Helmut Helmut Oberdiek * 18.9.1947 — † 27.4.2016
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Metin Kaplan

Diese Fallschilderung hat als Textdatei (anderthalb Zeilen Abstand 40 Seiten).

Die Schilderung ist wie folgt gegliedert:
Die Anklageschriften
Die Verhandlungen
Antrag auf Befangenheit
Die "Beweise"
Das Verfahren aus 1998
Die Aussagen bei der Polizei
Beweiswürdigung
War das Verfahren fair?

Ich habe diesen Fall an das Ende meiner Beispiele gesetzt, weil durch die Abschiebung von Herrn Kaplan den deutschen Behörden eine erhöhte Verantwortung für die Ungerechtigkeiten in seinem Verfahren zukommt.

Gegen den aus Deutschland ausgelieferten Metin Kaplan wurde vor der 14. Kammer des Landgerichts Istanbul (vormals 6. Kammer des Staatssicherheitsgerichts, SSG Istanbul) ein Verfahren geführt, das am 20. Juni 2005 mit einer Verurteilung zu erschwerter lebenslanger Haft endete.

Ich konnte bei der Rechtsanwältin Ingeborg Naumann, die die Interessen von Herrn Kaplan in Deutschland vertritt, eine Abschrift des begründeten Urteils einsehen. Es ist in der Form eher ungewöhnlich. Dazu gehört, dass dieses Urteil zu 5 Angeklagten (eigentlich nur zu einem Angeklagten, da die anderen Beschuldigten nicht anwesend waren) immerhin 207 Seiten umfasst. Die Richtigkeit der Abschrift wurde auf der letzten Seite durch die Geschäftsstelle (wohl der 14. Kammer, Stempel unleserlich) mit Datum vom 11.07.2005 bestätigt.

Ich werde vorwiegend anhand dieses Urteils versuchen, das Verfahren zu rekonstruieren.

Der am 14.11.1952 geborene Metin Kaplan wurde seit dem 7. Juli 1999 in der Türkei per Haftbefehl gesucht. Alle anderen in seinem Verfahren aufgeführten Angeklagten werden ebenfalls seit diesem Datum per Haftbefehl in Abwesenheit gesucht. Dieser Haftbefehl (und weitere Haftbefehle gegen Herrn Kaplan aus anderen Verfahren, s. unten) wurde einen Tag nach seiner Abschiebung am 12.10.2004 vollstreckt.

Das unter der Grundnummer 2001/212 geführte Verfahren (Urteilsnummer 2005/55) und die Haftbefehle beruhten auf einer Anklageschrift der Staatsanwaltschaft am SSG Istanbul vom 27.07.1999 gegen Metin Kaplan und 6 Mitangeklagte. Von ihnen war das Ehepaar Seven bei der Einreise in die Türkei am 3. Juli 1999 festgenommen worden, da sie Propagandamaterial der Vereinigung "Föderativer Islamischer Staat von Anatolien" (türkische Abkürzung AFID) bei sich hatten.

Auf Seite 5 des Urteils steht dann: "Am Ende des Verfahrens, das vor unserem Gericht [1] unter der Grundnummer 1999/243 geführt wurde, wurde mit dem Urteil Nr. 2001/184 vom 23.05.2001 Frau Seven nach Artikel 169 TStG (wegen Unterstützung) und Herr Seven nach Artikel 168/2 TStG (als Mitglied) bestraft und die Verfahren gegen Muhammet Metin Kaplan (plus weitere 4 Angeklagte) wurden abgetrennt und unter der Nummer 2001/212 fortgeführt."

Das Urteil der 6. Kammer des SSG Istanbul wurde von der 9. Kammer des Kassationsgerichtshofs am 19.11.2001 bestätigt.

Die Anklageschriften

Im Urteil vom 20.06.2005 folgen nun viele Seiten mit einer Auflistung aller Verfahren, in denen Metin Kaplan angeklagt war und die dann in diesem Verfahren vereinigt wurden. Eine kürzere Auflistung dieser Verfahren findet sich auf den Seite 189/190. Die hier gemachten Angaben werde ich in einer Liste wiedergeben und ggfls ergänzen:

Lfd. Nr. StAschaft Datum Nummer Straftat
1 SSG Istanbul  27.07.1999 1999/976 Art. 146
2 SSG Istanbul 14.01.2003 2003/24 Art. 146
3 Rep.Istanbul [2] 21.01.2003 2003/46 Art. 146
4 SSG Adana 27.10.1998 1998/490 Art. 7/1 ATG
5 Rep. Adana 24.05.1999 1999/235 Art. 312/2
6 Rep. Adana [3] 2002/280 Art. 7/1 ATG
7 Rep. Adana 16.03.1999 1999/106 Art. 168/1
8 Rep. Adana 04.02.2002 2002/20 Art. 146
9 SSG Erzurum 14.10.2000 2000/205 Art. 8 ATG
10 SSG Erzurum 03.12.2001 2001/171 Art. 8 ATG
11 SSG Erzurum 25.01.2002 2002/22 Art. 146
12 SSG Erzurum 19.12.2001 2001/189 Art. 146

Die unter 2 und 3 aufgeführten Anklageschriften sind im Urteil auf den Seiten 6-12 zitiert. Sie haben mir gesondert in Kopie vorgelegen. Die Anklageschrift vom 21.01.2003 hat etwas mehr als 3 Seiten und bezieht sich eher auf den Inhalt der Propagandamaterialien von AFID, während die Anklageschrift vom 14.01.2003 als Zusatzanklage qualifiziert wird und auf 2,5 Seiten das aufführt, was in dem eigentlichen Verfahren zum zentralen Punkt werden sollte.

Demnach soll Metin Kaplan im Mai 1998 bei einer Versammlung aufgrund des Jahrestages von "Hicri" [4] den heiligen Krieg (Cihad) ausgerufen und sowohl eine Aktion in der Moschee in Fatih (Istanbul) als auch ein Attentat auf das Mausoleum von Atatürk (in Ankara) angeordnet haben.

Der Anklage in Adana vom 27.10.1998 scheint keine konkrete Aktion zugrunde gelegen zu haben. Seinerzeit aber wurde die führende Mitgliedschaft in einer illegalen (terroristischen) Organisation noch dem Artikel 7/1 des Anti-Terror Gesetzes (Gesetznummer 3713) zugeordnet, d. h. zu diesem Zeitpunkt wurde die Organisation als "nicht bewaffnet" betrachtet.

In der Anklageschrift vom 24.05.1999 geht es um eine Rede des Metin Kaplan im Fernsehsender Hak TV (der vom Ausland her ausgestrahlt wird, bzw. wurde). Der Artikel 312/2 altes TStG bezog sich auf "Aufstachelung der Bevölkerung zu Rassenhass".

Der Anklage zu 6 vom 01.11.2002 liegt die Beschlagnahme von propagandistischem Material zugrunde. Wiederum wurde die Bestrafung als Leiter einer unbewaffneten terroristischen Organisation gefordert.

Zur Anklage 7 vom 16.03.1999 kam es, weil im Verantwortungsbereich des SSG Adana eine Reihe von Personen festgenommen worden waren, die Schulungen mit Materialien der AFID betrieben haben sollen. Von ihnen wurde Hasan Beyaz als Mitglied einer bewaffneten Bande verurteilt. Mit anderen Worten muss das Gericht davon ausgegangen sein, dass es schon bewaffnete Aktionen gab. Es wird in der Anklage aber nur auf Aussagen hingewiesen, die evtl. einen Aufruf zu Gewalt darstellen könnten (dazu gehört auch die Rede in Köln vom 03.05.1998).

Das dementsprechende Verfahren wurde mit Beschluss des SSG Adana vom 25.01.2000 mit einem weiteren Verfahren vor dem SSG Adana mit der Grundnummer 1998/497 (Grundnummer des Verfahrens, nicht der Anklage) verbunden. In gleicher Weise waren zuvor schon die Verfahren aufgrund der Anklagen zu 5 und 6 mit dem Verfahren mit der Grundnummer 1998/497 vereinigt worden (dabei wird es sich um das Verfahren aufgrund der Anklage vom 27.10.1998 gehandelt haben).

Zur Anklageschrift 8 vom 04.02.2002 haben anscheinend Sendungen von Publikationen (gedruckt in Düsseldorf im Mai 1997) an den Müftü des Kreises Sariyahsi in der Provinz Aksaray geführt. Die Ermittlungen dazu waren im September 1999 u.a. mit einem Hinweis auf der Gesetz-Nr. 4454 (die so genannte Amnestie für Vergehen, die mittels der Presse begangen werden) eingestellt worden. Nun wurden die Ermittlungen wieder aufgenommen und die Anklage gar auf Artikel 146/1 altes TStG gegründet. Auch dieses Verfahren wurde am 13.02.2002 mit dem ersten Verfahren unter der Grundnummer 1998/497 verbunden.

Dieses Verfahren war anscheinend noch anhängig als das Verfahren in Istanbul begann. Zumindest wird auf kein Urteil hingewiesen. Des Weiteren hat die Staatsanwaltschaft am SSG Adana mehrfach die oberste Polizeidirektion der Türkei um eine Stellungnahme zur Organisation "Kalifatstaat/Union der Islamischen Gemeinden/Föderativer islamischer Staat Anatolien" (Abkürzung in Türkisch: HD/ICB/AFID) und einzelnen von ihr verdächtigten Personen gebeten. Eine dieser Anfragen war am 26.07.2001 gestellt worden und wurde im August 2001 beantwortet. Eine andere Anfrage war am 23.10.2001 gestellt worden und wurde am 27.11.2001 beantwortet.

In der letzten Anfrage ging es um die Verdächtigen in der Anklage Nr. 8. Nur zu zwei der sieben Verdächtigen konnte die Polizeidirektion Angaben machen. Die sonstigen Angaben waren praktisch deckungsgleich mit den Antworten auf weitere Anfragen. Demnach gab es folgende Aktionen der Organisation und entsprechende Operationen der Polizei:
 
Jahr Flugblatt- und ähnliche Aktionen Publikationen aus dem  Ausland Waffen Pol. Operationen Festnahmen
1994 2 3 14
1995 1 1 3
1996 2 2 1 Pistole, 6 Kugeln 3 20
1997 36 13 4 Gewehre, 3 Pistolen, 17 Kugeln 13 53
1998 23 2 10 Gewehre, 5 Pistolen, 2 Bomben, 486 Kugeln 13 112
29.10.1998 Vorwiegend Istanbul 2 Pistolen, 2 Gewehre, Explosiva 25
1999 20 2 1 Gewehr, 3 Pistolen, 88 Kugeln 10 24
2000 21 1 Pistole, 2 Kugeln 13 25
2001 23 9 49

Es wurden zwar seit 1996 Waffen gefunden,[5] aber keine bewaffnete Aktion registriert. Das führte die oberste Polizeidirektion dazu, die Organisation als eine "terroristische Organisation" einzustufen, die nach dem Anti-Terror Gesetz mit der Nummer 3713 zu beurteilen sei. Bei dieser Einschätzung war die angeblich geplante Aktion gegen das Mausoleum von Atatürk schon mit berücksichtigt.

Dieser Punkt ist deshalb wichtig, weil in der Regel die Gerichte, d.h. in diesem Fall die Staatssicherheitsgerichte, bzw. die sie ersetzenden Kammern an den Landgerichten der Meinung der obersten Polizeidirektion folgen bzw. die als "geheim" in den Akten vorhandenen Einschätzungen zur Grundlage ihrer Urteile machen (meistens sogar ausführlich daraus zitieren).

Inwieweit ein Zusammenhang mit den in Deutschland laufenden Verfahren bestand, d.h. die Behörden in der Türkei belastendes Material zur Verwendung der deutschen Justiz oder aber als Stütze der seit spätestens seit 1998 betriebenen Auslieferung suchten, mag erst einmal dahin gestellt sein. Aber auch in Erzurum ist eine verschärfte Gangart gegen mögliche Mitglieder von AFID seit 1998 zu verzeichnen.

Die Anklage zu Nummer 9 geht auf die Zusendung einer Zeitung an die republikanische Staatsanwaltschaft in Narman (Kreisstadt der Provinz Erzurum) vom 14.07.1999 zurück. In den Artikeln fand die Staatsanwaltschaft separatistische Propaganda (Verstoß nach Artikel 8 des ATG). Die Anklage vom 03.12.2001 hat die Vervielfältigung von Publikationen des Metin Kaplan zur Grundlage, obwohl es anscheinend außer dem Autor keine weiteren Verdächtigen (Verteiler oder Hersteller) gibt. Das ebenfalls nach Artikel 8 des ATG eröffnete Verfahren wurde mit dem ersten Verfahren verbunden (kein Datum genannt).

Der Anklage zu 11 liegen wiederum Sendungen aus Deutschland, dieses Mal an ein "örtliches Pressebüro in Erzurum" vom 15.01.2002 zugrunde. In dieser Anklageschrift stellt der Staatsanwalt fest, dass es ein Auslieferungsersuchen für Muhammet Metin Kaplan gibt. Des Weiteren wird ein Haftbefehl des SSG Erzurum im Verfahren 2000/299 (Verfahren zur Anklage 9) erwähnt.

Die Forderung nach einer Bestrafung nach Artikel 146/1 TStG wird nicht aufgrund der dieser Anklage zugrunde liegenden konkreten Punkte, sondern aufgrund des allgemeinen Sachverhaltes gefordert. Mit anderen Worten wird nicht dargelegt, in welcher Weise die am 15.01.2002 verschickten Publikationen den Straftatbestand des gewaltsamen Umsturzversuches, wie ihn der Artikel 146/1 TStG unter Strafe stellt (ehemals Todesstrafe, nun erschwerte lebenslange Haft), erfüllen sollen.

Die Anklage vom 19.12.2001 hätte eigentlich gut mit der Anklage vom 25.01.2002 zusammen gepasst, da aber die der Anklage zu 11 zugrunde liegende "Tat" kurz nach Erstellung dieser Anklage passierte, wurde eine neue Anklageschrift erstellt. Hier führt der Staatsanwalt am SSG Erzurum verschiedene Versandaktionen von Propagandamaterial in das Zuständigkeitsgebiet des SSG Erzurum auf (1998 mehrere Faxe nach Bayburt, Juni 1998 an Behörden in Kars, September 2000 an drei Bürger in Bayburt, Juni 1999 an die Staatsanwaltschaft und Polizei in Pasinler). Der Rest sind dann wieder die eher allgemeinen Feststellungen zu Metin Kaplan und die Organisation AFID.

Bevor eine Bestrafung nach Artikel 146 TStG gefordert wird, kommt noch die Feststellung, dass das SSG Erzurum am 11.11.1998 einen Haftbefehl ausgestellt hat und zwei Tage darauf die Oberstaatsanwaltschaft am SSG Erzurum die Unterlagen an das Justizministerium geschickt hat, damit die Auslieferung betrieben werden kann.

Spätestens seit 1998 hat die Türkei demnach aktiv die Auslieferung von Metin Kaplan betrieben und es dabei vorgezogen nicht auf Strafvorschriften wie Artikel 8 des ATG (Separatismus) oder Artikel 312/2 altes TStG (Aufstachelung zu Rassenhass) zurückzugreifen, sondern gleich zum "schlimmsten" Vorwurf des "Hochverrats" zu greifen. Darauf stand zu jenem Zeitpunkt noch die Todesstrafe, was wiederum eine Auslieferung unmöglich machte.[6]

Die Verhandlungen bis zum Urteil

Wie in Urteilen üblich folgt auf die Zusammenfassung der Anklagepunkte (in diesem Fall ausführliche Zitate) die so genannte "Verteidigung", d.h. das Vorbringen des Angeklagten und seiner Verteidiger. Hier wird in der Regel kurz auf die Aussage bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft und vor dem Haftrichter eingegangen, um danach ebenfalls verkürzt, die Einlassungen in der Hauptverhandlung zu zitieren. Das beginnt in dem Urteil gegen Metin Kaplan auf Seite 25, aber nicht in der Form einer Zusammenfassung, sondern der vollständigen Wiedergabe der Protokolle zu den einzelnen Verhandlungen. Diese existieren aber auch separat.

Es beginnt mit der Vorführung des Angeklagten vor dem Richter, bzw. der gesamten Kammer, die schon am 25.12.2003 angeordnet hatte, dass im Falle der Verwandlung des Haftbefehls in Abwesenheit zu einem ordentlichen Haftbefehl der Angeklagte ohne einen Termin bei den uniformierten Kräften unverzüglich dem Gericht vorzuführen sei.

Nach der Abschiebung vom 12.10.2004 war dieser Termin am 13.10.2004. Das Gericht protokollierte, dass der Angeklagte mit seinem Verteidiger Hüsnü Tuna erschien und ihm sämtliche Anklageschriften vorgelesen wurden. Dann sei es mit der "Leistung" (marifet) des Gerichtsdieners gelungen, von all diesen Schriften beglaubigte Kopien anzufertigen und sie in jeweils einem Exemplar (Ordner) dem Angeklagten und seinem Verteidiger zu übergeben.

Nach Belehrung übergab der Angeklagte zuerst seinem Verteidiger das Wort. Dieser verlangte eine Fristverlängerung, um die Verteidigung vorzubereiten. Nun folgt im Protokoll eine Passage, die immerhin ansatzweise Rückschlüsse auf die Atmosphäre der "Verhandlung" zulässt. In dieser Passage ist jeder Satz (teilweise sogar Halbsatz) ein Absatz. In der wörtlichen Übersetzung habe ich die Absätze zusammen gefügt,

"Dem Angeklagten wurden die Haftbefehle vorgelesen und ihm wurde gesagt, dass er zur Verkündung der Vollstreckung aufstehen solle. Der Angeklagte sagte, er werde nicht aufstehen. Als er erneut gefragt wurde, ob er so krank sei, dass er nicht aufstehen könne, antwortete der Angeklagte, dass er nicht aufstehen wolle und deshalb nicht aufstehen wolle. Der Angeklagte wurde an die Verfahrensweise, die von ihm einzuhaltenden Regeln und daran erinnert, dass er von der Verhandlung ausgeschlossen wird, wenn er sich nicht daran hält, und zu den folgenden Verhandlungen nicht zugelassen wird; dies als Benutzung des Rechtes auf Aussageverweigerung betrachtet werde und er auf sein Recht auf Verteidigung verzichtet habe. Der Angeklagte sagte, dass er die Folgen akzeptiere. Er habe die Warnungen des Gerichts verstanden, nur sei er so krank, dass er nicht aufstehen könne. Er verfolge keine andere Absicht."

Das Verfahren wurde nach Vollstreckung der Haftbefehle auf den 20.12.2004 vertagt.

Zu dieser Verhandlung war neben dem Anwalt Hüsnü Tuna auch der Anwalt Ismet Koc als Verteidiger erschienen. Als Erster kam Rechtsanwalt Hüsnü Tuna zu Wort. Er beantragte die Vereinigung der Verfahren in einer Anklageschrift, wobei der härteste Vorwurf unter Artikel 146/1 altes TStG der Vorwurf sei, der alle anderen Anklagepunkte einschließen würde. Das Gericht solle dazu das Recht auf Rückverweisung von Anklageschriften in Anspruch nehmen. In dem 4-seitigen Antrag sprach der Anwalt auch das Problem von Doppelverfahren an und bemängelte die Zusammensetzung des Gerichtes, da die Bestimmung des Gerichtes durch den Hohen Rat von Richtern und Staatsanwälten auf Vorschlag des Justizministers verfassungswidrig sei.

Der Staatsanwalt wurde zu einem Kommentar befragt und wies den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit zurück. Er betrachtete das Verfahren aus Adana unter der Anklageschrift 2002/20 (Anklage Nr. 8) als das Verfahren, das alle anderen Vorwürfe vor dem 18.01.2002 einschließe, als führend und beantragte, die Entscheidung über Doppelverfahren bis zur Urteilsverkündung zu vertagen.

Die Kammer fand in den Ausdrücken zwar andere Worte, aber schloss sich im Wesentlichen den Ausführungen des Staatsanwaltes an.

Nun kam der Angeklagte an die Reihe. Er legte ein 9-seitiges Schreiben als seine "Verteidigung" (Einlassung) vor. Darin lehnte er den Vorwurf ab, terroristische Aktivitäten entfaltet zu haben. Bis zu der Zeit, da der Verein Union der Islamischen Vereine und Gemeinden (ICCB) auf Druck der Türkei in Deutschland verboten wurde, sei dieser ein legaler Verein gewesen. Der "Cihat" (heilige Krieg) habe eine weite Bedeutung und schon die "Aufklärung" [7] sowie auch sein hiesiges Vorbringen gehören dazu. Er habe sich (stets) im Rahmen der Meinungs- und Ausdrucksfreiheit bewegt. Den Angriff auf das Mausoleum und die Moschee akzeptiere er nicht.

Nach einer Pause von 20 Minuten, die dem Angeklagten für die Erledigung seiner Bedürfnisse eingeräumt wurde, wollte das Gericht mehr über die Union der Islamischen Vereine und Gemeinden (ICCB) wissen. Der Angeklagte räumte lediglich ein, dass sein Vater der Gründer war und er nie der gesetzliche Vorsitzende war. Weitere Fragen dazu wollte er unter Berufung auf sein Aussageverweigerungsrecht nicht beantworten.

Sodann wurden einige Formalitäten vom Gericht geprüft. Dazu gehörten die Haftbefehle in Abwesenheit gegen die anderen Angeklagten, Videoaufnahmen, die sich der berichterstattende Richter angesehen hatte und die Übersetzung der Abschiebeverfügung aus Deutschland. Sodann wurden der Angeklagte und die Verteidiger gefragt, ob es Punkte gebe, die für die Verteidigung untersucht werden sollten.

Sie stellten zu diesem Zeitpunkt keine Anträge. Der Staatsanwalt wiederum beantragte Fortdauer der Untersuchungshaft und der Haftbefehle gegen die nicht anwesenden Angeklagten.

Auf den nächsten Termin angesprochen sagten die Anwälte, dass am 1. April 2005 neue Gesetze in Kraft treten würden und ein Termin vor diesem Datum wenig sinnvoll sei. Sie verwiesen darauf, dass sie jederzeit Anträge auf Haftentlassung stellen können. [9]

Das Gericht ordnete die Fortdauer der Haftbefehle an und vertagte sich auf den 4. April 2005. Zu diesem Termin sollte der Staatsanwalt entweder auf Veränderungen in der Anklage eingehen oder sein Plädoyer parat haben.

Vor der Verhandlung am 4. April scheint das Gericht eine medizinische Untersuchung des Angeklagten (zur Verhandlungsfähigkeit?) angeordnet zu haben, denn im Protokoll ist ein Gutachten der Gerichtsmedizin vom selben Tag um 11.28 Uhr erwähnt, aus dem hervorgeht, dass der Angeklagte an keiner Krankheit leide. Als Erstes wurde dann ein Verfahren gegen einen Mihdat Güler, das unter der Grundnummer 2005/19 vor derselben Kammer verhandelt wurde, mit dem Verfahren gegen Metin Kaplan und weitere 4 Angeklagte verbunden.

Dieser Mihdat Güler soll aus Frankreich abgeschoben und am 20.05.2004 über den Flughafen in Istanbul eingereist sein. Dabei seien keine Maßnahmen ergriffen worden. Die zuständige Staatsanwaltschaft im Kreis Sorgun (Provinz Yozgat) sei zwar informiert gewesen, aber erst am 30.11.2004 sei der Angeklagte auf Anweisung der Staatsanwaltschaft festgenommen worden. Die Staatsanwaltschaft habe ihn am 01.12.2004 vernommen und wieder freigelassen, die Akte mit der Entscheidung auf Nichtzuständigkeit und Hinweis auf eine Anklage nach Artikel 146/1 altes TStG am 10.12.2004 an die zuständige Staatsanwaltschaft in Ankara geschickt. Dort sei am 27.12.2004 beschlossen worden, dass die Sache nach Istanbul gehen solle, weil dort das Verfahren gegen Metin Kaplan anhängig sei und es einen Zusammenhang gebe.

Obwohl die Kammer das Verfahren mit der Nummer 2005/4 schon mit dem Verfahren gegen Metin Kaplan verbunden hatte, wurde in der Verhandlung nun die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung um Kommentare gebeten. Beide Seiten lehnte eine Zusammenlegung mit der Begründung ab, dass die Sache aufgrund des Tatortes nichts mit dem andauernden Verfahren zu tun habe und daher an das Gericht in Ankara, das unter dem Gesetz mit der Nummer 5190 (anstelle des SSG) gegründet wurde, zurückgeschickt werden solle.

Das Gericht fügte dem noch das Argument hinzu, dass nicht alle Verfahren von Personen aus einer bestimmten Organisation mit dem Verfahren gegen die führende Person der Organisation verbunden werden könnten, da sonst die Sache unübersichtlich würde. Zudem sei bei Vergehen im Ausland das Gericht zuständig, wo der Beschuldigte gefasst wurde.

Das Gericht stellte sodann fest, dass das Gesetz 5237 (das neue Strafgesetz) nicht in Kraft getreten war und bat den Staatsanwalt um sein Plädoyer. Aus dem 4-seitigen Plädoyer wurde nur die Forderung nach Abtrennung des Verfahrens gegen die anderen Angeklagten und eine Bestrafung des Angeklagten, die nach Artikel 146/1 des alten TStG mit der Nummer 765 erfolgen solle, zitiert. Solange solle der Angeklagte in Untersuchungshaft bleiben.

Nun wurden der Angeklagte und die Verteidigung zu ihren Plädoyers aufgefordert. Der Angeklagte überließ seinen Verteidigern wiederum das Wort. Hüsnü Tuna legte Arztberichte zu 6 Angeklagten aus dem Verfahren 1998/425 vor der 2. Kammer des SSG Istanbul vor. Dieses Verfahren hatte der Staatsanwalt in seinem Plädoyer als belastend für den Angeklagten aufgeführt. Aus den Arztberichten gehe hervor, dass die Angeklagten Seyit Ahmet Bal, Selami Boztepe, Tanju Pekdemir, Tuncay Gög und Kenan Bingöl gefoltert worden seien.

Die Verteidigung forderte, dass diese Personen als Zeugen gehört werden, da sie den Angeklagten beschuldigt haben sollen, die ihnen zur Last gelegten Aktionen angeordnet zu haben. Nach einem Entscheid über diesen Antrag würde die Verteidigung ihr Plädoyer halten.

Der Verteidiger Ismet Koc legte ein 7-seitiges Schreiben vor. Darin führte er aus, dass sein Mandant den Kalifatstaat befürworte, damit der islamische Glaube leben könne. Er habe aber gegen niemand Gewalt angewandt und in seinen Schriften sei kein Element von Gewalt enthalten. Bei der Ablehnung des Auslieferungsersuchens sei das Gericht in Düsseldorf davon ausgegangen, dass sein Mandant in eine schwere Lage kommen könne und habe auf die Tatsache hingewiesen, dass die unter Folter aufgenommenen Aussagen im Verfahren 1998/425 vor der 2. Kammer des SSG Istanbul herangezogen werden könnten.

Seinerzeit seien die Angeklagten mehr als 4 Tage in Polizeihaft gewesen. Die in diesem Verfahren erwähnten 3 Dynamitstangen und 3 Waffen seien auch nicht geeignet, um als geeignete Mittel im Sinne des Artikel 146 altes TStG oder Artikel 309 neues TStG gelten zu können.

Wenn gegen seinen Mandanten Vorwürfe erhoben werden könnten, so sei das der Vorwurf von "Beleidigung", auf den im alten und neuen TStG eine Höchststrafe von 2 Jahren Haft stehe. Daher beantragte er Freilassung von Muhammet Metin Kaplan.

Der Angeklagte äußerte den Wunsch, seine Gedanken in der Türkei frei zum Ausdruck bringen zu können. Er habe seine Gedanken nie in Aktionen umgesetzt. Das Verfassungsgericht in Deutschland habe (die Organisation) Kalifatstaat im Jahre 2001 auch nicht als Terrororganisation akzeptiert.

Des Weiteren beantragte er, mit seiner aus Deutschland angereisten Anwältin sprechen zu dürfen.

Auf die Ausdehnung der Beweisaufnahme angesprochen sagte der Staatsanwalt, dass die Anträge auf eine Verzögerung des Verfahrens hinausliefen und daher abgelehnt werden sollten.

Das Gericht beschloss nun a) noch einmal auf Antworten auf die Schreiben zur Situation der Haftbefehle der übrigen Angeklagten bis zur nächsten Verhandlung zu warten, ansonsten eine Abtrennung der Verfahren zu erwägen; b) die von der Verteidigung benannten Zeugen seien durch die 2. Kammer des SSG Istanbul verurteilt und die 9. Kammer des Kassationsgerichtshofs habe das Urteil bestätigt, damit habe es Rechtskraft; daher würde die Ladung und Befragung dieser Zeugen nichts Neues für das Verfahren gegen Metin Kaplan bringen und daher sei der Antrag abzulehnen; c) (hier werden wieder Emotionen des diktierenden Richters als Antwort auf die Anträge des Angeklagten deutlich und daher wörtlich übersetzt): "...der Angeklagte hat beantragt, das Urteil des Gerichtes in Düsseldorf und des deutschen Verfassungsgerichts von 2001 zu berücksichtigen.

"Unser Gericht ist ein unabhängiges und unparteiliches Gericht, das im Namen des türkischen Volkes Recht spricht. Unser Gericht braucht von niemandem, keiner Einrichtung und von keinem Gericht Suggestionen oder Empfehlungen. Wenn unser Gericht sein endgültiges Urteil fällt, wird es natürlich die türkische nationale Rechtslage, die Europäische Konvention der Menschenrechte und sonstige internationale Abkommen zu Menschenrechten sowie den Inhalt der Akte berücksichtigen. Aus diesem Grunde gibt es keinen Grund auf dieser Stufe (des Verfahrens) darüber zu befinden, da die Anträge zur Bewertung der Beweise der Angeklagten [10] im endgültigen Urteil bewertet werden."

Die weiteren Beschlüsse (d-f oder 4-7) bezogen sich auf eine feste (letzte) Frist für das Plädoyer der Verteidigung, den Verweis an das Justizministerium, was einen Besuch der ausländischen Anwältin beim Angeklagten betrifft, die Fortdauer der U-Haft und die Vertagung der Verhandlung auf den 30.05.2005.

In der Verhandlung vom 30.05.2005 war anscheinend ein neues Mitglied in der Kammer anwesend, denn die Protokolle der vorherigen Sitzungen sollen verlesen worden sein. Vom Justizministerium war ein Schreiben bezüglich eines Kontaktes des Angeklagten mit seiner ausländischen Anwältin eingetroffen. Es wurde zur Akte genommen (kein Hinweis auf den Inhalt). Wegen der Unterbrechung der Verhandlung wurde der Staatsanwalt erneut um sein Plädoyer gebeten, was er zusammenfassend machte.

Der Angeklagte ließ seinen Verteidigern erneut den Vortritt bei der Aufforderung zu einem Plädoyer. Anwalt Hüsnü Tuna sagte, dass er beantragte, die Beweisaufnahme wieder aufzunehmen. Die Zeugen Aslan Demir und Mustafa Subasi, die in Deutschland die Reden des Angeklagten verfolgt hätten, seien anwesend und könnten zu der Frage etwas sagen, ob in den Reden zum Terrorismus aufgerufen wurde.

Des Weiteren beantragte er eine weitere Frist für die Vorbereitung des Plädoyers, da die Verteidigung die 10 Aktenordner des Verfahrens nicht ausreichend studieren konnte.

Der Anwalt Ismet Koc wies auf das Urteil der 2. Kammer des SSG Istanbul aus dem Jahre 2000 (Aktenzeichen aus 1998) hin und sagte, dass das Gericht die Organisation als bewaffnet eingestuft habe. Dabei seien von 29 Angeklagten 16 freigesprochen worden. Bei den verurteilten Angeklagten sei auf Aussagen zurückgegriffen worden, die unter Folter aufgenommen wurden. Schließlich hätte das Gericht nicht darüber befinden sollen, ob es sich um eine bewaffnete Organisation handele. Daher solle die oberste Polizeidirektion angeschrieben und um eine Einschätzung der Organisation gebeten werden. Auch Ismet Koc beantragte eine erneute Frist für die Vorbereitung des Plädoyers.

Der Angeklagte Metin Kaplan schloss sich seinen Verteidigern an und legte ein 1-seitiges handschriftlich verfasstes Schreiben vor. Darin beantragte er die Beiziehung der Entscheidung des deutschen Bundesgerichts [11] und die Anerkennung eines fairen Gerichtsverfahrens. Man solle darauf warten, dass das neue Strafgesetz in Kraft tritt, da im Artikel 309 und den neuen Gesetzen die in den Anpassungsgesetzen an Europa vorgesehene Meinungsfreiheit definiert sei. Ferner solle das Urteil des Hohen Landesgerichtes in Düsseldorf [12] beigezogen werden, da dort nicht die Auslieferung, sondern die Freilassung beschlossen worden sei.

Nach seinem Kommentar gefragt sagte der Staatsanwalt, dass er einer Fristverlängerung zustimme, nicht aber einem erneuten Eintritt in die Beweisaufnahme. Ferner solle die U-Haft des Angeklagten andauern.

Die Kammer begann ihre Entscheidungen dann auch mit der Anordnung, dass die Untersuchungshaft weitergehe. Nach einer Wiederholung der in der Verhandlung gestellten Anträge lehnte das Gericht die Vernehmung der Zeugen Aslan Demir und Mustafa Subasi mit der Begründung ab, dass sie keine Neuigkeiten für das Verfahren präsentieren könnten und der Antrag auf Vernehmung von Zeugen aus dem Ausland nur darauf ausgerichtet sei, das Verfahren in die Länge zu ziehen, da eine solche Einvernehmung eine lange Zeit in Anspruch nehme. Gegen diese Entscheidung könne mit dem eigentlichen Urteil Revision eingelegt werden.

In Bezug auf das Urteil der 2. Kammer des SSG Istanbul betonte das Gericht, dass es im Ermessen der Gerichte liege, wie eine Organisation einzustufen sei und es nicht erforderlich sei, ein Gutachten der obersten Polizeidirektion einzuholen. Auch hiergegen könne mit dem eigentlichen Urteil Revision eingelegt werden.

Was eine erneute Frist für die Vorbereitung der Verteidigung angehe, so habe die Verteidigung seit dem 13.10.2004 Zeit gehabt, sich mit den Unterlagen zu befassen und seit der letzten Verhandlung (dem Plädoyer des Staatsanwaltes) seien 56 Tage verstrichen. Dies sei eine ausreichende Frist. Dennoch wurde entgegen der Meinung des Vorsitzenden Richters Metin Cetinbas eine erneute Frist gewährt und die Verhandlung auf dem 20.06.2005 vertagt. Alle anderen Anträge auf Wiedereintritt in die Beweisaufnahme wurden abgelehnt.

Der Richter Metin Cetinbas begründete seine ablehnende Haltung gegen eine Fristverlängerung u. a. mit der Rechtsprechung des EGFMR.

Am 20.06.2005 war die Kammer erneut umbesetzt worden. Daher sollen alle mit diesem Verfahren verbundenen Anklageschriften und sonstigen Dokumente aus der Akte erneut verlesen worden sein (behauptet das Protokoll). Der Inhalt von der CD und die Transkription von Kassetten sollen jedoch zusammenfassend referiert worden sein.

Detailliert geht das Protokoll weiter mit der Belehrung des Angeklagten nach Artikel 191 der neuen Strafprozessordnung (StPO, das Recht auf Aussageverweigerung) und Artikel 147 neue StPO (Bereitstellung von Rechtsbeistand und Beweisaufnahme zu beantragen, um sich vom Verdacht zu befreien).

Die beantragte 5-minütige Pause zu einem Gespräch mit den Verteidigern wurde dem Angeklagten gewährt. Danach beantragte der Angeklagte eine Frist, um seine Verteidigung vorzubereiten und sich mit seinen Verteidigern zu beraten. Die Anwälte schlossen sich an, während der Staatsanwalt die Entscheidung dem Gericht aufgrund der veränderten Verfahrensordnung überließ.

Danach beginnt eine langatmige Begründung, warum der Antrag auf erneute Fristverlängerung abgelehnt wird. So habe ein Anwalt schon eine Vollmacht besessen, bevor der Angeklagte in die Türkei geholt wurde. Zudem sei die neue StPO (Gesetz mit der Nummer 5271) darauf gerichtet, Prozesse in einer Verhandlung zu Ende zu führen.

Der Anwalt Hüsnü Tuna erwiderte, dass die Artikel 210 und 178 der neuen StPO vorschreiben, dass Zeugen, die zur Verhandlung gebracht werden, angehört werden müssen. [13] Daher wiederholte er den Antrag, Tanju Pekdemir, Selami Boztepe, Seyit Ahmet Bal, Kenan Bingöl, Tuncay Gög und die in Deutschland lebenden Aslan Demir und Mustafa Subasi als Zeugen zu hören. Von diesen Zeugen befänden sich Aslan Demir, Mustafa Subasi und Selami Boztepe vor dem Verhandlungsraum.

Der Staatsanwalt kommentierte zu Artikel 210 neue StPO, dass dies nur gelte, wenn der einzige Beweis aus einer Zeugenaussage bestehe und beantragte die Ablehnung des Antrages.

Das Gericht machte wieder ausführlichere Ausführungen zur Ablehnung, wobei es darauf verwies, das Verfahrensregeln nicht rückwirkend gelten und daher die in vorherigen Verhandlungen aufgeführten Gründe der Ablehnung zum Wiedereintritt in die Beweisaufnahme nach wie vor gültig seien.

Der Antrag auf Befangenheit des Vorsitzenden Richters

Daraufhin stellte Rechtsanwalt Hüsnü Tuna einen Befangenheitsantrag gemäß Artikel 25ff der neuen StPO gegen den Vorsitzenden Richter, den er auf 3 Seiten vorformuliert hatte. Laut Protokoll des Gerichts soll er den Antrag damit begründet haben, dass sich der Richter seit Beginn des Prozess nicht unparteilich

Der Rechtsanwalt Ismet Koc schloss sich dem Antrag an. Der Angeklagte beschwerte sich, dass das Gericht den Arztbericht zu seinem Gesundheitszustand akzeptiere, nicht aber die von der gleichen Ärztin ausgestellten Berichte zu Angeklagten, die sagten, dass sie gefoltert worden seien. Das zeige, dass der Vorsitzende Richter von Anfang nicht unparteilich gewesen sei. Außerdem habe der deutsche Staat ihn deshalb nicht ausgeliefert, weil er der Ansicht war, dass er kein faires Verfahren erhalte. Schaue man sich den Verhandlungsverlauf an, so werde klar, dass der Vorsitzende Richter nicht unparteilich sei.

Der Staatsanwalt bekundete, dass er das Verfahren bislang nur anhand der Akte (in Abwesenheit) kenne und zum ersten Mal direkt an der Verhandlung teilnehme. Er habe keinen Anlass, den Vorsitzenden Richter als befangen abzulehnen und halte auch die vorgebrachten Gründe nicht für stichhaltig.

Es folgt nun kein Hinweis auf eine Beratungspause, sondern gleich die Entscheidung, den Antrag auf Befangenheit abzulehnen, da er nicht rechtzeitig gestellt wurde und darauf gerichtet sei, das Verfahren in die Länge zu ziehen. Diese Entscheidung beruhe auf Artikel 31 neue StPO. [15] Dagegen könne Revision mit dem Urteil eingelegt werden. Außerdem könne Widerspruch bei der 9. Kammer des Landgerichts Istanbul eingelegt werden.

Erneut hielt die Staatsanwaltschaft, die keinen Antrag auf Wiedereintritt in die Beweisaufnahme stellte, ein Plädoyer, wobei es nun auch darum ging, ob das alte TStG oder das neue TStG anzuwenden sei. [17] Der Staatsanwalt sprach sich für das alte TStG aus, weil es hier nur nach einer Vorschrift (Artikel 146 TStG) zur Verurteilung des Angeklagten komme, das neue TStG jedoch vorschreibe, dass jedes Delikt gesondert abzuurteilen sei (für den Angeklagten wären das neben Artikel 309/2 auch die Artikel 311/2 und 220/4 und 5 neues TStG).

Neben einer Verurteilung nach Artikel 146/1 altes TStG forderte der Staatsanwalt die Abtrennung der Verfahren gegen die anderen Angeklagten.

Die Verhandlung wurde sodann für 1,5 Stunden unterbrochen, damit der Angeklagte sich mit seinen Verteidigern beraten konnte.

Nach der Beratung monierte der Rechtsanwalt zunächst, dass die Ablehnung des Befangenheitsantrags unter Teilnahme des abgelehnten Richters erfolgte. Sodann legte er ein 22-seitiges Plädoyer vor, aus der in 12 Zeilen zitiert wurde, dass die Beauftragung des Gerichts nach dem Gesetz 5190 (mit dem die Staatssicherheitsgerichte abgeschafft wurden) verfassungswidrig sei, der Vorsitzende Richter aufgrund seines zurecht weisenden Verhaltens gegenüber dem Angeklagten und seiner Haltung nicht als unabhängig und unparteilich zu bezeichnen sei. Auf Seite 17 der Ausführungen werde darauf verwiesen, dass die Rechts- und Strafverfahren wegen der Zeitschriften in das Verfahren hätten eingeführt und mit dem Verfahren hätten verbunden werden müssen. Die materiellen und ideellen Elemente der dem Angeklagten zur Last gelegten Taten seien nicht erfüllt und daher sei der Angeklagte zu entlassen. Des Weiteren sollen die für ihn positiven Bestimmungen angewendet werden.

Der Anwalt Ismet Koc verwies auf seine schon vorgebrachte schriftliche Verteidigung und kündigte an, weiter vortragen zu können, wenn ihm eine Frist eingeräumt werde. Er machte dann mündliche Ausführungen, von denen protokolliert wurde, dass der Vorsitzende Richter an dem Urteil beteiligt war, mit dem die Organisation zu einer bewaffneten Terrororganisation gemacht wurde. [18] Das damalige Urteil sei gegen die Ansicht des Vorsitzenden Richters gefällt und so vom Kassationsgerichtshof bestätigt worden. [19] Damit sei es aber nach internationalem Recht immer noch nicht gültig, denn es fuße auf Beweisen, die mit verbotenen Methoden gewonnen wurden. So habe das Justizministerium die Oberstaatsanwaltschaft am SSG Istanbul aufgefordert, die Vorwürfe von Folter und Misshandlungen zu untersuchen und die Oberstaatsanwaltschaft antwortete, dass einige Angeklagte Atteste hätten, die ihnen 3-4 Tage Arbeitsunfähigkeit bescheinigten. [20]

Der Anwalt monierte erneut, dass die Zeugen, die aussagen würden, dass der Angeklagte sie nicht angewiesen habe, bewaffnete Aktionen vorzubereiten, nicht in der Hauptverhandlung gehört wurden. Diese Aussagen habe er auf Kassette aufgenommen und könne sie vor Gericht abspielen. Er habe den Eindruck, dass nur aufgrund des beharrlichen Schriftverkehrs der Kammer mit der obersten Polizeidirektion diese die Organisation AFID als eine bewaffnete Terrororganisation eingestuft habe.

Der Anwalt zweifelte weiterhin an der Zuordnung der Waffen, die zum Teil im Rahmen von Waffenschmuggel gefunden wurden und bezüglich der Waffen im Hof der Moschee in Fatih eher ein staatliches Szenario sein dürften. Er beantragte Freispruch, da die Bedingungen einer Straftat nach dem Artikel 146/1 nicht erfüllt seien. Falls das Gericht eine andere Meinung vertrete, solle der Artikel 59 altes TStG, bzw. 62 neues TStG (gute Führung) angewendet werden, selbst wenn ein Antrag auf Befangenheit gestellt wurde. Sodann übergab der Anwalt als Erweiterung seines zuvor gestellten Antrages die Seiten 7-9 des Antrages in schriftlicher Form.

Nach einer 10-minütigen Pause wurde die Verhandlung wieder aufgenommen, wobei sofort im Anschluss dem Angeklagten eine 5-minütige Pause zum Gespräch mit seinen Anwälten gewährt wurde. Sodann legte er seine 10-seitige Verteidigungsschrift vor und wurde daraus u. a. mit den Worten zitiert: "ich kritisiere nicht Personen, sondern die kemalistische Ideologie. Es muss als normal betrachtet werden, dass jemand einen Staat will, der auf dem Islam beruht. Meinungen müssen Meinungen entgegen gehalten werden... Wir sind (Ich bin) kein Staats- und Nationenfeind und dunkle Stimme. Wir haben keine terroristische Tat begangen. Ich lehne terroristische Aktionen und Aktivitäten ab. Ich weise alle Beschuldigungen von mir. Sie richten über uns (mich) unter Vorurteilen. Ich verlange ein Gutachten. Das ist mein Recht. Meinungsäußerungen sind keine Straftat mehr. Ich beantrage Freispruch und Freilassung."

In der Abschrift des Urteils folgt dann die (anscheinend) komplette Wiedergabe dieser "Verteidigung" auf den Seiten 55-63, auf deren Übersetzung ich verzichtet habe.

Nun wurde der Staatsanwalt zu einem Kommentar der Anträge der Verteidigung gebeten (Verfassungswidrigkeit des Gerichtes, Ablehnung des Vorsitzenden Richters als befangen, Zusammenlegung mit anderen Verfahren, Anhören von Kassetten und eines Gutachters). Der Staatsanwalt beantragte die Ablehnung dieser Anträge aufgrund des Stadiums des Verfahrens und der Tatsache, dass er sein Plädoyer gehalten habe.

Das Gericht lehnte dann den Antrag auf Verfassungswidrigkeit wegen Unernsthaftigkeit (im Deutschen würde es wohl "offensichtlich unbegründet" heißen) ab. Da zum Befangenheitsantrag schon vorher entschieden worden war, wurde kein neuer Beschluss gefällt. Bezüglich der Zusammenlegung von Verfahren, die wegen Publikationen in Bagcilar (Istanbul), Bayburt, Tunceli und Pasinler eröffnet worden waren, entschied das Gericht, dass Rechtsverfahren nicht mit Strafverfahren zusammen gelegt werden können und eine Zusammenlegung mit den anderen Verfahren nur auf eine Verzögerung des Verfahrens hinausliefe.

Das Abspielen von Videokassetten mit Aussagen sei gegen die Verfahrensordnung und das Gesetz, solange diese Aufnahmen nicht vor einem Gericht gemacht wurden. Zur Beiziehung eines Gutachters sei schon in der letzten Verhandlung entschieden worden und der Antrag werde daher einstimmig abgelehnt. Der Angeklagte und die Verteidiger verzichteten auf ein letztes Wort.

Die "Beweise"

bzw. die Bedeutung vorhergehender Verfahren
Nun werden ab Seite 65 die Beweismittel aufgelistet. Im Aktenordner 1 sollen sich u. a. befinden: 2 Zeitungsmeldungen über Mordbefehle (Fetwa) gegen den Staatsanwalt am SSG Ankara Nuh Mete Yüksel. [21] Der Rest der vermeintlichen Beweisstücke in insgesamt 12 Aktenordner sind gerichtliche Schreiben, Video- und Audiodisketten und Publikationen.

Das Gericht will all diese Beweisstücke bei der Urteilsfindung berücksichtigt haben. Insbesondere aber will es sich auf die Aussagen des vor der gleichen Kammer im Verfahren mit der Grundnummer 1999/243 angeklagten Ehepaars Seven und die im Verfahren vor der 2. Kammer des SSG Istanbul unter der Grundnummer 1998/425 angeklagten Mehmet Demir, Ahmet Cosman, Kenan Bingöl und Erkan Kuskaya stützen.

Ab Seite 69 wird dann aus dem Urteil gegen das Ehepaar Seven vom 23.05.2001 zitiert. Hierbei wird ausführlich aus der Aussage des Harun Seven bei der Polizei vom 04.07.1999 zitiert, in der er sich als (in Frankreich) aktives Mitglied der gegen die Regierenden in der Türkei gerichteten Organisation AFID bezeichnet. Es werden dann weitere Angaben zur Organisation gemacht, wie sie dem Erkenntnisstand der Polizei entsprochen haben können (Zentrale in der Ulu Moschee in Köln etc.). Bei der Staatsanwaltschaft in Ipsala soll der Angeklagte seine Angaben bei der Polizei bestätigt haben, aber vor dem Haftrichter sich insofern korrigiert haben, dass er mit den führenden Mitgliedern der Organisation nichts zu tun habe. Dort fanden die Vernehmungen am 07.07.1999 statt.

In der Hauptverhandlung wies der Angeklagte dann die Beschuldigungen von sich und sagte (laut Protokoll), dass er im Ermittlungsstadium (dies kann jedes Verhör bis zu dem beim Haftrichter gewesen sein, es ist aber unklar, an welcher Stelle der Angeklagte anwaltlich vertreten war) trotz der Anwesenheit eines Anwalts und in Gegenwart seiner Ehefrau aus Angst gegen seinen Willen diese Angaben gemacht habe.

Die Ehefrau Hanife Seven gab sich sowohl bei der polizeilichen Vernehmung am 05.07.1999 als auch beim Staatsanwalt und Haftrichter am 07.07.1999 als Sympathisantin der AFID aus, lehnte in der Hauptverhandlung aber jede Beziehung zur Organisation ab. Die im Auto gefundenen Publikationen seien nicht zu Propagandazwecken mitgebracht worden.

Die Auszüge aus dem Urteil geben leider keinen Aufschluss darüber, wie lange die Angeklagten in Polizeihaft waren. Normalerweise werden die Aussagen bei der Polizei erst am Ende der Polizeihaft aufgenommen. Hier aber liegen drei bzw. zwei Tage zwischen den Aussagen bei der Polizei und denen beim Staatsanwalt und Haftrichter. Von daher gehe ich von einer minimalen Dauer der Polizeihaft von 4 Tagen aus. In dieser Zeit kann natürlich Folter angewendet worden sein, obwohl das Protokoll des Gerichts dementsprechende Beschwerden nicht angibt.

Dafür ist es umso erstaunlicher, dass das Gericht in seiner Beweiswürdigung gleich am Anfang feststellt: "Aus den Arztberichten geht hervor, dass die angeklagten Harun und Hanife Seven im Ermittlungsstadium keine Spuren von Schlägen oder Gewalt erhielten; mit anderen Worten keiner Misshandlung ausgesetzt waren..."

Auf Seite 73 der Abschrift des Protokolls wird dies unter Hinweis darauf, dass sich die Angeklagten auch nicht beschwert haben, wiederholt und daraus gefolgert, dass ihre Aussagen bei der Polizei nach freiem Willen abgegeben wurden. Harun Seven wurde dementsprechend als Mitglied einer bewaffneten Bande (Artikel 168/2 altes TStG) zu einer Strafe von 12,5 Jahren Haft verurteilt, während seine Ehefrau als Unterstützerin (Artikel 169 altes TStG) eine Strafe von 45 Monaten Haft erhielt.

Das Verfahren aus dem Jahre 1998

 
Bei der Zusammenfassung des (für den Schuldspruch und die Strafzuweisung zentralen) Urteils der 2. Kammer des SSG Istanbul vom 11.04.2000 (ab Seite 76 der Abschrift des Urteils) fehlen zunächst einmal die teilnehmenden Richter (hier wäre der beisitzende Richter Metin Cetinbas mit der Dienstnummer 24570 aufgefallen) und die Personalien der Angeklagten (dort sind  jeweils die Daten der offiziellen Festnahme und der Beginn der U-Haft vermerkt).
 
Nach dem begründeten Urteil (18 Seiten), das ich separat einsehen konnte, hatte das Verfahren 29 Angeklagte, die zwischen dem 29.10. und 13.11.1998 festgenommen wurden. Nach der Anklageschrift (die eine Wiedergabe der von der Polizei als "fezleke" erstellten "Übersicht" zum Ergebnis der Ermittlungen ist) wurde zunächst Tanju Pekdemir festgenommen und in dessen "zur Verfügung gestellten" Wohnung wurde eine Gruppe von 13 Personen festgenommen, über die wiederum andere Angeklagte in der Nähe der Moschee Fatih in einem Auto sowie andere Angeklagte in Erzurum, Malatya und Gelibolu festgenommen wurden.

Die Anklageschrift, die in der Abschrift des Urteils vom 20.06.2005 unter der Überschrift "nach Beratung" (der Kammer) aufgeführt wird, führt aus, dass die geplante Aktion, ein mit Sprengstoff beladenes Flugzeug bei den Feierlichkeiten des 29. Oktober (Tag der Republik) ins Mausoleum rasen zu lassen, eine Aktion des von Metin Müftüoglu (Kaplan) ausgerufenen heiligen Krieges sei. Der Angeklagte Kuddusi Armagan sei für die Aktion ausgewählt worden und habe in der Nähe von Dillenburg (Hessen) Probeflüge mit einer Cesna gemacht, bevor er am 17.10.1998 nach Sivas kam und dort die Angeklagten Ahmet Cosman, Mehmet Demir und Kenan Bingöl als Helfer für die Aktion habe gewinnen können. Vom Schwiegervater des Erkan Kuskaya hätten sie Sprengstoff erhalten, wie er beim Fischfang benutzt werde.

Kuddusi Armagan und Ahmet Cosman seien am 19.10.1998 nach Ankara gefahren, hätten dort aber kein Flugzeug mieten können und seien deswegen nach Istanbul weiter gefahren. Unterwegs habe Ahmet Cosman den Kuddusi Armagan überzeugt, selber der Pilot zu sein, weil er in der Luftwaffe gedient habe. Da sie in Istanbul ebenfalls kein Flugzeug mieten konnten, seien sie nach Bursa gefahren und hätten sich dort am 2. Oktober, [22] einem Mittwoch mit Safak Air geeinigt, eine Tour über Bursa für 250 Dollar zu machen. Am 22. Oktober hätten sie dann einen 1-stündigen Flug über Bursa gemacht. Dabei soll Ahmet Cosman dem Piloten "auf die Finger geschaut" haben, 5 Minuten sogar selber geflogen sein, so dass die Angeklagten sich sicher waren, ein Flugzeug in die Luft und wieder auf den Boden bringen zu können.

Danach folgen weitere Details zu den "Vorbereitungen" (Reisen etc.), wobei sie (nebenbei noch) das AFID Mitglied Halis Serin gefunden und dafür gesorgt haben sollen, dass er mitmachte. Inzwischen seien auch PKWs (teilweise von Personen aus Deutschland) vorhanden gewesen, mit denen Explosiva in die Nähe von Alibeyköyü (bei Ankara) gebracht worden und vergraben worden seien, da die Angeklagten von dort mit dem Flugzeug hätten starten wollten. Am 28.10.1998 seien sie dann nach Bursa gegangen, wo ihnen der Vertreter der Fluggesellschaft sagte, dass wegen der Wetterlage kein Flugzeug starten könne. Damit seien die Pläne "ins Wasser gefallen".

Die Explosiva sollen sie dann abgeholt und auf dem Weg nach Istanbul auf die Idee gekommen sein, die Sache am 10. November (Todestag von Atatürk) zu wiederholen. Deshalb hätten sie einen Teil der Waffen und Explosiva in der Nähe von Bolu und einen anderen Teil (für eine andere Aktion) im Hof der Moschee in Fatih am Morgen des 29.10.1998 vergraben. Ahmet Cosman und Kuddusi Armagan seien noch am selben Tag im Auto festgenommen worden.

Neben dem, was aus den Aussagen der Angeklagten zu den beschlagnahmten Gegenständen hervorgehen soll, wird auch ein Schreiben des Generaldirektorats für zivile Luftfahrt vom 02.11.1998 zitiert, nach dem eine voll aufgetankte Cesna 4-5 Stunden in der Luft sein kann und eine Strecke von Bursa nach Ankara und zurück fliegen kann. Ahmet Cosman habe die Polizei zu den bei Bolu vergrabenen Explosiva geführt.

Was die Aktion in der Moschee in Fatih anbetrifft, so soll der Angeklagte Seyit Ahmet Bal im Juni nach Sivas gekommen sein und dem Mehmet Demir und anderen den Gedanken nahe gebracht haben, durch das Hissen der Flagge des Kalifats auf der Moschee den Gedanken des Kalifatstaats allen Menschen nahe zu bringen. Dazu sollten dann (auf recht komplizierte Weise und in diversen Städten) Waffen im Werte von 5.800 Mark gekauft werden. Als sie (die Tatbeteiligten) von der Festnahme ihrer Freunde in Istanbul hörten, hätten sie von der Aktion Abstand genommen und die bis dahin erworbenen Waffen versteckt.

In der Anklage hatte der Staatsanwalt eine Bestrafung des Angeklagten Mehmet Demir nach Artikel 168/1 altes TStG (führende Mitgliedschaft), die Bestrafung von 5 Angeklagten als Unterstützer (Artikel 169 TStG) und die Bestrafung der anderen Angeklagten nach Artikel 168/2 TStG (einfache Mitgliedschaft) gefordert. Im Plädoyer forderte er Freispruch für die Angeklagten, die er ursprünglich als Unterstützer angesehen hatte. Bei Mehmet Demir hielt er am anfänglichen Vorwurf fest, während er bei 17 Angeklagten den Vorwurf der Mitgliedschaft in Unterstützung änderte.

Zwischen der anfänglichen Anklageschrift und dem Plädoyer hätte eigentlich die so genannte "Verteidigung" (Einlassungen der Angeklagten) stehen sollen. Sie wurden an dieser Stelle (Seite 79 der Abschrift) des Urteils aber ausgespart, weil darauf gesondert eingegangen werden sollte.

Nach einer Auflistung der "Beweismittel" folgt das "Ergebnis der Beweisaufnahme". Hier wird mit anderen Worten und teilweiser strafrechtlicher Bewertung noch einmal das berichtet, was in der Anklageschrift stand. Am Ende der Verhandlung wurden 15 Angeklagte freigesprochen. 3 Angeklagte wurden als Unterstützer verurteilt. Der Angeklagte Mehmet Demir wurde als führendes Mitglied verurteilt und 10 Angeklagte wurde als einfache Mitglieder einer bewaffneten Bande verurteilt.

Gegen die Freisprüche wurde keine Revision eingelegt. Sie wurden am 19.04.2000 rechtskräftig. Zwei "Unterstützer" verzichteten auf Revision. Ihre Verurteilungen wurden im Juni 2000 rechtskräftig. Die anderen Urteile wurden durch die Bestätigung der 9. Kammer des Kassationsgerichtshofs am 18.12.2000 rechtskräftig.

Ab Seite 86 (bis 110) der Abschrift des Urteils vom 20.06.2005 präsentiert die 14. Kammer des Landgerichts Istanbul seine Ansichten über die "Terrororganisation Kalifatstaat (ICB-AFID). Dies sind natürlich nicht eigene Erkenntnisse, sondern das, was die oberste Polizeidirektion der Türkei mitgeteilt hat. Ich halte es nicht für notwendig, diese Passagen zu referieren.

Die Aussagen bei der Polizei

 
Wichtiger sind die Ausführungen ab Seite 111, mit denen versucht wird, die Behauptung der Verteidigung zu widerlegen, dass das Urteil der 2. Kammer des SSG Istanbul vom 11.04.2000 auf erfolterten Aussagen beruht. Schließlich sei das Urteil vom Kassationsgerichtshof überprüft und für rechtens befunden worden. Die detaillierte Argumentation beginnt mit dem ausgelassenen Teil des Urteils vom 11.04.2000, dem Vorbringen der Angeklagten in diesem Verfahren. Hier werden für jeden Angeklagten seine Einlassungen vor Gericht (in der Hauptverhandlung) aufgeführt und sodann auf das Aussageverhalten bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft und dem Haftrichter in der Form von "Geständnis" (Gest.), "Vorwürfe abgelehnt" (Abl.) hingewiesen.
 
Die von der 14. Kammer des Landgerichts "bevorzugten" Angeklagten sind bis auf Kenan Bingöl andere Angeklagte als die von der Verteidigung als Zeugen benannten Angeklagten. Ich habe daher eine Übersicht über das Aussageverhalten der jeweiligen Gruppen angefertigt.

Die vom Gericht "bevorzugten" Angeklagten
 
Name Polizei StA Richter Hauptverh.
M. Demir Gest. Gest. Gest. Abl.
A. Cosman Gest. Gest. Gest. Abl.
K. Bingöl Gest. Gest. Gest. Abl.
E. Kuskaya Gest. Gest. Gest. Abl.

Die von der Verteidigung benannten Zeugen:
 
Name Polizei StA Richter Hauptverh.
T. Pekdemir Gest. Abl. Abl. Abl.
S. Boztepe Gest. Abl. Abl. Abl.
S.A. Bal Gest. Abl. Abl. Abl.
K. Bingöl Gest. Gest. Gest. Abl.
T. Gög Gest. Abl. Abl. Abl.

In der Abschrift des Urteils vom 20.06.2005 sind in dieser Weise 14 Angeklagte aufgeführt, von denen lediglich die 4 für das Gericht "wichtigen" Angeklagten ihre polizeiliche Aussage bei der Staatsanwaltschaft und dem Haftrichter (teilweise) bestätigten. Anders herum ausgedrückt haben sich vermutlich schon bei den Vernehmungen durch den Staatsanwalt und den Haftrichter 10 der 14 Angeklagten wegen Folter und Misshandlung beschwert, bzw. dies als Grund vorgebracht, warum sie ihre polizeilichen Aussagen ablehnen. [23]

Nachdem ich mir die Passage in dem begründeten Urteil vom 11.04.2000 angeschaut habe, kann ich sagen, dass die weiteren 15 Angeklagten alle ihre Aussagen bei der Polizei ablehnten und die Vorwürfe beim Staatsanwalt und dem Haftrichter von sich wiesen. Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass alle 29 Angeklagten ihre Aussagen bei der Polizei nicht aus freien Stücken gemacht haben, bzw. dass verbotene Verhörmethoden angewandt wurden. Platt ausgedrückt heißt es, dass alle 29 Angeklagten gefoltert wurden. Bevor ich aus anderen Dokumenten einen näheren Blick auf das Phänomen Folter (bzw. erfolterte Aussagen) werfe, sollte ich noch erwähnen, wie lange die Angeklagten in Polizeihaft gehalten wurden.

Die meisten von ihnen wurden zwischen dem 29. oder 30.10.1998 und dem 05.11.1998 (d. h. mindestens 7 Tage) in Polizeihaft gehalten, 2 wurden am 05.11. und vier am 10.11. festgenommen und diese 6 Angeklagten kamen am 12.11.1998 in U-Haft. Ein Angeklagter schließlich wurde am 13.11. festgenommen und kam am 16.11.1998 in U-Haft. In einzelnen Fällen kam dazu noch Polizeihaft in den jeweiligen Orten hinzu, in denen sie aufgegriffen worden waren. In jedem Fall aber war die Dauer der Polizeihaft anscheinend ausreichend, um die Verdächtigen unter Folter zu einem Geständnis zu bewegen.

Schließlich sollte ich aus dem Urteil vom 11.04.2000 noch erwähnen, dass bei keinem der Angeklagten ein Grund für die Ablehnung der polizeilichen Aussage angegeben wird, d. h. es taucht weder das Wort "Folter" noch "Druck" oder "unterschreiben bei verbundenen Augen" auf (wie es sonst üblich ist).

Deutlicher wird die umstrittene "Folter", wenn man sich das Protokoll zur Vernehmung beim Haftrichter Dr. Adnan Yagci am 05.11.1998 anschaut. Der Staatsanwalt hatte 21 Verdächtige mit dem Antrag auf Ausstellung eines Haftbefehls zu diesem Richter an der 2. Kammer des SSG Istanbul geschickt (d.h. bis dahin waren 21 der späteren Angeklagten festgenommen worden). Der Richter Adnan Yagci besaß nicht nur einen Doktortitel, sondern war einer der Militärrichter, die im Juni 1999 aus den Staatssicherheitsgerichten "entfernt" wurden.

Ich werde nur die Teile des Protokolls übersetzen, in denen auf Folter und Misshandlung eingegangen wird. Mir fehlt leider Seite 3 des Protokolls, daher weiss ich nicht, ob sich Kuddusi Armagan zu dem Punkt geäußert hat. Ahmet Cosman sagte, dass seine Aussage bei den uniformierten Kräften unter Druck aufgenommen. Er habe 5 Aussagen bei der Polizei unterschrieben. Sie seien zerrissen und aufs Neue geschrieben worden.

Mehmet Demir lehnte die Aussage bei den uniformierten Kräften mit den Worten ab, dass jede Art von Folter an ihm ausprobiert wurde. Er bestätigte zwar gewisse Pläne zu sensationellen Aktionen, von denen sie aber vor der Ausführung Abstand nahmen (u. a. weil viele Menschen zu Schaden kämen). Am Schluss der Vernehmung (aller Angeklagten) fügte er hinzu, dass er bereue.

Tuncay Gög sagte, dass die Aussage bei der Polizei unter Folter aufgenommen wurde. Seyit Ahmet Bal lehnte seine Aussage bei der Polizei ab (kein Grund). Tanju Pekdemir sagte, dass er unterschreiben musste, was die Polizei aufgeschrieben hatte. Muharrem Kavak sprach ebenfalls von Folter. Fikret Cinni lehnte seine polizeiliche Aussage unter Hinweis auf Folter ab. Oktay Kuskaya sagte ebenfalls, dass Folter angewendet wurde. Mehmet Biyik sagte, dass seine polizeiliche Aussage unter Folter aufgenommen wurde. Ahmet Bakir sagte, dass seine Aussage unter Folter aufgenommen wurde. Nizamettin Kilic lehnte seine polizeiliche Aussage entschieden ab, da sie das Resultat von Druck und Folter sei. Kadir Kiziltas sagte, dass er bei der Polizei nicht gefoltert wurde, aber ein Teil seiner Aussage bezüglich der Mitgliedschaft bei AFID sei falsch protokolliert.

Muhlis Özölcer sagte, dass die Hälfte seiner Aussage korrekt und die andere Hälfte falsch sei, denn sie sei unter Druck aufgenommen worden. Ali Karatas lehnte seine Aussage bei der Polizei ab, da er sie unter Druck unterschrieben habe. Selami Boztepe meldete sich zum Schluss noch einmal und sagte, dass er bei der Polizei keine freie Aussage gemacht habe. Danach sei er nicht gefragt worden. Er sei Folter ausgesetzt gewesen und habe die Aussage unterschrieben, ohne sie gelesen zu haben.

Dem Augenschein nach war bei der Vernehmung durch den Haftrichter kein Anwalt zugegen, obwohl dies rechtlich möglich gewesen wäre. Zu Beginn wurde lediglich protokolliert, dass den Angeklagten der Tatvorwurf und der Antrag des Staatsanwaltes auf Haftbefehl erklärt wurde. Ihnen seien ihre Rechte erläutert worden.

Vor Antritt der Haft, bzw. wahrscheinlich sogar bevor die Verdächtigen dem Staatsanwalt vorgeführt wurden, wurden sie zur Gerichtsmedizin gebracht. In der Akte sind Arztberichte vom 05.11.1998 zu Bayram Koc, Tuncay Gög, Selami Boztepe, Tanju Pekdemir, Haci Ahmet Özdemir, Muharrem Kavak und Ali Karatas vorhanden, in denen sie sich wegen brutalen Schlägen, Aufhängen, Abspritzen mit kaltem Wasser, Quetschen der Hoden (in einem Fall auch Stromstöße über die Genitalien) beschwerten und die Medizinerin bestätigte, dass es Spuren von Schlägen und Gewalt gab (schlecht leserliche Beschreibung der Wunden).

Bei der ersten Verhandlung vor der 2. Kammer des SSG Istanbul (vermutlich am 11.03.1999) war vielleicht der Militärrichter Adnan Yagci noch dabei. Ich konnte leider nur Teile des Protokolls einsehen und weiß es daher nicht. Was im Urteil nicht mehr steht, wurde an diesem Tage jedoch protokolliert. Auf der handschriftlich als Seite 21 der Akte vermerkten Seite wird nach der logischen Folge der Angeklagten zur laufenden Ziffer 8 (das könnte Tanju Pekdemir gewesen sein) mit den Worten protokolliert: "Ich akzeptiere meine polizeiliche Aussage nicht. Von den 8 Tagen in Polizeihaft vergingen 5 mit Folter. Aus dem Grunde war ich gezwungen zu unterschreiben, was sie geschrieben hatten. Sonst drohten sie mit Tötung."

Nizamettin Kilic wird auf Seite 22 mit den Worten zitiert: "Sie haben viel gefoltert, aber das hinterlässt keine Spuren. Deswegen hat der Arzt (die Ärztin) nichts geschrieben."  Kadir Kiziltas sagte, dass er gezwungen war, zu unterschreiben, was "sie" geschrieben hatten. Selami Boztepe schilderte, dass sie erst mit einer Aktion gegen das Kopftuchverbot beschuldigt wurden und es dann um die Bombardierung des Mausoleums ging. Sie hätten heißes und kaltes Wasser gegeben (sie abgespritzt?), aufgehängt, so dass er gezwungen war zu unterschreiben, was sie geschrieben hatten. Später sagte er noch einmal, dass er schwer geschlagen wurde.

Tuncay Gög sagte, dass er erst die Teilnahme an einer Demonstration gegen das Kopftuchverbot verneint habe, dann aber splitternackt herum geführt wurde und die Demonstration zugegeben habe. Dann habe man ihn nach Gewehren gefragt. Er habe dem Druck und der Folter nicht standgehalten und die Protokolle unterschrieben. Noch einmal auf die polizeiliche Aussage angesprochen sagte er, dass die Polizei die Aussage geschrieben habe und er gezwungen war, sie zu unterschreiben. Auf den Arztbericht zu Spuren von Schlägen und Gewalt angesprochen sagte er, dass sie in Wirklichkeit gefoltert wurden.

Der Angeklagte Seyit Ahmet Bal wurde sogar gefragt, ob er gefoltert wurde oder nicht. Er sagte, dass er nicht allzu arg verprügelt wurde, weil seine Aussage als letzte aufgenommen wurde. Er lehnte aber seine Aussage ab, weil die Polizisten sie geschrieben hätten und er gezwungen war, sie zu unterschreiben. Auf den Arztbericht angesprochen, in dem keine Spuren von Schlägen und Gewalt verzeichnet waren, sagte er, dass er keine so schlimmen Schläge erhalten habe, die Spuren hinterlassen würden.

Die von mir hier aufgelisteten "Informationen" haben in weitaus umfangreicherem Maße sowohl der 2. Kammer des SSG Istanbul vor der Urteilsfindung als auch der 14. Kammer des Landgerichts Istanbul (6. Kammer des SSG Istanbul) vorgelegen. Sie wurden aber weder im Urteil der 2. Kammer des SSG Istanbul vom 11.04.2000 noch im Urteil der 14. Kammer des Landgerichts Istanbul vom 20.06.2005 erwähnt, obwohl sie bei der Einschätzung, ob einige oder alle Aussagen bei der Polizei erfoltert wurden, eine wichtige Rolle spielen dürften.

Die 14. Kammer des Landgerichts zitiert auf der Seite 116 der Abschrift des Urteils erneut aus dem Urteil der 2. Kammer des SSG Istanbul, aber dieses Mal nur jene Passagen, wo die Angeklagten angeblich ihre Aussagen bei der Polizei vor dem Staatsanwalt und dem Haftrichter bestätigten. Zu den oben genannten 4 von 29 Angeklagten, die ihre polizeilichen Aussagen beim Staatsanwalt und Haftrichter bestätigt haben sollen, werden noch weitere 3 Personen (Kuddusi Armagan, Halis Serin und Tanju Pekdemir) genannt, die zwar die Vorwürfe von sich gewiesen haben sollen, dafür aber den so genannten "organisatorischen Zusammenhang" geschildert haben sollen. Ähnliches wird auf Seite 117 von 7 weiteren Angeklagten behauptet.

Ein Blick in die richterliche Vernehmung vom 05.11.1998 vermittelt jedoch einen anderen Eindruck. Dort haben lediglich Mehmet Demir und Ahmet Cosman eingeräumt, aus "freien Stücken" (also ohne Anleitung oder Befehl einer dritten Person) mit dem Gedanken von sensationellen Aktionen gespielt zu haben, um auf die missliche Lage der Moslems hinzuweisen. Ahmet Cosman hat dabei betont, dass er keiner Gruppe angehöre und dass lediglich Mehmet Demir und er die Dinge planten (d.h. er wollte alle anderen Angeklagten sozusagen "in Schutz nehmen"). Die übrigen Einlassungen der bis zum 5. November gefassten Verdächtigen gehen eher in die Richtung von landsmannschaftlichen Bekanntschaften, die sie bei einem Besuch in der Heimat auffrischen wollten und zu diesem Zweck auch touristische Unternehmungen durchgeführt haben (wie den Rundflug über Bursa).

An dieser Stelle sollte ich auf die unterschwellige "Logik" der Gerichte in der Türkei eingehen, denn sie wird an keiner Stelle der Abschrift des Urteils wirklich deutlich. Die Richter gehen davon aus, dass Aussagen beim Staatsanwalt und dem Haftrichter immer aus "freien Stücken" erfolgen, d.h. eine Falschaussage dort nicht möglich ist, weil mindestens im Moment der Aufnahme dieser Aussagen keine physische Folter angewandt wird. Meistens ist aber dort die Vernehmung auf die Frage beschränkt, ob jemand etwas zu den Anschuldigungen sagen möchte und ob die Aussage zur Polizei akzeptiert oder abgelehnt wird. [25] Wenn nun einige der Beschuldigten, ihre Angaben bei der Polizei teilweise oder in mehr oder weniger vollem Umfang bestätigen, bedeutet dies für die Richter, dass die polizeilichen Aussagen korrekt waren. Wenn die dann auch noch untereinander "stimmig" sind, werden alle Aussagen, wie sie in die Übersicht (fezleke) der Polizei und in die Anklageschrift eingeflossen sind, als sich gegenseitig "stützende" Beweise für die Urteilsfindung herangezogen. Mit anderen Worten haben die Aussagen in der Hauptverhandlung, bzw. auch die Einlassungen beim Haftrichter nur eine untergeordnete Rolle.

Aus den schriftlichen Ausführungen auf Seite 117 der Abschrift des Urteils geht hervor, dass die 2. Kammer des SSG Istanbul anscheinend die Beamten, die die Aussagen und diverse Protokolle (Gegenüberstellung, Ortstermine etc.) unterschrieben, als Zeugen geladen hat und diese aussagten, dass die von ihnen aufgenommen Aussagen und angefertigten Protokolle korrekt seien.

Davon ist im Urteil vom 11.04.2000 keine Rede und ich hatte leider auch keine Möglichkeit, das Protokoll der diesbezüglichen Sitzung einzusehen. Somit weiß ich nicht, ob der Verteidigung und den Angeklagten die Gelegenheit gegeben wurde, die Zeugen zu befragen und ob evtl. einige der Angeklagten unter den Zeugen Personen erkannt haben könnten, die für die Folter (mit)verantwortlich waren. Für die Jahre 1999 und 2000 aber ist schon die Ladung von Beamten außergewöhnlich, selbst wenn ihre Befragung nur einen formellen Charakter gehabt haben wird.

Das nächste Argument für die Korrektheit der polizeilichen Aussagen ist die Tatsache, dass weitere "Beweisstücke" existieren. Dazu gehören Protokolle über Gegenüberstellungen, Ortstermine etc., wobei die Unterschriften unter solche Dokumente natürlich auch erfoltert sein können. Solange es um materielle Beweise in Form von Publikationen geht, so wären diese für sich genommen kein Straftatbestand und würden nur in Kombination mit einem Geständnis über Organisationsmitgliedschaft zu einem belastenden Element. Etwas anders ist es mit den Waffen, denn die sind, solange kein Waffenschein vorhanden war, natürlich illegal. Allerdings wäre auch hier zu fragen, zu welchem Zweck einige der Angeklagten diese Waffen besessen oder erworben haben (und da gibt es eine Reihe von anderen Gründen als ein Attentat auf das Mausoleum oder die Stürmung der Moschee in Fatih). [26]

Nachdem noch einmal auf das Urteil gegen das Ehepaar Seven hingewiesen wurde, kommt nun die simple Feststellung, dass das Vorbringen der Verteidigung, dass das Urteil vom 11.04.2000 auf erfolterten Aussagen beruhe, nicht der Wahrheit entspreche (mit diesem Punkt werde ich mich am Ende der Darstellung noch einmal befassen).

Die Abschrift des Urteils vom 20.06.2005 setzt sich nun mit dem Argument auseinander, ob der Verteidigung genügend Zeit eingeräumt wurde oder nicht (da es sekundär ist, werde ich nicht darauf eingehen).

Was die Ablehnung der Vernehmung von Zeugen anbetrifft, so steht hier zu den Angeklagten aus dem Verfahren vor der 2. Kammer des SSG Istanbul, dass ihre Aussagen für oder gegen den Angeklagten (Metin Kaplan), nicht ihre richterlichen Aussagen (aus dem vorherigen Verfahren) "beseitigen" würden. Wenn diese Formulierung ernst gemeint ist, hätte das Gericht die Vernehmung vor dem Haftrichter oder in der Hauptverhandlung zur Grundlage der Urteilsfindung nehmen müssen.

Die Vernehmung von Zeugen aus dem Ausland wird u. a. mit der Existenz von schriftlichem und audio-visuellem Material, das die Absichten des Angeklagten offen lege, abgelehnt. Wenn es darum gehe zu beweisen, dass der Angeklagte die Aktionen nicht angeordnet habe, so würde die Einvernahme von Zeugen aus dem Ausland Jahre dauern und diene daher nur der Verzögerung des Verfahrens.

Auf die Argumente gegen die Verfassungswidrigkeit bei der Bestimmung des Gerichts und gegen den Befangenheitsantrag (bzw. –anträge) möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen.

Ab Seite 124 der Abschrift des Urteils vom 20.06.2005 wird die Organisation ICCB-AFID nach Informationen der obersten Polizeidirektion aus dem Jahre 2002 beschrieben und immer wieder auf die angeblichen Beweise aus dem Verfahren gegen das Ehepaar Seven und das Urteil vom 11.04.2000 verwiesen. Auf Seite 144 wird der Grund angegeben, warum der Angeklagte nicht in den Genuss des Artikels 59 (altes) TStG kommen kann. [27] Er habe selbst in der Verhandlung neben vielen verächtlichen und beschimpfenden Äußerungen den Staat als "Zuhälter" (Betreiber eines Puffs) bezeichnet und daher eine Reduzierung der Strafe "verwirkt".

Die Beweiswürdigung (das Urteil)

 
Auf Seite 147 beginnt die eigentliche Beweiswürdigung des Gerichts als "Nach Beratung" (Geregi Görüsüldü), wobei noch einmal alle mit diesem Verfahren zusammen gelegten Verfahren wie am Anfang der Abschrift detailliert aufgeführt sind.
Ab Seite 192 werden die Strafbestimmungen des neuen und des alten Strafgesetzes aufgeführt. Auf der Seite 195 folgen genauere Angaben, warum die Organisation ICCB-AFID bis 1998 als terroristische Organisation im Sinne des Artikels 7/1 des Anti-Terror Gesetzes bewertet wurde. Erst durch den angeblichen Befehl zu bewaffneten Aktionen und deren (versuchte) Umsetzung mit dem Angriff auf das Mausoleum in Ankara und die Besetzung der Moschee in Fatih (Istanbul) wurde sie anhand der Urteile der 2. Kammer des SSG Istanbul mit der Nummer 2000/72 (vom 10.04.2000, bestätigt durch die 9. Kammer des Kassationsgerichtshof) und das der 6. Kammer des SSG Istanbul mit der Nummer 2001/184 (bestätigt durch die 9. Kammer des Kassationsgerichtshofs am 19.11.2001) zu einer bewaffneten terroristischen Organisation. Der Anführer habe daher nach Artikel 146/1 altes TStG bestraft zu werden.

Unter Verweis auf Aufstände in der Geschichte der türkischen Republik und unter Auflistung von unbewaffneten und bewaffneten terroristischen Organisationen (Seiten 196-201) wird gefolgert, dass die Aktivitäten der Organisation eine "offene und nahe stehende Gefahr" darstellt. Schließlich fühlen sich die Richter auch noch bemüßigt, auf relevante Äußerungen des Gründers der Republik Atatürk hinzuweisen (Seiten 202-204).

Bei der Zuweisung des Strafmaßes wird knapp auf das Vorbringen der Verteidigung mit den Worten: "Die Verteidigung und Anträge des Angeklagten und seiner Verteidiger, zur Unschuld des Angeklagten und gegen die Merkmale der Straftat und Beschlüsse unseren Gerichts wurden zurückgewiesen, da sie den Verfahrensregeln, dem Gesetz und dem Umfang der Akte nicht angemessen sind" eingegangen.

Gegen die Entscheidung, den Artikel 59 altes TStG nicht anzuwenden, wandte sich der Richter Sinan Celakil (Seite 207, letzte Seite der Abschrift). Die Anwendung des Artikels 59 altes TStG hätte bedeutet, dass die erschwerte lebenslange Haftstrafe in eine lebenslange Haftstrafe verwandelt worden wäre. Das würde bedeuten, dass "lebenslang" nicht "bis zum physischen Tod" bedeutet, wie es der Artikel 107/16 der neuen StPO vorschreibt.

War das Verfahren rechtsstaatlich ("fair")?

 
Die Frage, ob das Verfahren im Sinne des Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) "fair" genannt werden kann, hängt nicht nur davon ab, ob unter den Beweisen erfolterte Aussagen waren. Viele Aspekte des Verfahrens sprechen dagegen.
Ich möchte mich aber weder mit der Frage beschäftigen, ob dem Angeklagten und seinen gesetzlichen Vertretern genügend Zeit für die Verteidigung eingeräumt wurde oder ob das Gericht wirklich unabhängig und unparteilich war, obwohl ich schon die Ablehnung des Befangenheitsantrages für bedenklich halte. Immerhin könnte (nach türkischem Recht) argumentiert werden, dass die Verteidigung erst durch die Ablehnung ihres Beweisantrages die Information erhielt, die ihre Vermutung auf Befangenheit  des Vorsitzenden Richters bestätigte. Da unmittelbar darauf der Antrag gestellt wurde, wäre er fristgerecht (d.h. binnen 7 Tagen) eingereicht worden und der betroffene Richter hätte nicht an der Entscheidung über diesen Antrag teilnehmen dürfen.

Wesentlicher aber ist die Frage, ob der Angeklagte von dem in Artikel 6/3d EMRK verbrieften Recht auf ordentliche Anhörung der von ihm benannten Zeugen Gebrauch machen konnte.  In diesem Punkt hat die 14. Kammer des Landgerichts in Istanbul m. E. nicht nur gegen die EMRK sondern auch gegen nationales Recht verstoßen, denn der Artikel 178 der neuen StPO schreibt vor, dass Zeugen, die die Parteien zum Gericht bringen, in der Verhandlung angehört werden müssen.

Dennoch bleibt aber die zentrale Frage, ob Metin Kaplan (vorwiegend) aufgrund von erfolterten Aussagen verurteilt wurde.

Hierzu sollte zunächst einmal festgestellt werden, dass wohl alle Anklagepunkte, bzw. Anklageschriften, die dann als ein Verfahren zusammen gelegt wurden, bis auf die Anklage wegen des geplanten Attentats auf das Mausoleum in Ankara und die Besetzung der Moschee in Istanbul "belanglos" sind, d.h. ohne diese Anklage hätte Metin Kaplan vielleicht verurteilt werden können, aber nicht nach Artikel 146/1 des alten TStG.

Insofern lautet die Frage, ob die Angeklagten in dem Verfahren vor der 2. Kammer des SSG Gerichtes Istanbul mit der Grundnummer 1998/425 und der Urteilsnummer 2000/72 gefoltert wurden und ob die auf diese Weise erpressten Geständnisse zur Grundlage des Urteils vom 11.04.2000 (und damit indirekt auch zur Grundlage des Verfahrens gegen Metin Kaplan) wurden.

Nach den mir zugänglichen Materialien wurden die 29 Angeklagten zwischen 3 und 8 Tagen auf dem Polizeipräsidium in Istanbul ohne Kontakt zur Außenwelt gehalten (einige noch weitere Tage in den Orten, in denen sie gefasst worden waren). In dieser Zeit haben alle 29 Angeklagten bei der Polizei ein "Geständnis" im Sinne des von der Polizei (und der Staatsanwaltschaft) erhofften Ergebnisses abgelegt. In der Hauptverhandlung haben alle 29 Angeklagten ihre Aussagen bei der Polizei widerrufen und damit direkt oder indirekt Vorwürfe erhoben, dass sie auf ungesetzliche Weise aufgenommen wurden. Lediglich 4 der Angeklagten haben ihre Angaben bei der Polizei in weit geringerem Umfang als vom Gericht in seinem Urteil vom 11.04.2000 behaupteten Maße bei der Staatsanwaltschaft und beim Haftrichter bestätigt.

Es existieren Atteste für mindestens 9 der Angeklagten, die für die Zeit der Polizeihaft "Spuren von Schlägen und Gewalt" bescheinigen. Die Mehrheit der Angeklagten hat sich schon beim Haftrichter (evtl. auch dem Staatsanwalt gegenüber) über Folter beschwert. Diese Vorwürfe wurden in der Hauptverhandlung wiederholt. Dennoch sind keine Maßnahmen ergriffen worden. Selbst nach einer Anfrage des Justizministeriums im August 1999 sah die Staatsanwaltschaft am SSG Istanbul keine Veranlassung, gesonderte Ermittlungen einzuleiten. [28]

Dem Vorwurf der Folter könnte die 2. Kammer am SSG Istanbul lediglich dadurch begegnet sein, indem sie Beamte, die entsprechende Protokolle (Aussagen, Gegenüberstellung etc.) unterschrieben hatten, als Zeugen lud und sie nach der Korrektheit der Angaben fragte. Es kann natürlich nicht erwartet werden, dass die Polizisten sich in dieser Situation selber mit der Straftat von Folter oder Misshandlung beschuldigen. Insofern ist dieser Schritt (alleine) nicht geeignet, den Verdacht von Folter auszuräumen.

Eine adäquate Reaktion auf die Foltervorwürfe hätte zunächst einmal Strafanzeige gegen Unbekannt, mindestens in den Fällen, in denen Atteste existierten, sein müssen. Damit hätte das Gericht zugleich die Frage, ob gefoltert wurde oder nicht, an andere Instanzen delegiert und auf das Ergebnis der diesbezüglichen Ermittlungen und evtl. eingeleiteten Strafverfolgung warten können. Eine elegantere Lösung wäre gewesen, nur die Aussagen in der Hauptverhandlung, evtl. auch noch die vor dem Haftrichter zur Grundlage der Urteilsfindung zu machen. Dann aber wäre ein Schuldspruch wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation nicht möglich gewesen (und somit hätte nun auch Metin Kaplan nicht als Führer einer solchen Organisation verurteilt werden können).

Weit mühsamer wären eine eigene Beweisaufnahme zu den Foltervorwürfen gewesen, d.h. das Gericht hätte detaillierte Schilderungen der Beschwerdeführer und der Beschuldigten gehört, um die Glaubwürdigkeit der im Prozess angeklagten Personen und der sie vernehmenden Beamten einzuschätzen und damit eine Entscheidung zur Verwertbarkeit der Aussagen treffen zu können. Dies aber hat meines Wissens bislang noch kein Gericht in der Türkei gemacht.

Ich denke, dass es müßig ist, aus der Ferne (bzw. nach Aktenlage) zu entscheiden, welche der Personen gefoltert wurde und welche nicht (wobei ich eher eine Unterscheidung nach "schwer" oder "weniger schwer" als die der Wahrheit näher kommende Frage halte). Ich möchte auch nicht hypothetisch an die Frage herangehen und unterstellen, dass die 4 Angeklagten, die ihre Aussagen beim Staatsanwalt und Haftrichter (teilweise) bestätigten, nicht gefoltert wurden. In der Tat dürften gerade Mehmet Demir und Ahmet Cosman besonders schwer gefoltert worden sein und haben womöglich unter diesem "Schock" ihre Angaben bei der Staatsanwaltschaft und dem Haftrichter bestätigt.

Bei den anderen zwei Angeklagten, bei denen das Gericht davon ausgeht, dass ihre Vernehmungen bei der Polizei korrekt geführt wurden, existieren Atteste zu Spuren von Schlägen und Gewalt (siehe den Schriftverkehr mit dem Justizministerium). Selbst das hat zu keinen Zweifeln im Urteil geführt.

Nach meinem Dafürhalten hätte die 2. Kammer des SSG Istanbul aufgrund der Vorschrift des Artikels 135a alte StPO keine der Aussagen bei der Polizei verwerten dürfen, solange nicht feststand, dass sie nicht mit den in diesem Artikel beschriebenen verbotenen Methoden aufgenommen wurden.

Als die 14. Kammer des Landgerichts Istanbul sein Urteil über Metin Kaplan verkündete, war die alte StPO durch eine neue StPO ersetzt worden. An die Stelle des Artikel 135a war der Artikel 148 getreten. Dieser geht an einem nicht unwesentlichen Punkt über die Vorschrift des Artikels 135a alte StPO hinaus. Seit dem 1. Juni 2005 dürfen keine Aussagen verwertet werden, bei denen kein Anwalt zugegen war, es sei denn, sie werden vor einem Richter bestätigt.

Die 14. Kammer war nicht verpflichtet, diese neue Regel quasi rückwirkend anzuwenden, d.h. sie konnte formaljuristisch die seinerzeit als ordnungsgemäß aufgenommen bewerteten Aussagen verwenden, da Verfahrensregeln nicht rückwirkend angewendet werden, selbst wenn sie sich für die Betroffenen positiv auswirken. Aus Kulanzgründen aber wäre es wohl angebracht gewesen, mindestens die von der Verteidigung benannten Zeugen zu hören, um wenigstens den Anschein zu erwecken, dass die Richter sich ein eigenes Bild machen wollten.

Mindestens für den Vorsitzenden Richter aber war dies anscheinend unnötig, denn er hatte schon bei dem ersten Urteil mitgewirkt.

Inzwischen hat die 9. Kammer des Kassationsgerichtshofs das Urteil im Wesentlichen aus formalen Gründen aufgehoben. Ich konnte die Entscheidung nicht im Wortlaut einsehen, aber in der Tageszeitung "Hürriyet" vom 30.11.2005 fanden sich Auszüge.

Demnach beanstandete das obere Gericht, dass eine Seite des Urteils von einem Richter nicht unterschrieben worden war. Die Situation des Angeklagten müsse in Bezug zu den anderen Angeklagten gesehen werden. [29] Der Kassationsgerichtshof bemängelte ferner, dass die Artikel 31 und 33 des alten TStG angewandt wurden, während (zum Vorteil des Angeklagten) der Artikel 53 des neuen TStG hätte angewandt werden müssen. [30] Der Staatsanwalt am Kassationsgerichtshof hatte lediglich die Korrektur des Begriffes Zuchthausstrafe (agir hapis cezasi) durch Haftstrafe (hapis cezasi) angemahnt.

Mit anderen Worten scheint der Kassationsgerichtshof (wie auch der dortige Staatsanwalt) zu all den strittigen Punkten in Bezug auf die Fairness des Verfahrens keine andere Meinung zu vertreten als das ursprüngliche Gericht.

Fußnoten:

[1] Damit kann nur die gleiche Kammer gemeint sein. Das war zu der Zeit die 6. Kammer des SSG Istanbul.
[2] Obwohl hier Republikanische Staatsanwaltschaft (Rep.) geschrieben steht, sollte es die Staatsanwaltschaft am Staatssicherheitsgericht (SSG) gewesen sein, die die Anklage erstellte (siehe Tatvorwurf)
[3] Auch hier sollte es das SSG Adana gewesen sein, wie auch in den folgenden Fällen aus Adana.
[4] Zu Deutsch: Hedschra, das ist die islamische Zeitrechnung
[5] An dieser Stelle möchte (bzw. kann) ich mich nicht darüber auslassen, auf welche Weise diese Waffen beschlagnahmt wurden und ob es einen Zusammenhang zwischen dem Besitz der Waffen und organisatorischen Aktivitäten gibt.
[6] Die Todesstrafe wurde mit dem Gesetz 4771 (Anpassungspaket 3) vom 9. August 2002 (zunächst einmal für Friedenszeiten) abgeschafft.
[7] Hier wird das Wort "teblig" verwandt, das sowohl Zustellung als auch Vortrag bedeutet und im religiösen Sinn in etwa "Unterweisung" bedeutet.
[8] Hier wird sich es sich um einen so genannten unvollständigen Satz (schlechte Grammatik) handeln, denn der Angeklagte wird wohl gesagt haben, dass er den Vorwurf, in die Angriffe auf das Mausoleum und die Moschee verwickelt zu sein, nicht akzeptiere.
[9] Von Amtswegen muss monatlich eine Haftprüfung stattfinden.
[10] Das türkische Original erlaubt keine "bessere" Übersetzung.
[11] Gemeint ist vermutlich das Verfassungsgericht.
[12] Gemeint ist vermutlich das Oberverwaltungsgericht Düsseldorf.
[13] Artikel 178 der neuen StPO lautet: (1) Wenn der Kammervorsitzende oder Richter den Antrag des Angeklagten oder Prozessbeteiligten ablehnt, einen Zeugen oder Gutachter zu hören, können der Angeklagte oder Prozessbeteiligte die Personen zum Gericht bringen. Die Personen werden in der Verhandlung angehört.
Artikel 210 StPO lautet: (1) Wenn der Beweis für einen Vorfall aus den Schilderungen eines Zeugen besteht, muss dieser Zeuge unbedingt vor Gericht angehört werden. Ein Protokoll über eine vorherige Einvernahme oder die Verlesung einer schriftlichen Schilderung kann eine Anhörung nicht ersetzen.
(2) Wenn jemand das Recht hat, die Zeugenschaft abzulehnen und dies in der Verhandlung tut, dann darf das Protokoll über seine vorherige Aussage nicht verlesen werden.
[14] In der deutschen Rechtssprechung würde hier wohl der Begriff "befangen" verwendet werde. Ich habe mich bei der Wiedergabe aber an die türkische Vorgabe gehalten.
[15] Artikel 31 neue StPO lautet: (1) Innerhalb der Hauptverhandlung lehnt das Gericht Befangenheitsanträge in folgenden Situation ab:
a) wenn der Antrag nicht fristgerecht gestellt wurde,
b) wenn kein Grund oder Beweismittel angegeben wurden,
c) wenn es offensichtlich ist, dass der Antrag in der Absicht gestellt wurde, das Verfahren zu verzögern.
(2) In diesen Fällen wird der Ablehnungsantrag unter Beteiligung des abgelehnten Richters, bei Gerichten mit einem Richter durch den abgelehnten Richter zurück gewiesen.
(3) Bei diesbezüglichen Beschlüssen kann Widerspruch eingelegt werden.
Anm.: Nach den sonstigen Artikeln der neuen StPO sollte ein Befangenheitsantrag bis zum Beginn der Hauptverhandlung gestellt werden. Ansonsten muss ein solcher Antrag innerhalb von 7 Tagen nach Erhalt der Information zur Befangenheit eines Richters gestellt werden.
[16] Es wurde offensichtlich Widerspruch eingelegt, denn am 06.07.2005 (nach dem eigentlichen Urteil also) befand die 9. Kammer des Landgerichts Istanbul (vormals 1. Kammer des SSG Istanbul) einstimmig, dass der Widerspruch unter Hinweis auf Artikel 31 neue StPO abzulehnen sei.
[17] Im Unterschied zu Verfahrensnormen werden neue Strafbestimmungen, wenn sie für den Beschuldigten günstiger sind, auch rückwirkend angewandt.
[18] Hier wird das Jahr 1998 für das Urteil der 2. Kammer des SSG Istanbul angegeben. Das Verfahren wurde zwar im Jahre 1998 eröffnet (Grundnummer 1998/425, vgl. Seite 76 der Abschrift des Urteils), ging aber am 11.04.2000 zu Ende. Was von dem Urteil der 2. Kammer des SSG Istanbul nicht auf der Seite 76 aufgeführt ist, ist die Tatsache, dass Metin Cetinbas Mitglied der Kammer war (Vorsitzender Richter war Serafettin Iste und der andere Beisitzer war Erkan Canak).
[19] Dies ist nicht ganz richtig, bzw. wurde auf der Seite 52 der Abschrift des Urteils missverständlich protokolliert. Der im Jahre 2005 Vorsitzende Richter der 14. Kammer des Landgerichts hat seinerzeit als Beisitzer in der 2. Kammer des SSG Istanbul eine abweichende Meinung zum Urteil vom 11.04.2000 (S. 18 des Urteils) zu Protokoll gegeben. Darin legte er dar, warum er bei 10 Angeklagten, die freigesprochen wurden, für eine Verurteilung nach Artikel 168/2 TStG plädiert, d.h. der Richter Metin Cetinbas sprach sich seinerzeit für eine härtere Bestrafung aus. Er ließ u.a. den Satz protokollieren: "Es ist nicht möglich, ihrer Verteidigung zu folgen, dass sie unschuldig seien." Damit wies er die Foltervorwürfe zurück.
[20] In der Tat existiert in der Akte ein Schreiben der Oberstaatsanwaltschaft am SSG Istanbul vom 10.08.1999, das als Untersuchungsbericht (inceleme zapti) bezeichnet wird und eine Antwort auf die Anfrage des Justizministeriums vom 02.08.1999 sein soll. Hier wird bestätigt, dass in der Akte des Verfahrens unter der Grundnummer 1998/425 Arztberichte zu Kenan Bingöl und Erkan Kuskaya (jeweils vom 12. und 17.11.1998) seien. Die Berichte vom 17.11.1998 sind (als kaum leserliche Kopien) dem Bericht als Anlage beigefügt.
Erkan Kuskaya soll (soweit leserlich) bei seiner Untersuchung angegeben haben, über 4 Tage lang nach seiner Festnahme am 05.11.1998 psychisch und physisch gefoltert worden zu sein. Er beklagte sich auch über Angstzustände. Festgestellt wurden Hautabschürfungen, die von einem Polizeiknüppel stammen sollen. Resultat: 3 Tage Arbeitsunfähigkeit.
Kenan Bingöl gab an, erst 4 Tage in Erzurum in Polizeihaft gehalten worden zu sein. In Istanbul sei er weitere 4 Tage lang festgehalten und in dieser Zeit gefoltert worden. Er habe Schmerzen und "blaue Flecken" wegen der Stromstöße und Wunden, weil er an den Schultern aufgehängt worden sei. Die Untersuchung stellte Hautabschürfungen und blaue Flecken fest. Es wurden 3 Tage Arbeitsunfähigkeit bescheinigt.
Da sowohl Kenan Bingöl als auch Erkan Kuskaya am 12.11.98 in U-Haft kamen, sollten die Untersuchungen vom 17.11.98 gesondert angeordnet worden sein (evtl. durch einen Staatsanwalt, der sich mit einer dementsprechenden Strafanzeige zu befassen hatte). Mir sind allerdings keine weitergehenden Entwicklungen bezüglich dieser (und anderer) Foltervorwürfe (siehe unten) bekannt.
[21] Für die Meldungen ist kein Datum angegeben. Ich konnte im Internet lediglich Meldungen zu einer Videokassette finden, die den Staatsanwalt bei einem außerehelichen intimen Kontakt zeigt und die von "Reaktionären" (wie Fundamentalisten im Türkischen genannt werden) als Erpressungsversuch benutzt worden sein soll. Diese Meldungen waren im Februar 2002 in den Medien der Türkei zu finden.
Verwunderlich ist, dass dieser nicht unerhebliche Punkt nirgendwo in der Urteilsbegründung auftaucht.
[22] Ich habe diesen Schreibfehler beibehalten, weil er sowohl im Originalurteil als auch in der Abschrift vorhanden ist (es wird wohl der 21. Oktober sein). Dies wäre bei einem erneuten Lesen des Urteils sicherlich aufgefallen.
[23] Mehr dazu weiter unten.
[24] Die beiden zuletzt genannten Personen wurden in dem ARD Bericht vom 15.05.2005 interviewt. Ahmet Bal sagte dabei: "Wir mussten zwei Tage lang stehen – unsere Augen waren verbunden. Die nächsten sechs Tage haben sie jeden von uns bei lauter Musik mit kaltem und heißen Wasser behandelt. Wir wurden aufgehängt und verprügelt - sechs Tage lang."
Dies klingt etwas anders als die eher verharmlosenden Worte vor Gericht.
[25] Auf die Tatsache, dass die physische Nähe der folternden Polizisten, die evtl. zuvor mit weiterer Folter gedroht haben, wenn die Angaben nicht bestätigt werden, durchaus einen "manipulierenden" Effekt auf die Aussagen haben kann (hat), möchte ich hier nicht näher eingehen.
[26] Des Weiteren wurde mir von der Verteidigung berichtet, dass die angeblich gefundenen Waffen nicht unter den Beweisen waren, sondern lediglich ein Protokoll über ihre Vernichtung existierte.
[27] Nach dem neuen Strafgesetz hätte hier Artikel 62 stehen müssen.
[28] Die Staatsanwaltschaft an den Staatssicherheitsgerichten ist nicht für die Ermittlung in Folterfällen zuständig, aber sie ist als Staatsorgan natürlich verpflichtet, Rechtsverstöße, die nicht in ihren Kompetenzbereich fallen, zur Anzeige zu bringen.
Ich habe keine schlüssige Antwort auf die Frage, warum das Justizministerium gerade für die Angeklagten Kenan Bingöl und Erkan Kuskaya eine Anfrage anfertigte und warum diese beiden Angeklagten noch einmal gesondert (nach Einlieferung in das Gefängnis) untersucht wurden. Da ihre "Tatbeteiligung" aber durchaus als nicht ideologischer Waffenschmuggel angesehen werden kann, könnten sich vielleicht Kreise der türkischen Mafia für sie eingesetzt haben.
[29] Hier wird es darum gehen, dass das Verfahren gegen Metin Kaplan eigentlich ein durch Abtrennung von dem Verfahren Seven entstandenes Verfahren (aus dem Jahre 1999) war. Hier waren die Verfahren gegen Metin Kaplan und 4 weitere Angeklagte abgetrennt worden. Diese 4 Angeklagten sind am Anfang der Abschrift des Urteils auch erwähnt, aber anscheinend hat das Gericht es versäumt, ihre Verfahren erneut abzutrennen (da sie nicht gefasst wurden und nicht gegen sie verhandelt werden konnte).
[30] Artikel 31 und 33 altes TStG verfügen lebenslangen Ausschluss vom öffentlichen Dienst und Einschränkung der bürgerlichen Rechte. Der Artikel 53 des neuen TStG bestimmt, dass der Ausschluss und die Einschränkung für die Zeit des Strafvollzugs gelten. Für Metin Kaplan macht dieser "Vorteil" keinen Unterschied, denn die erschwerte lebenslange Haft bedeutet, dass er bis zu seinem Tode in Haft verweilen muss.

 
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