der Kassationsgerichtshof das Urteil.
Die Beschwerde des Angeklagten wurde
am 29.05.1995 an die (damals noch existierende) Europäische Kommission
für Menschenrechte gerichtet, am 01.11.1998 an das Gericht weitergeleitet
und am 09.10.2001 für zulässig erklärt. Die Beschwerde berief
sich auf eine Verletzung von Artikel 3 der EMRK, wobei der Beschwerdeführer
von Aufhängen am Palästinenser-Haken, Stromstößen
und Schlägen auf verschiedene Körperteile sprach. Die Beschwerde
war auch mit einem Verstoß gegen Artikel 6 EMRK begründet worden.
Neben der Teilnahme eines Militärrichters an dem Verfahren wurde kritisiert,
dass in der Hauptverhandlung keine Zeugen gehört wurden, die den Angeklagten
belastet hatten.
Angesichts der vorhandenen Arztberichte
folgerte der EGfMR, dass harte Foltermethoden nicht mit Sicherheit angenommen
werden könnten und in diesem Fall von unmenschlicher und erniedrigender
Behandlung gesprochen werden müsse. Das sei ein Verstoß gegen
Artikel 3 EMRK.
In Bezug auf Artikel 6 kam das Gericht
aufgrund der Anwesenheit eines Militärrichters zu der Schlussfolgerung,
dass es sich nicht um ein unabhängiges und unparteiliches Gericht
gehandelt habe.
In diesem Fall hat sich das EGfMR
aber nicht mit dieser Feststellung begnügt. So wurde die Bewertung
der Zeugenaussagen kritisiert. Hulki Günes hatte stets bestritten,
dass drei Soldaten ihm nach der Festnahme gegenübergestellt wurden
und ihn identifizierten. Diese "fragwürdigen" Belastungszeugen seien
nicht vor Gericht gehört worden und sollen ihn nur anhand von Fotos
identifiziert haben. Der EGfMR bedauerte, dass das SSG Diyarbakir keinen
Kommentar zu der Art der Aufnahme eines "Geständnisses" des Angeklagten
abgegeben hatte: Zum Zeitpunkt dieses "Geständnisses" sei der Beschwerdeführer
nicht durch einen Anwalt vertreten gewesen. Unter diesen Umständen
hätten die Belastungszeugen (unbedingt) in der Hauptverhandlung angehört
werden müssen. Deshalb wurde auf einen Verstoß gegen die Absätze
1 und 2 des Artikel 6 EMRK erkannt. Das EGfMR hat sich also nicht mit der
Frage befasst, ob erfolterte Aussagen als Beweis verwendet wurden.
Bislang hat der Entscheid dem nach
mehr als 13 Jahren immer noch inhaftierten Beschwerdeführer nicht
zu seinem "Recht" verholfen. Immerhin vergingen sechs Jahre, bevor das
EGfMR das Verfahren zuließ.
Dieser Fall ist vom Europarat sozusagen
als "Testfall" auserkoren worden. An ihm wird sich entscheiden, ob die
Türkei auch die Wiederaufnahme von Verfahren zulässt, in denen
der EGfMR nach dem 04.02.2003 auf einen Verstoß gegen Artikel 6 des
EMRK entschieden hat, die Beschwerde jedoch vor dem 04.02.2003 eingereicht
wurde. Nach einem Bericht in der Tageszeitung "Radikal" vom 11. Mai 2005
sollen dies ca. 90 Verfahren sein, von denen 30 schon dem Delegiertenkomitee
im Europarat vorliegen. Im Vordergrund der Debatte steht dabei sicherlich
das Verfahren gegen Abdullah Öcalan bzw. die Frage, ob ihm ein Recht
auf die Wiederaufnahme seines Verfahrens eingeräumt wird oder nicht.
Der Fall
Metin Dikme
Schon vor diesem Urteil hatte sich
der EGfMR mit einem ähnlichen Fall (sogar ausführlicher) auseinandergesetzt.
Über die Beschwerde des Metin Dikme wurde am 11.07.2000 entschieden.
Dem als vermeintlichen Angehörigen von Dev-Sol in Istanbul am 10.
Februar 1992 festgenommenen Metin Dikme wurde aufgrund von Attesten vom
EGfMR beschieden, dass er gefoltert worden sein. Die Frage eines unfairen
Verfahrens entschied das Gericht jedoch nicht, weil nach der Aufhebung
(am 07.04.1999) eines ersten Urteils des SSG Istanbul (ergangen am 26.06.1998)
auf Todesstrafe nach Artikel 146 altes TStG ein zweites Urteil noch nicht
ergangen sei. (6)
Die Europäische Kommission
für Menschenrechte, die auf einen Verstoß gegen Artikel 6/2
der EMRK entschieden hatte, weil bei der polizeilichen Aussage kein Anwalt
zugegen war, wurde vom Gericht kritisiert, da sie unter den gegebenen Umständen
diesen Teil der Beschwerde nicht hätte zulassen dürfen. Es könne
nicht allein wegen fehlenden Rechtsbeistandes im Stadium der Ermittlungen
gefolgert werden, dass ein Verfahren unfair sei, sondern es müsse
eine Gewichtung der unter diesen Umständen entstandenen Beweise in
Bezug zur gesamten Beweislage vorgenommen werden.
Auch hier hat das Urteil des EGfMR
kaum Auswirkungen auf das laufende Verfahren gehabt, bis auf die Tatsache,
dass der Kassationsgerichtshof dem erstinstanzlichen Gericht vorschrieb,
die Entscheidung des EGfMR zu berücksichtigen. Immerhin wurde Metin
Dikme Ende 2004 aus der Haft entlassen. Nach einem Bericht in der Tageszeitung
Sabah erfolgte die Entlassung, da in der neuen StPO, die im Dezember 2004
verabschiedet wurde und am 1. April 2005 in Kraft treten sollte, wäre
die Höchstdauer der Untersuchungshaft in politischen Verfahren auf
maximal 10 Jahre begrenzt worden.
Die Fälle
Remziye Dag, Mustafa Yasar und Emrullah Karagöz
Wie schwer sich das EGfMR immer
noch tut, gegen die Türkei auf Folter zu erkennen, zeigt ein Beispiel
aus der neueren Zeit. Am 8. November 2005 fällte das EGfMR mehrere
Entscheidungen, u. a. auch zur Türkei. Mit zwei separaten Beschwerden
hatten sich Remziye Dag, Mustafa Yasar und Emrullah Karagöz über
Folter in Diyarbakir im Oktober und November 2001 und eine zu lange Haftdauer
beschwert. Sie waren nach dem Dekret 430 (mehrfach) aus der U-Haft geholt
worden und erneuten Verhören bei der Gendarmerie unterworfen worden.
Bei jeder "Verlängerung" (zu jener Zeit jeweils für weitere zehn
Tage möglich) waren sie untersucht worden, ohne dass Verletzungen
festgestellt wurden. Die Gesamtdauer der Haft bei der Gendarmerie hatte
bei R. Dag 18 Tage und bei M. Yasar und E. Karagöz 40 Tage betragen.
Das EGfMR entschied, dass Artikel
5/1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und Artikel 5/4 der EMRK (alsbaldige
Vorführung vor einen Richter) verletzt worden seien. Es entschied
aber nicht auf Verletzung von Artikel 3 der EMRK (Folterverbot), weil die
Folter nicht über jeden vernünftigen Zweifel hinaus erwiesen
sei (keine Atteste und angeblich keine Beschwerden der Opfer gegenüber
den untersuchenden Ärzten).
Die Beschwerdeführer hatten
erfolglos Strafanzeige in der Türkei gestellt und sich danach an den
EGfMR gewandt. In den Strafanzeigen hatten sie u. a. über folgende
Foltermethoden berichtet: Frau Dag beschwerte sich über Schläge,
Drohungen, Beleidigungen und Entziehung von Nahrung. Herr Yasar sprach
von Schlägen, Aufhängen am so genannten Palästinenser-Haken,
Stromstößen und Abspritzen mit kaltem Wasser. Herr Karagöz
nannte Schläge, Abspritzen mit kaltem Wasser und das Quetschen der
Hoden. Die Staatsanwaltschaft in Diyarbakir hatte die Ermittlungen wegen
Folter aus Mangel an Beweisen eingestellt.
Eine viel bessere "Beweislage" haben
die meisten Folteropfer in der Türkei nicht. Wenn aber auch der EGfMR
nur dann bereit ist, die Anwendung von Folter zu konstatieren, wenn medizinische
Berichte vorliegen, wird es in der Mehrzahl der Fälle nicht auf ein
unfaires Verfahren erkennen, selbst wenn "erfolterte Aussagen" als Beweis
verwendet wurden.
c. Fazit
Bei drohender oder bereits erfolgter
Verwendung von erfolterten Aussagen/Geständnissen ist weder vor dem
Kassationsgerichtshof noch vor dem EGfMR effektiver Rechtsschutz zu erlangen.
Mir sind keine Fälle bekannt,
in welchen ein Eilrechtsantrag an den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte den weiteren Lauf der Verhandlung beeinflusst hat. Folgt
man der Entscheidung im Falle der Beschwerde von Metin Dikme, so wird das
EGfMR solange nicht über die Fairness eines Verfahrens entscheiden,
bis das Urteil in der Türkei rechtskräftig ist.
Es hat (zumindest seit 2003) einige
Entscheidungen des Kassationsgerichtshofs gegeben, in denen Urteile an
die erste Instanz zurückverwiesen wurden, weil schwebende Verfahren
zum Vorwurf der Folter existierten. Das ist jedoch keine Anweisung an die
untergeordneten Gerichte, Foltervorwürfe selber zu ergründen.
Dies aber müsste geschehen, um eine Entscheidung über die Verwertbarkeit
von erfolterten Aussagen machen zu können.
Fußnoten:
(1) Hier kann ähnlich wie im
Falle der Abgeordneten in Ankara (siehe oben) argumentiert werden, dass
der Fall der Jugendlichen von Manisa national und international so prominent
war, dass eine andere Entscheidung des Kassationsgerichtshofs zu einer
Welle von Empörung geführt hätte.
(2) Für mich unverständlich,
denn in den Strafbestimmungen, die in diesem Verfahren zum Tragen kamen,
ist das neue TStG eher von Nachteil, da neben der erschwerten lebenslangen
Haft für "Hochverrat" (in beiden Gesetzen) nach dem neuen Gesetz jedes
Delikt (wenn es solche gibt) noch einmal gesondert bestraft werden muss.
(3) Dieser Satz ist interpretationsbedürftig.
Entweder es heißt, dass nicht alle Verfahren gegen andere Personen
aus dieser Gruppierung berücksichtigt wurden, oder aber, dass die
so genannten materiellen Beweise (Waffen etc.) nicht gesondert gewürdigt
wurden.
(4) Vgl. "Survey of Activities 2004"
auf der Internetseite http://www.echr.coe.int/ECHR/EN/Header/Reports+and+Statistics/Reports/Annual+surveys+of+activity/
(5) http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/portal.asp?sessionId=4847369&skin=hudoc-en&action=request
(6) Im Juli 2004 wurde ein zweites
Urteil des SSG Istanbul vom 23.09.2003 vom Kassationsgerichtshof aufgehoben,
da die Entscheidung des EGfMR nicht berücksichtigt worden sei.