Rechtsstaatlichkeit politischer Verfahren(Auswertung) Recherchiert
im Oktober 2005
Fertigstellung:
Januar 2006
In diesem Dokument erfolgt der Sprung jeweils zur korrekten Fussnote und beim Klicken auf die Zahl wieder an die ursprüngliche Stelle (dank openoffice). Es
gibt folgende Unterpunkte:
2.1.
Waffengleichheit
2.2.
Prozesskostenhilfe
2.3.
Dolmetscherdienste
2.4.
Länge der Verfahren
Fußnoten
a.
Rückblick
Nach
dem Militärputsch vom 12. September 1980[1]wurden
bis zum 1. April 1984 politische Gefangene vor Militärgerichten angeklagt.
Die Frage der Rechtsstaatlichkeit dieser Verfahren, in denen häufig
mehrere hundert Angeklagte waren (in einem Verfahren mehr als 1.000), braucht
an dieser Stelle nicht diskutiert zu werden.[2]
Etliche Richter, die sich an den Militärgerichten durch besondere Härte ausgezeichnet hatten, sollen von den Staatssicherheitsgerichten (SSG), die am 1. April 1984 tätig wurden, übernommen worden sein. Im Juni 1999 wurden die Militärrichter aus den Kammern der SSG entfernt, und im Juni 2004 wurden die Staatssicherheitsgerichte umbenannt. Auf die Rechtsstaatlichkeit der Verfahren vor diesen Gerichten haben diese Änderungen praktisch keine Auswirkungen gehabt. Neben der mangelnden Unabhängigkeit der Richter (die Internationale Juristenkommission ICJ kritisiert dabei auch die Ernennung der zivilen Richter durch einen Teil der Exekutive) ist es vor allem die lange Dauer der Verfahren, die im Widerspruch zur EMRK stehen. Von Menschenrechtlern aber wird immer wieder der Punkt der Verwertung von erfolterten Aussagen als das entscheidende Kriterium genannt, wenn es um die Rechtsstaatlichkeit dieser Verfahren geht. Aus dem Grunde sollte für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auch betrachtet werden, wie es um die Möglichkeit des Erpressens solcher Aussagen unter Folter bestellt ist. Dazu möchte ich festhalten: Zwischen dem 07.11.1980 und dem 05.09.1981 galt eine maximale Dauer der incommunicado-Haft bei der Polizei oder der Gendarmerie von 90 Tagen. Bis zum Mai 1985 betrug die maximale Dauer der Haft 45 Tage. Sie wurde im Juni 1985 auf 15 Tage reduziert. In Gebieten unter dem Ausnahmezustand durften Gefangene 30 Tage ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten werden. Erst ab März 1997 wurden die Fristen weiter verringert und die Möglichkeit des Rechtsbeistands auch für politische Gefangene eingeräumt. Mit anderen Worten bestand zwischen 1985 und 1997 die Möglichkeit, die späteren Angeklagten an den SSG über zwei, im Ausnahmezustand gar vier Wochen bei der politischen Polizei[3](oder auch der Gendarmerie) ohne Kontakt zur Außenwelt und/oder Rechtsbeistand zu verhören. Wenn dies mit der heutigen Lage von einer maximalen Haftdauer von vier Tagen und dem Anspruch auf Rechtsbeistand von Beginn an verglichen wird, so wird deutlich, dass es bis 1997 "einfacher" war, in Polizeihaft ein Geständnis zu erpressen, als heute. Für die Zeit zwischen 1997 und 2003 sollte hinzugefügt werden, dass Anspruch auf Rechtsbeistand erst nach 48 Stunden bestand und -wenn es gelang, ein Geständnis zu erpressen- eine Unterschrift unter den vermeintlichen Verzicht auf Rechtsbeistand mit "Leichtigkeit" erzwungen werden konnte und wurde. b. Ausblick Seit dem 1. Juni 2005 besteht die Pflicht, anwaltlichen Beistand zu haben, d. h. Aussagen bei den uniformierten Kräften dürfen nur dann als Beweis verwendet werden, wenn ein Anwalt bei der Aufnahme der Aussage zugegen war (Artikel 148 der neuen StPO). Dies ist sicherlich noch keine Garantie, dass nicht mehr gefoltert wird. Bis zum Eintreffen eines Anwalts können die Verdächtigen psychisch und notfalls auch physisch "bearbeitet" werden, und je nach Konstitution und Erfahrung könnten einzelne Personen so eingeschüchtert sein, dass sie die von den uniformierten Kräften gewollten (evtl. auch schon vorbereiteten) Aussagen selbst in Anwesenheit eines Anwaltes unterschreiben. Nach oberster Rechtssprechung wirken sich Änderungen in Verfahrensfragen nicht rückwirkend aus. Mit anderen Worten brauchen die Bestimmungen des Artikels 148 neue StPO erst nach dem 1. Juni 2005 angewandt werden. Die von mir aufgeführten Beispiele weisen leider keine Festnahmen nach diesem Datum auf. Ich kann daher nicht prognostizieren, ob meine Feststellungen auch für Verfahren zutreffen, in denen Aussagen bei den uniformierten Kräften, die nach dem 1. Juni 2005 abgegeben wurden, die entscheidende Rolle spielen. Für alle Verfahren, in denen Aussagen eine Rolle spielen, die vor dem 1. Juni 2005 abgegeben wurden, gelten jedoch meine geäußerten Bedenken. Sollte die Bestimmung des Artikels 148 neue StPO beibehalten werden,[4]so sind damit jedoch die Mittel nicht erschöpft, wie die Sicherheitskräfte (mit unerlaubten Mitteln und daher eigentlich nicht zu verwertendes) Belastungsmaterial zusammentragen könnten. Aus meinen Beispielen lässt sich vielleicht sogar eine Tendenz ablesen: 1. In den letzten Jahren hat die Anzahl von inoffiziellen (nicht registrierten) Festnahmen zugenommen. Viele dieser "Entführungen" sind mit der Aufforderung verbunden, als Spitzel für die Polizei zu arbeiten. Die in diesem Zusammenhang bekannt gewordenen Fälle dürften dabei nur die Spitze des Eisbergs darstellen, denn einige Personen könnten einwilligen, während die meisten sich aus Angst nicht beschweren würden. Es könnte sich aber auch so abspielen wie im Fall 9, wo die Jugendlichen teilweise entführt bzw. als "Zeugen" auf die Wache kamen, wieder freigelassen wurden und nach dieser Einschüchterung am 2. Tag erst richtigen Verhören unterworfen wurden. Vor der offiziellen Festnahme könnte also eine Art inoffizielle "vorbereitende Haft" liegen. Wie der Fall 15 zeigt, könnte auch in Zukunft die Festnahme erst nach ein paar Tagen "offiziell" gemacht werden. Hatice Sen, die offiziell am 3. Dezember 2004 festgenommen wurde, sagte später, dass sie schon drei Tage davor festgenommen worden sei. 2. Die Drohung mit Folter hat vor allem deshalb eine enorme Wirkung, weil einige von den Verdächtigen aus der Vergangenheit (aus der eigenen Erfahrung) wissen, ob und wie lange sie der Folter widerstehen können bzw. weil sie Berichte über Folter kennen. Frau Erdogan (Fall 6) war "nur" 2-3 Tage in Haft, hat sich aber einschließlich der Anhörung beim Staatsanwalt durch die Drohungen dermaßen einschüchtern lassen, dass sie ein "Geständnis" ablegte. Aus dem Verfahren von Fall 5 ist mir bei einem der Angeklagten bekannt, dass er in der Vergangenheit schon einmal Folter ausgesetzt war und ihr nicht widerstehen konnte. Angesicht dessen, was er glaubte, erwarten zu müssen, hat er (unter erheblichen gesundheitlichen Problemen fast bereitwillig) ein "Geständnis" abgelegt. 3.Das Fabrizieren von Beweismitteln scheint in letzter Zeit an "Popularität" gewonnen zu haben. Dazu zählen nicht nur Sprengstoff und Waffen, die meistens in Abwesenheit der Beschuldigten auf ihrem Besitz (oder in ihren Mietwohnungen) "gefunden" werden, sondern auch die Auswertung von belastendem Material in elektronischer Form. Der Ausgang des Verfahrens von Fall 10 dürfte gerade aus diesem Blickwinkel von besonderem Interesse sein. Auch in den Verfahren in Diyarbakir, in denen "fabrizierte Beweise" eine Rolle spielen könnten, stehen noch Entscheidungen an (die Fälle 13 und 14). Festhalten sollte ich an dieser Stelle, dass es seit dem 1. Juni 2005 lediglich schwerer geworden ist, Aussagen bei der Polizei oder der Gendarmerie zu erfoltern. Wie die Sicherheitskräfte und die Staatsanwaltschaften in Zukunft ihre "Beweisnot" lösen, bleibt abzuwarten. In der Vorlage der EU Kommission für die Beitrittspartnerschaft mit der Türkei wurde am 9. November 2005 unter den kurzfristigen Prioritäten, bei denen von der Türkei erwartet wird, dass sie sie in den kommenden Jahren vollständig oder weitgehend umsetzen soll, im Justizsystem u. a. auf Folgendes hingewiesen:[5] - Kohärente Auslegung der Rechtsvorschriften über Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich des neuen Strafrechts, durch alle Justizbehörden in Einklang mit der EMRK und der diesbezüglichen Rechtsprechung. - Unabhängigkeit der Justiz, insbesondere hinsichtlich des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte und der Ernennung neuer Richter und Staatsanwälte. - Herstellung gleicher Voraussetzungen für Anklage und Verteidigung bei Strafverfahren, einschließlich der räumlichen Anordnung in den Gerichtssälen" (Hervorhebung von mir, H.O.) Die hier angesprochene "Waffenungleichheit" zwischen Anklage und Verteidigung konnte ich bei meiner Recherche zu diesem Gutachten aufs Neue beobachten. Die Richterbank befindet sich hinter einem fast zwei Meter hohen Pult über dem Gerichtssaal, in dem Angeklagte, Zeugen, Protokollführer und die Verteidiger auf einer Ebene sitzen (bzw. aufgrund enger Räumlichkeiten auch manchmal stehen müssen). Bei den Zuschauern (Beobachtern) kann es sein, dass sie nicht auf der Ebene der Angeklagten und Verteidigung, sondern dem Gericht gegenüber auf einer Art Tribüne Platz nehmen müssen und daher auf einer Höhe mit der Richterbank sein können. Die einzige Person aber, die ebenso wie die Richter unmittelbar Einsicht in die richterlichen Akten nehmen kann, ist der Staatsanwalt. Er sitzt von den Zuschauern her betrachtet auf der linken Seite der Richterbank.[6] Neben dem Vorsitzenden Richter verfügen die Staatsanwälte meistens auch über das Recht, direkt für das Verhandlungsprotokoll zu "diktieren". Die Verteidiger haben dieses Recht nicht. Bei dem von mir in Diyarbakir beobachteten Prozess hatte der Staatsanwalt ein "notebook" vor sich stehen, und es entstand der Eindruck, dass es mit dem Computer der Protokollführerin verbunden war, so dass der Staatsanwalt die Protokollierung direkt kontrollieren konnte. Zu der optisch wahrnehmbaren Ungleichheit von Anklage und Verteidigung kommt die Tatsache, dass die Gerichtssäle von unterschiedlichen Seiten her betreten werden. Der Staatsanwalt oder die Staatsanwältin benutzen dabei die gleiche Tür wie die Richter, d. h. wenn sie den Gerichtssaal verlassen, müssen sie durch das Richterzimmer gehen. Anwälte berichteten mir von Verfahren, in denen die Staatsanwälte das Richterzimmer bei Beratungen (auch direkt vor der Urteilsverkündung) nicht verlassen hätten. Dennoch wollte niemand behaupten, dass die Staatsanwälte einen entscheidenden Einfluss auf die Urteilsfindung ausüben; sie haben nur mehr Möglichkeiten der Einflussnahme. Gerade dies wirkt aber gerade bei positiven Einstellungen der Staatsanwälte meistens nicht (vgl. hier die Fälle 2, 5 und 13, in denen der Staatsanwalt Freispruch und/oder Freilassung forderte, das Gericht dem aber nicht oder wie im Falle 13 sehr spät folgte). Sollte die Türkei die von der EU Kommission angemahnte räumliche Anordnung der Gerichtssäle (kurzfristig) umsetzen, so käme das m. E. einer wirklich "bahnbrechenden" Änderung gleich. Nicht nur an den Sondergerichten für politische Delikte, sondern auch an allen Strafgerichten würde dann der Staatsanwalt bzw. die Staatsanwältin den Saal durch die gleiche Tür zu betreten haben wie die Verteidigung und mit ihr auf der gleichen Ebene sitzen. Unter den kurzfristigen Maßnahmen hat die EU Kommission des Weiteren im Punkt "Zugang zur Gerichtsbarkeit" die "Verbesserung der Inanspruchnahme einer effektiven Verteidigung, z. B. durch Prozesshilfe und qualifizierte Dolmetscherdienste" angemahnt. Auf
das Problem der Prozess(kosten)hilfe möchte ich an dieser Stelle nur
kurz eingehen. Durch das neue StPO wurde die Notwendigkeit einer rechtlichen
Vertretung bei allen Vergehen eingeführt, die eine Mindeststrafe von
fünf Jahren vorsehen. Diese so genannten Pflichtverteidiger werden
von den Anwaltskammern gestellt. Das Problem scheint hier eher die geringe
Entlohnung von Pflichtverteidigern zu sein, die ihre Sache daher nicht
engagiert wahrnehmen und z. B. durch Abwesenheit dazu beitragen, dass Verfahren
weiter in die Länge gezogen werden.
Das
Fehlen qualifizierter Dolmetscher scheint mir ein größeres Problem
zu sein. Es gibt in den größeren Städten der Türkei
durchaus qualifizierte Dolmetscher- und Übersetzerbüros für
die gängigen Sprachen (Deutsch, Englisch und Französisch). Aber
selbst in Diyarbakir war es Mitte der 90er Jahre nicht möglich, einen
qualifizierten Dolmetscher für die deutsche Sprache zu finden.[7]Selbst
wenn es gelingen sollte, in Verfahren gegen Ausländer ordentliche
Dolmetscher zu finden, so wird das Problem des Dolmetschens bei Personen,
die nur der kurdischen Sprache mächtig sind, noch eine ganze Weile
ein Problem bleiben. Es gibt keine Ausbildung in der kurdischen Sprache
und erst recht keine Ausbildung zum Dolmetschen von oder in die kurdische
Sprache. Dabei wäre des Weiteren zu berücksichtigen, dass die
kurdische Sprache viele Dialekte hat und ein Dolmetscher gleich mehrere
Dialekte beherrschen müsste.
In der Regel werden Gerichtsdiener als Dolmetscher eingesetzt. Bei den Verfahren in Diyarbakir kam in einem Fall auch ein Angestellter der Staatsanwaltschaft zum Einsatz. In der Presse habe ich einen anderen Fall gefunden, in dem ein Verteidiger die Rolle des Dolmetschers übernahm.[8]Neben Einsprüchen gegen die Neutralität von Dolmetschern ist in erster Linie die Qualifikation zu hinterfragen. Außerdem sind mir keine Fälle bekannt (einschließlich des Verfahrens gegen Stefan Waldberg), in denen die gesamte Verhandlung über gedolmetscht wurde. Neben der Frage, in welcher Sprache die Ermittlungen geführt wurden, d. h. der Fragestellung, ob Aussagen, die ohne Dolmetscher aufgenommen wurden, überhaupt gültig sein können, sollte der nicht kontinuierliche Einsatz von qualifizierten Dolmetschern für Personen, die der türkischen Sprache nicht ausreichend mächtig sind, in jedem Fall einen Revisionsgrund darstellen. Artikel
5/3 der EMRK bestimmt: "Jede Person, die nach Absatz 1 Buchstabe c von
Festnahme oder Freiheitsentzug betroffen ist, muss unverzüglich einem
Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben
ermächtigten Person vorgeführt werden; sie hat Anspruch auf
ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während
des Verfahrens. Die Entlassung kann von der Leistung einer Sicherheit für
das Erscheinen vor Gericht abhängig gemacht werden."
In den Fällen 7 und 8 befinden sich viele Schilderungen von Verfahren, die sich über einen Zeitraum von knapp zehn Jahren (und darüber) hinzogen, ohne dass ein abschließendes Urteil gefunden wurde. In etlichen Fällen waren die Angeklagten immer noch in U-Haft. Die Begrenzung der U-Haft wurde für "schwere" Straftaten[9]erst nach dem 1. April 2008 eingeführt werden. Hier wird die Höchstdauer der U-Haft für politische Gefangene doppelt so hoch bemessen sein, wie für normale Straftaten. Mit vier Jahren liegt die dann vorgesehene "normale" Frist für politische Gefangene, die eine Zuchthausstrafe zu erwarten haben, evtl. nicht mehr in einem für das EGfMR akzeptablen Rahmen. Die Möglichkeit der Verlängerung um weitere sechs Jahre dürfte in jedem Fall den europäischen Normen widersprechen.[10] e. Ungleichbehandlung von politischen Gefangenen Die
Länge der U-Haft ist nur ein Aspekt der Ungleichbehandlung von politischen
Gefangenen. Die Ungleichheit beginnt mit der Höchstdauer der Polizeihaft,
setzt sich dann mit der Höchstdauer der Untersuchungshaft fort und
kommt erst recht im Urteil zum Tragen. Für alle politischen Fälle
(jene, die vor den Sondergerichten verhandelt werden) gilt eine Anhebung
der Strafen um 50%. Lediglich im Strafvollzug (der bei politischen Gefangenen
allerdings in den Hochsicherheitstrakten der Gefängnisse vom Typ F
erfolgt) wurde die ungleiche Behandlung leicht angepasst. Bis zum 1. Juni
2005 galt, dass normale Strafgefangene 40% ihrer Strafe verbüßen,
bevor sie bedingt aus der Haft entlassen werden (können). Bei politischen
Gefangenen ist der Strafvollzug nach wie vor bei 75% (3/4) der Strafe geblieben,
während er bei normalen Strafgefangenen nun 2/3 (ca. 67%) beträgt.
Auf meine Fragen, warum insbesondere die politischen Verfahren so lange dauern, konnten mir die Verteidiger keine vollständig plausible Erklärung abgeben. Allgemein wird offiziell immer wieder auf die hohe Anzahl von Angeklagten in einzelnen Verfahren, Komplexität der Beweislage und die Arbeitsbelastung der einzelnen Gerichte hingewiesen. Auf
den Internetseiten des Generaldirektorats für Vorstrafen und Gerichtsstatistiken
im Justizministerium der Türkei ist u. a. folgende Übersicht
zu finden (ich habe sie "eingedeutscht" und auf das Wesentliche beschränkt):
Der
Tabelle ist zu entnehmen, dass die Jahre 1995 und 1997 sozusagen "Rekordjahre"
waren und dass die Zahl der Verfahren in den letzten Jahren abgenommen
hat. Dementsprechend konnte sowohl in Malatya als auch in Diyarbakir eine
Kammer der Sondergerichte aufgelöst werden. Bei ca. 20 Kammern der
Sondergerichte würden im Jahre 2003 ca. 560 Verfahren pro Kammer zu
verhandeln gewesen sein.
Ich
habe leider keine vergleichbaren Statistiken gefunden. Ein Vergleich mit
Verfahren vor deutschen Arbeitsgerichten hat m. E. wenig Aussagekraft.
So verzeichnete das Arbeitsgericht Karlsruhe im Jahr 2002 insgesamt 6693
Verfahrenseingänge (2001: 6277). Das war bei neun Kammern ein Schnitt
von 744 Verfahren pro Kammer. Als vertretbar wurde ein Volumen von 4.500
bis 5.000 (d. h. ca. 500 pro Kammer) bezeichnet.[11]
Verglichen
mit diesen Zahlen kann man sicherlich von einer enormen Arbeitsbelastung
der Sondergerichte in der Türkei sprechen. Die schlechte Vorbereitung
der Verhandlungen mag da wenig wundern. So erfahren die Richter häufig
erst in den Sitzungen, ob bestimmte Gefangene vorgeführt werden konnten
oder nicht. Mangels einer strikt eingehaltenen Meldepflicht sind in der
Türkei Zeugen nur schwer und manchmal gar nicht aufzufinden. Das Gleiche
gilt für nicht inhaftierte Angeklagte.[12]Selbst
bei Personen, von denen bekannt ist, dass sie unterdessen ins Ausland geflohen
sind, vergehen viele Prozesstage, die in der Regel einmal pro Monat stattfinden,
mit dem Warten auf ihr Erscheinen. Dabei kann ein Jahr (oder mehr) ins
Land gehen, ohne dass sich etwas tut.
Das
Warten auf Stellungnahmen anderer Behörden (wie z. B. Einholen von
Aussagen im Rahmen der Amtshilfe oder ein Gutachten der Gerichtsmedizin)
trägt weiter zur Verzögerung der Rechtssprechung bei. In solchen
Fällen kommt es häufiger vor, dass gleich auf mehrere Monate
im Voraus vertagt wird, da den Gerichten bewusst ist, dass sich in der
Zwischenzeit wenig tun wird. Im Fall 10 war die Verlegung von Oktober
2005 auf Februar 2006 deshalb von besonderer Bedeutung, weil in dieser
Zeit die in Haft verbliebenen sechs Angeklagten ganz sicher nicht freikommen.
Sie haben dann fast zwei Jahre in Haft verbracht und sind damit, egal wie
das Verfahren ausgeht, quasi "vorbestraft".
f.
Verschlechterung in den neuen Gesetzen
"Allgemein
führt das neue Strafrecht europäische Normen ein, die dem Strafrecht
in vielen europäischen Ländern entspricht... (Ausnahme: Meinungsfreiheit).
Die neue Strafprozessordnung ist ein enormer Schritt vorwärts. Hier
werden Kreuzverhöre eingeführt, die zuvor im türkischen
Rechtssystem nicht existierten. Die StPO führt das Konzept der außergerichtlichen
Einigung zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung (plea bargaining)
ein... Nach der neuen StPO müssen strafrechtliche Ermittlungen von
einer Gerichtspolizei unter dem Befehl der Staatsanwaltschaft geführt
werden...[13]Die
neue StPO schreibt vor, dass für Angeklagte und Zeugen, die die türkische
Sprache nicht können, kostenlos Dolmetscher zur Verfügung gestellt
werden."
Hier
macht der Bericht deutlich, dass es in der Praxis wohl zu Schwierigkeiten
kommen könnte. Der Bericht geht auf weitere Verbesserungen sowie auf
Bedenken im Hinblick auf die Umsetzung ein, macht aber auch zum Problem
der Folter auf die m. E. einschneidendste Vorschrift nicht aufmerksam,
die die Anwesenheit eines Anwaltes bei der Protokollierung von Aussagen
bei den uniformierten Kräfte zur Bedingung macht, damit eine Aussage
vor Gericht gültig ist. Erwähnt wird lediglich, dass die Zahl
der des Schmuggelns oder Terrorismus Verdächtigen, die nach einem
Anwalt bei der Polizei verlangten, von 52% im Jahre 2004 auf 64% im Jahre
in den ersten fünf Monaten des Jahres 2005 gestiegen sei.
Soweit
ich sehen konnte, werden keine Bemerkungen zu Verschlechterungen aufgrund
der neuen Gesetzgebung gemacht. Im Verlauf meiner Recherche konnte ich
mindestens zwei Punkte entdecken, die eine Verschlechterung zur vorhergehenden
Rechtsprung bedeuten.
Das
ist zum einen die Bestimmung, dass bei "organisierter Kriminalität"
jede Handlung gesondert abgeurteilt werden muss. Das war zuvor nur
in Ausnahmefällen möglich (z. B. wenn das Mitglied einer illegalen
Organisation an einem von Menschen frequentierten Ort eine Bombe geworfen
hatte, wurde er als Mitglied verurteilt und erhielt eine zusätzliche
Strafe für das Bombenattentat). Aus diesem Grunde wurde Metin Kaplan
z. B. nach Artikel 146/1 des alten TStG und nicht nach der entsprechenden
Vorschrift der neuen TStG (Artikel 309) verurteilt, weil das Gericht die
alte Vorschrift als "vorteilhafter" für den Angeklagten betrachtete.
Eine
erhebliche Verschlechterung hat es aber an einem Punkt gegeben, von dem
man nach den Anpassungsgesetzen, besonderen Gesetzen zum Strafnachlass
(indirekte Amnestie) und der Formulierung des neuen TStG annehmen konnte,
dass dieses Problem beseitigt sei.
Die
Rede ist von der Bewertung von Unterstützungshandlungen für
illegale Organisationen. Das war in der alten Rechtssprechung der Artikel
169 TStG. Unter diesem Artikel waren Zehntausende von armen Bauern bestraft
worden, die sich nicht geweigert hatten, bewaffneten Guerillakämpfern
Lebensmittel zu geben bzw. bei sich zu beherbergen. Später war der
Artikel derartig großzügig ausgelegt worden, dass auch mündliche
oder schriftliche Äußerungen als Unterstützung einer illegalen
Organisation interpretiert werden konnten. Der Artikel 169 des alten TStG
"produzierte" auf diese Weise jahrelang "gewaltfreie politische Gefangene",
für deren Freilassung sich amnesty international einsetzte.
Dies
mag ein Grund für die gesetzlichen Änderungen gewesen sein, die
ich hier nur grob skizzieren möchte:
21.12.2000
Gesetz 4616 setzte Verfahren unter Artikel 169 TStG für Vergehen,
die vor dem 23.04.1999 begangen worden waren, auf fünf Jahre zur Bewährung
aus.
29.07.2003
Das so genannte Re-Integrations-Gesetz mit der Nummer 4959 bestimmte, dass
Personen, die "lediglich Unterschlupf oder Verpflegung besorgt haben oder
ihnen auf sonstige Weise behilflich waren", nicht mit Strafe verfolgt werden.
07.08.2003
Das 7. Anpassungspaket (Gesetz 4963) veränderte den Wortlaut des Artikels
169 TStG. Die Straftat der "Gewährung von Hilfe und Unterschlupf“
für Mitglieder einer bewaffneten Bande wurde insofern eingeschränkt,
dass nun nicht mehr "jeder Akt, der die Bewegungen (der Bandenmitglieder)
erleichtert“, strafbar war. Rein logistische Hilfe oder aber
nach der gängigen Praxis der vergangenen Jahre das Rufen von Parolen
z. B. war nicht mehr strafbar. Strafbar blieben die Unterstützung
durch Waffen, Geld und Verpflegung.
01.05.2005
Der an die Stelle des Artikel 169 altes TStG getretene Artikel 315 stellt
(nur) noch die Versorgung einer bewaffneten Organisation (im Sinne des
Artikel 314 neues TStG) mit Waffen unter Strafe, verhängt dafür
aber eine Strafe von zehn bis 15 Jahren Haft. Das ist genauso viel an Strafe,
als der Artikel 314 neues TStG für führende Mitglieder einer
bewaffneten Organisation vorsieht, aber mehr an Strafe, als einfache Mitglieder
zu erwarten haben (5-10 Jahre, das waren im Artikel 168 altes TStG 10-15
Jahre Haft gewesen).
Vor
diesem Hintergrund hatte ich angenommen, dass die einfachen Unterstützungshandlungen
nicht mehr bestraft werden. Wie ich in einigen Verfahren aber sehen musste
(Fall 15 und Fall 16), greifen die Richter nun zu einem "Trick",
den ich für rechtlich bedenklich halte.
Obwohl
die Verfahren unter der Prämisse laufen, dass es sich bei den Organisationen
um politische Gruppierungen handelt, die den bewaffneten Kampf befürworten
(oder gar eine Art von Guerillakrieg führen), werden die Unterstützer
unter Rückgriff auf Artikel 220, Absatz 7 TStG nach einer Bestimmung
zu einer anderen Art von Organisation behandelt. Im Artikel 220 altes TStG
geht es um Organisationen, die gegründet wurden, um Straftaten zu
begehen. Einfach ausgedrückt geht es hier wie im Artikel 313 altes
TStG um die Bekämpfung von Mafia-Strukturen.
In
der Auslegung des neuen Gesetzes werden die politischen Gruppen nicht zu
Mafia-Banden gemacht (die erhalten nämlich weniger Strafe), und auch
die Unterstützer von bewaffneten Organisationen, die für eine
Veränderung des Systems kämpfen, werden nicht zu Unterstützern
von Gruppen, denen es um eigene Bereicherung geht.
Die
unterschiedlichen Strafmaße sind in der Logik der Richter an den
Sondergerichten unerheblich, denn sie nehmen nur den Absatz 7 des Artikels
220 neues TStG, um eigentlich nach Artikel 314 neues TStG eine Strafe zu
verhängen. Der Absatz 7 im Artikel 220 neues TStG besagt, dass Unterstützer
wie Mitglieder zu behandeln sind.
Eine
solche Vorschrift allein ist bedenklich, denn strafrechtlich sollte Mitgliedschaft
härter bestraft werden als Unterstützung. Noch bedenklicher ist
die Schlussfolgerung, dass das Strafmaß doch wieder nach Artikel
314 neues TStG bemessen wird. Hier wird einfache Mitgliedschaft (und nach
der Logik der Richter nun auch die Unterstützung) einer bewaffneten
Organisation mit einer Strafe zwischen 5-10 Jahren belegt, während
der Artikel 169 altes TStG eine Strafe zwischen 3-5 Jahren vorsah.
Das
macht sozusagen nachträglich die Veränderungen in den Gesetzen
unwirksam bzw. werden Unterstützungshandlungen, die nach dem 1. Juni
2005 begangen werden, nun noch härter bestraft, als es der vermeintlich
abgeschaffte Artikel 169 altes TStG vorsah.
Die
Vermutung der Verteidiger, die ich zu diesem Punkt konsultierte, war, dass
dieses Vorgehen mit dem Kassationsgerichtshof abgesprochen wurde, bevor
dieser "Trick" zur Anwendung kam. Es kann also wenig Hoffnung herrschen,
dass diese nach dem 1. Juni 2005 zu beobachtende Praxis vom Kassationsgerichtshof
"gekippt" wird. Zu befürchten ist daher eine neue Welle von Prozessen,
in denen einfache "Unterstützer" zu drastischen Strafen verurteilt
werden. Der Begriff "Unterstützung" wird im Artikel 220 neues TStG
nicht definiert, so dass nach dem Gutdünken der Gerichte in Zukunft
auch Meinungsäußerungen wieder zu Akten der Unterstützung
werden könnten.
Diese
Gerichte reagieren auf Foltervorwürfe nicht bzw. nur äußerst
unzureichend. Sie führen keine Beweisaufnahme zu der Frage durch,
ob die Vorwürfe zutreffend sein könnten; sonst müssten sie
am Ende evtl. feststellen, dass sie diese Art von Beweisen nicht verwerten
dürfen. Sie verstoßen sogar gegen ihre Dienstpflicht, indem
sie keine Strafanzeige aufgrund dieser Information zu einer Straftat stellen,
und versäumen damit sogar die Gelegenheit, die Ermittlungen zu den
Vorwürfen "delegieren" zu können.
Entlastende
Beweisanträge werden entweder gar nicht oder nur sehr zögerlich
zugelassen. Insbesondere wenn belastende Beweise erschüttert werden
könnten, zeigt sich die ablehnende Haltung besonders deutlich.
In
der Revision auf nationaler Ebene (Kassationsgerichtshof) wurde nur in
Ausnahmefällen eine in der ersten Instanz nicht vorgenommene Prüfung
der Verwertbarkeit von Beweisen moniert. Da eine solche Feststellung in
der überwiegenden Zahl der Fälle nicht getroffen wird und wenn,
dann erst Jahre nach Beginn eines Verfahrens erfolgt und in den seltensten
Fällen mit der Anordnung des oberen Gerichts auf Haftentlassung verbunden
ist, kann diese Möglichkeit der Korrektur von Verfahrensfehlern nicht
als effektiv bezeichnet werden.
Noch
schwerfälliger verhält sich der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte (EGfMR). Er hat sich bislang bei keiner Beschwerde
aus der Türkei mit der Tatsache, dass erfolterte Aussagen als Beweis
verwertet wurden, befasst, sondern das Urteil, das Verfahren sei unfair
gewesen, allein auf die Anwesenheit eines Militärrichters gestützt.
Die Länge der Verfahren vor dem EGfMR ist nicht dazu angetan, bevorstehendes
Unrecht zu verhindern bzw. vollzogenes Unrecht in einem akzeptablen Zeitraum
zu revidieren. Entweder wurde der Freiheitsentzug der Beschwerdeführer
vor einem Entscheid des EGfMR beendet oder aber die Haft bleibt solange
bestehen, bis in der Türkei die Wiederaufnahme eines Verfahrens akzeptiert
wird. Selbst dann muss eine positive Entscheidung des EGfMR nicht Entlassung
aus der U-Haft bedeuten. Für viele der von mir aufgeführten Verfahren
besteht diese Möglichkeit aufgrund von der eingeschränkten Möglichkeit
für die Wiederaufnahme von Verfahren ohnehin nicht einmal theoretisch.
Bis auf die Möglichkeit, für begangenes Unrecht finanziell entschädigt
zu werden, bedeutet die Anrufung des EGfMR in der Praxis daher nicht, hier
einen effektiven Rechtsschutz erhalten zu können.
Hamburg,
den 17.01.2006
|
|||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
| |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
- Sitemap - Impressum |