Gefährdung wegen exilpolitischer BetätigungÜbersicht
Es handelt sich um eine Stellungnahme zu potentieller Gefährdung von exilpolitischer Betätigung (die so genannten "Nachfluchtgründe"). Im Prinzip aber geht es um Meinungsfreiheit in der Türkei (Stand: Mai 2007). Obwohl der Name des Asylsuchenden aufgrund der Angaben leicht zu identifizieren ist, wurde er mit dem Namen Herr E. wenigstens partiell anonymisiert. Aus dem Inhalt (kann jeweils angeklickt werden) geht es mit Strg+oben, bzw. Position 1 wieder hierher: Beteiligung
an Beerdigungen
Mit Schreiben vom 04.05.2007 wurde ich vom RA Björn Stehn gebeten, mehrere Fragen hinsichtlich der möglichen Gefährdung seines Mandanten bei einer Rückkehr in die Türkei zu beantworten. Der Anfrage waren diverse Unterlagen wie der Bescheid des Bundesamtes vom 15.02.2007, die Klage beim VG Schleswig vom 23.02.2007, Schriftsätze vom 06. und 16.03.2007 (mit diversen Anhängen), sowie ein Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 19.03.2007 beigefügt. Die erste Frage lautete: Droht Herrn E. aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten, insbesondere seiner Vorstandsmitgliedschaft in der ADGH und seinen öffentlichen Auftritten bei Großveranstaltungen der MKP und dort vorgetragenen Liedtexten, die eine gewisse Sympathie mit der Guerilla deutlich machen, in der Türkei eine strafrechtliche Verfolgung?Der schon in den Schriftsätzen erwähnte Bericht des Landesamts für Verfassungsschutz - Arbeitsfeld Ausländerextremismus (Hamburg mit Stand vom 16.11.2005) führt unter dem Punkt: "Sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen von linksextremistischen und extrem nationalistischen türkischen Organisationen in Deutschland" zur TKP/M-L und ihre Nachfolgeorganisationen u.a. folgendes auf: Die Dachorganisation der TKP/ML in Deutschland nennt sich "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V." (ATIF), die europäische Dachorganisation "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa" (ATIK). Die Dachorganisation der MKP in Deutschland ist die "Föderation für demokratische Rechte in Deutschland" (ADHF), auf europäischer Ebene ist dies die "Konföderation für demokratische Rechte in Europa" (ADHK). Die Bezeichnung
der Jugendorganisation als ADGH (Avrupa Demokratik Gençlik Hareketi
= Demokratische Jugendbewegung Europas) wird in dem Bericht explizit nicht
erwähnt; es dürfte aber wohl kein Zweifel vorhanden sein, dass
es sich um die Jugendorganisation der in Europa als ADHK agierenden MKP
(Maoist Komünist Partisi = Maoistische Kommunistische Partei) handelt.
Dies wird auch durch einen Blick auf die eigene Internetpräsenz dieser
Organisation unter http://www.adgh.org/ deutlich.
Die ADGH ist entstanden, als sich Jugendliche innerhalb der ATIK (s.o.) im Jahre 1989 trafen und unter der Bezeichnung "Yeni Demokratik Gençlik" (Neue demokratische Jugend) eine offizielle Gründung im Jahre 1990 vornahmen. Entsprechend der auf dem 1. Kongress vorgelegten Satzung wurde mit Jugendlichen aus NRW, Hessen, Nord- und Süddeutschland, sowie Frankreich, Österreich, den Niederlanden und Belgien eine zentrale Jugendkommission gebildet. Auf der 5. Vollversammlung im Jahre 1995 wurde der Name geändert (DGH = Demokratische Jugendbewegung) und auf der 14. Vollversammlung wurde der Name zu ADGH umgewandelt. Keine Überraschung
dürfte sein, dass im Gästebuch auf dieser Seite auch auf den
Hungerstreik von Herrn E. hingewiesen wird und unter den Verweisen
(den "Links") die ADHK an vorderster Stelle steht. Erstaunlicher ist vielleicht,
dass bei mir als 2. Treffer (mit der deutschen Version von Google) zu dem
Suchbegriff ADGH eine Seite der "Karawane" (http://thecaravan.org/node/1046)
auftaucht, auf der zur Solidarität mit Herrn E. aufgerufen und seine
Funktionen in der ADGH dargestellt werden.
Die Frage nach der strafrechtlichen Verfolgung ist jedoch etwas komplizierter. Zum einen könnte die Mitgliedschaft im Vorstand einer Organisation, die von deutschen Verfassungsschützern und parallel dazu sicherlich auch von der obersten Polizeidirektion der Türkei als "Dachverband der TKP/ML (MKP) in Europa" angesehen wird, durchaus als Mitgliedschaft in der "bewaffneten (und damit illegalen)" Organisation MKP bewertet werden. Obwohl mir keine Einzelfälle mit einem solchen Hintergrund bekannt sind, halte ich es angesichts der Tatsache, dass schon das Lesen von legalen Zeitschriften, die bestimmten illegalen Organisationen zugeordnet werden, als Indiz für die Mitgliedschaft in solchen Organisationen gewertet wird (nicht nur wurde, vgl. dazu das Beispiel unter Frage 2 zu Mehmet Desde), durchaus für möglich, dass der Artikel 314 TStG (türkisches Strafgesetz) n.F. (neue Fassung vom 01.06.2005) zur Anwendung kommt. Im Unterschied zu Artikel 168 TStG a.F. werden die Organisationen nicht mehr "bewaffnete Banden" sondern "bewaffnete Organisationen" genannt und das Strafmaß hat sich von zwischen 10 und 15 Jahren Haft auf zwischen 5 und 10 Jahren Haft reduziert. Nach dem Artikel 5 des so genannten Anti-Terror Gesetzes (ATG, das Gesetz 3713 zur Bekämpfung von Terrorismus) muss die Strafe nach wie vor um 50% angehoben werden. Zu den einzelnen in den Unterlagen aufgeführten Veranstaltungen, an denen Herr E. in Deutschland teilgenommen hat, kann wohl allgemein angemerkt werden, dass er dabei insofern eine exponierte Stellung innehatte, da er als Redner, Vortragender von Gedichten oder innerhalb der Musikgruppe "Daglara Ezgi" (könnte mit "Ode an die Berge", bzw. an die Kämpfer in den Bergen übersetzt werden) mit Liedern aufgetreten ist. Was die Beteiligung an Demonstrationen und Veranstaltungen als Protest gegen die Ermordung von aktiven Kämpfern der MKP oder als Andenken an sie anbetrifft, sollte nicht nur auf die in den Unterlagen vorhandene Meldung zu einer Anklage von Häftlingen, die Briefe an den Generalstab und Staatspräsidenten wegen der Tötung von 17 Militanten der MKP im Juni 2005 in Tunceli geschickt hatten, hingewiesen werden. Folgende Meldungen (Fußnote 1) sind m.E. ebenfalls zu beachten: Festnahmen in
Samsun
Obwohl den Meldungen einige Details für eine aussagekräftige Bewertung fehlen, kann zunächst einmal festgehalten werden, dass es nicht unproblematisch ist, an Gedenkveranstaltungen für getötete Guerilla(s) teilzunehmen. Selbst wenn die offizielle Bezeichnung eine Pressekonferenz sein sollte, die laut türkischem Recht an jedem Ort (auch im Freien) abgehalten werden darf, so kann als Minimum mit einer Anklage wegen Beteiligung an einer unerlaubten Demonstration (Gesetz 2911) gerechnet werden. Das war jedoch bei den o.a. Beispielen nicht der Fall, sondern es wurde immer gleich zu härteren Strafvorschriften wie Propaganda für eine illegale Organisation oder Aufrufen zum Begehen einer Straftat (wie der in der Presse formulierte Vorwurf des Aufrufs zum bewaffneten Aufstand wohl exakter heißen sollte) gegriffen. Was die Verurteilung von 8 Personen in Ankara betrifft, so bin ich mir fast sicher, dass die Presse hier die Strafvorschriften falsch wiedergibt. Nach dem ATG (vor seiner Änderung am 29.06.2006) war nach Artikel 7/1 die Mitgliedschaft in einer unter den "Terror" Begriff fallenden (und damit illegalen) Organisation mit einer Strafe zwischen 3 und 5 Jahren Haft belegt. Unterstützer erhielten nach Artikel 7/2 ATG eine Strafe zwischen 1 und 5 Jahren. Wenn man davon ausgeht, dass die meisten Gerichte die Strafen (bei "Ersttätern") auf das Mindestmaß begrenzen und dann noch wegen "guter Führung" um ein Sechstel kürzen, dann würden "Mitglieder" mit der Regelstrafe von 2 Jahren, 6 Monaten (=30 Monaten) zu rechnen haben. Das dürfte auf die ersten drei Angeklagten zutreffen. Die Strafe für die anderen Angeklagten könnte wegen "Unterstützung" erfolgt sein, wobei das Gericht im Strafmaß zwischen 1 und 5 Jahren nicht das untere Strafmaß, sondern z.B. eine Strafe von 2 Jahren Haft angeordnet hat, die dann um ein Sechstel verkürzt wurde. Der Artikel 7 ATG
wurde für unbewaffnete Organisationen entwickelt. Somit bliebe für
mich an diesem Punkt vor allem unklar, welcher Organisation die Betroffenen
angehört oder welche Organisation sie unterstützt haben sollen
(vgl. auch hierzu die weiter unten aufgeführten Bemerkungen zum Verfahren
gegen Mehmet Desde).
Ich werde bei der Beantwortung der Frage 2 die Änderungen am Artikel 7 ATG näher erläutern, so dass deutlicher wird, mit welcher Logik es zu einer Bestrafung nach Beteiligung an Gedenkfeiern für getötete Militante einer Organisation kommen kann. Neben der bloßen Teilnahme an Kundgebungen, Demonstrationen oder Versammlungen im Gedenken an getötete Mitglieder einer illegalen Organisation dürfte es für Herrn E. aber auch eine Rolle spielen, welchen Inhalt seine auf den Veranstaltungen gehaltenen Reden, bzw. die vorgetragenen Gedichte und Lieder hatten. Darüber ist mir derzeit nicht viel bekannt. Bei den Unterlagen befand sich der Text eines Liedes zu den 17 erschossenen Angehörigen der MKP (Anlage 22 zum Schriftsatz vom 16.03.2007) und im Internet habe ich zwei weitere Songtexte unter http://www.umbruch-bildarchiv.de/bildarchiv/ereignis/engin_celik.html gefunden. Die letzten vier Zeilen des 2. Songtextes sind: "Wir haben es
unserem Volk versprochen,
Mit Barbara ist
hier Barbara Kistler gemeint, die sich als Schweizerin der TIKKO angeschlossen
hatte und im Jahre 1993 vom türkischen Militär erschossen wurde.
Sowohl in der Anlage 22 als auch in diesem Songtext kann meiner Ansicht
nach eine Verherrlichung von "bewaffneten Terroristen" gesehen werden.
Die "Verherrlichung des bewaffneten Kampfes" kann nach verschiedene Bestimmungen des türkischen Strafgesetzes juristisch verfolgt werden. Auf der einen Seite könnte Herr E. wegen Lobens einer Straftat oder eines Täters (einer Täterin) angeklagt werden (Artikel 215 TStG n.F.). Denkbar wäre auch eine Anklage wegen Propaganda für eine terroristische Organisation (strafbar nach Artikel 7/2 ATG oder 220/8 TStG n.F.) oder aber Unterstützung einer terroristischen Organisation (Artikel 314 TStG in Verbindung mit Artikel 220/7 TStG n.F.). Veranschaulichen lässt sich dies am besten an Verfahren, die eröffnet wurden, wenn jemand von Abdullah Öcalan als "werter Öcalan" gesprochen hatte. Die Justiz ist sich dabei nicht einig, welche Strafvorschrift anzuwenden ist. Die meisten Staatsanwälte und Gerichte sehen darin das Loben eines Straftäters, andere fassen es als Unterstützung einer bewaffneten Organisation oder als Propaganda für eine solche Organisation auf. Zu den Verfahren sollte noch angemerkt werden, dass es in der Türkei unhöflich ist, Personen des öffentlichen Lebens schlicht beim Namen zu nennen. Der Zusatz "sayin" (verehrter), der auch beim Schreiben von Adressen benutzt wird, ist dabei fast schon Teil des Namens, wie es "Herr" oder "Frau" im Deutschen sind. Hier nun Beispiele
aus den Jahren 2005 - 2007
Neben einer Anklage als Mitglied oder Unterstützer der Organisation MKP, bzw. wegen Lobens einer Straftat oder Straftäters (Straftäterin) käme für E. Celik je nach dem Inhalt seiner Reden, Gedichte oder Lieder, die ebenfalls den türkischen Behörden bekannt sein dürften, auch eine Anklage nach Artikel 301 TStG in Betracht. Der Artikel 301
lautet:
Dies ist wohl der am meisten diskutierte Artikel unter den Bestimmungen des neuen Strafgesetzes, die die Meinungsfreiheit in der Türkei einschränken. Aufgrund seiner recht schwammigen Formulierung ist es möglich, negative Äußerungen über die Türkei ("die Türken") und oder ihre Institutionen mit Strafe zu belegen. Der 4. Absatz wurde mit dem Gesetz 4771 vom 9. August 2002 zum Artikel 159 TStG a.F. hinzugefügt. Allerdings war es auch davor schon gängige Rechtspraxis, d.h. es gab entsprechende Grundsatzurteile, die besagten, dass Äußerungen, die vom Gericht als reine Kritik bewertet wurden, nicht zu einer Bestrafung führten. Neu jedoch ist der Absatz 3, der die Strafe für eine Verunglimpfung des Türkentums, wenn sie von einem türkischen Staatsbürger im Ausland erfolgte, um ein Drittel erhöht. Das käme möglicherweise für Herrn E. in Betracht. Es mag richtig sein, dass der mittlerweile ermordete armenische Journalist Hrant Dink, der bisher Einzige war, gegen den eine rechtskräftige Verurteilung nach Artikel 301 TStG vorlag (vgl. S. 15 des Lageberichts vom 10. Januar 2007, Stand Dezember 2006) Fußnote 4 und (von mir hinzugefügt) nicht zuletzt deswegen zur Zielscheibe seiner Mörder wurde, es sind aber neben ihm eine ganze Reihe weiterer Personen verurteilt worden. Dazu gehören
u.a. folgende Verfahren, auf die der Lagebericht nicht hinweist:
Hervorzuheben ist hier das Verfahren gegen Eren Keskin, die im Zusammenhang mit einer Veranstaltung in Köln angeklagt war. Sie hatte insofern "Glück" weil der Artikel 301 TStG n.F. zur "Tatzeit" noch nicht in Kraft getreten war, denn sonst hätte die Strafe nach dem neu eingeführten Absatz 3 um ein Drittel erhöht werden müssen und wäre evtl. nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt worden. Folgende Internetseiten mögen zusätzlichen einen Einblick in das Ausmaß von politischer Verfolgung aufgrund von geäußerten Meinungen geben. Das ist zum einen die Datenbank von "Antenna", einer Organisation in Istanbul, die sich der Meinungsfreiheit verschrieben hat. Sie ist in englischer Sprache unter http://www.antenna-tr.org/ctl/index.asp?lgg=en zu erreichen. Am 13. April 2007 hat "Human Rights Watch" (HRW) einen Brief an den Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan geschrieben und darin eine Reihe von Fällen genannt, die gegen das Recht auf Meinungsfreiheit verstoßen. Fußnote 5 Des Weiteren wird vom unabhängigen Netzwerk Bia ein Projekt mit dem Titel Bia² betrieben. In ihrem Jahresbericht für 2006 (in Englisch unter http://www.bianet.org/2006/11/01_eng/news92115.htm) werden dort folgende Zahlen präsentiert. Im Jahre 2006 wurden 293 Journalisten, Publizisten und Aktivisten angeklagt (verglichen zu 157 im Jahr 2005). 72 Verfahren wurden unter Artikel 301 TStG n.F. geführt, 35 Verfahren wurden unter Artikel 216 TStG (Aufstachelung zu Rassenhass) geführt und 24 Mal stand Beeinflussung der Justiz (strafbar nach Artikel 19 des Pressegesetzes und 288 TStG) im Hintergrund. Es kam zu 7 Verurteilungen nach Artikel 301 TStG und es gab 13 Freisprüche. Weitere 5 Verfahren wurden nicht durchgeführt, weil keine Genehmigung vom Justizministerium vorlag. Unter Artikel 216 TStG erfolgten 3 Verurteilungen und 4 Freisprüche. Ich persönlich denke, dass die hohe Anzahl an Freisprüchen kein Indiz für die zunehmende Liberalisierung der Justiz in Richtung auf mehr Meinungsfreiheit in der Türkei ist. Ohne meinen subjektiven Eindruck mit Zahlen belegen zu können, war das "Missverhältnis" zwischen Anklagen und Verurteilungen auch vor den Gesetzesänderungen zwischen 2002 und 2005 gegeben. Das lag zum einen daran, dass viele Verfahren aufgrund von verfälschten Anschuldigungen in der Presse erfolgten und (nachdem sich die öffentliche Empörung gelegt hatte) auch Staatsanwälte ihre ursprünglichen Anträge auf Bestrafung abänderten und auf Freispruch plädierten. Zum anderen kommt es in solchen Verfahren vielfach zum Einsatz von so genannten Expertenteams, die beurteilen sollen, ob eine bestimmte Äußerung als Beleidigung der Staatsautoritäten angesehen werden kann oder nicht. In vielen Fällen sind Akademiker dann zu einem anderen Schluss gekommen als die jeweiligen Staatsanwaltschaften und die Gerichte konnten sich für Freispruch entscheiden. Wie aber am Fall von Hrant Dink deutlich wird, gibt es auch Fälle, wo Gerichte sich gegen die Gutachter entscheiden. Wie beurteilen Sie die Einschätzung des auswärtigen Amtes (hier zitiert nach Seite 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15.02.2007) demnach "öffentliche Äußerungen zur Unterstützung kurdischer Belange in der Türkei nur strafbar [seien], wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen/terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden könnten."?Diese im Lagebericht vom November 2006 auf der Seite 27 aufgeführte Feststellung ist im Lagebericht vom Januar 2007 auf der Seite 34 aufgeführt. Für mich ist diese Feststellung eher an der Theorie (und hierbei noch an einzelnen Elementen von Änderungen an den gesetzlichen Vorschriften), denn an der Praxis (bzw. an den Rückschritten in Gesetzesreformen) in der Türkei orientiert. Lassen Sie mich dies am Fall von Mehmet Desde und anderen näher ausführen. Fußnote 6 Mehmet Desde war mit dem in Berlin lebenden Journalisten Mehmet Bakir auf dem Weg zur Ferienwohnung der Eltern von Mehmet Bakir, als sie am 9. Juli 2002 in der Nähe von Izmir festgenommen wurden. Vier Tage lang wurden sie bei der politischen Polizei in Bozyaka (Izmir) verhört. Rechtsbeistand wurde ihnen verweigert. Sie machten aber trotz physischer und psychischer Folter keine Angaben, bzw. versuchten deutlich zu machen, dass sie Fragen nach einer Organisation, der Bolschewistischen Partei Nordkurdistan-Türkei, von der sie noch nie etwas gehört hatten, nicht beantworten konnten. Da andere Häftlinge sie aber in "Geständnissen", die sie vor Gericht mit deutlichem Hinweis auf Folter widerriefen, als Mitglieder dieser Organisation beschuldigten, kamen Mehmet Desde, Mehmet Bakir und 3 Mitangeklagte in Untersuchungshaft, wo sie bis zum 21. Januar 2003 blieben. Am gleichen Tag wurde ein Ausreiseverbot gegen Mehmet Desde und Mehmet Bakir verhängt, das bis heute gültig ist. Der Staatsanwalt am Staatssicherheitsgericht (SSG) Izmir klagte sie zunächst nach Artikel 168 des türkischen Strafgesetzes (TStG) wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Bande an. In der Hauptverhandlung wurde der Vorwurf dann auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation abgeändert (Artikel 7 des Anti-Terror-Gesetzes), da keine bewaffneten Aktionen der Organisation bekannt waren. Neben den Aussagen von einigen Angeklagten bei der Polizei wurden als "Beweise" bei Hausdurchsuchungen einige Flugblätter und Aufkleber, sowie legal erscheinende Zeitschriften gefunden. Bei den Flugblättern und Aufklebern geht es um Dinge wie den Aufruf zur Beteilung an Kundgebungen zum 1. Mai oder einen Protest gegen die Ermordung von 37 (alewitischen) Intellektuellen in Sivas (1993). Mit den angeblich legalen "Organen der Partei" sind die in Istanbul erscheinende Monatszeitschrift "Yeni Dünya icin Cagri" (Aufruf für eine neue Welt) und die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift "Güney" gemeint. In keiner dieser vermeintlichen "Beweise" (für die Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation) waren Aufrufe zur Gewalt, bzw. zu terroristischen Akten enthalten. Diese Vorschrift, verkürzt dargestellt als "nur noch ein Aufruf zur Gewalt ist strafbar" wurde im Juli 2003 in das Anti-Terror-Gesetz (ATG) aufgenommen. Fußnote 7 Mit dem Urteil vom 24. Juli 2003 wurden die Angeklagten Mehmet Desde, Maksut Karadag, Hüseyin Habib Taskin, Serafettin Parmak und Mehmet Bakir als Gründer und leitende Mitglieder einer terroristischen Organisation nach Artikel 7 ATG zu einer Strafe von je 50 Monaten Haft und einer Geldstrafe von 7,27 Milliarden TL (ca. 4.800 Euro) verurteilt. Metin Özgünay, Ömer Güner und Ergün Yildirim wurden wegen Unterstützung dieser Organisation zu je 10 Monaten Haft und Geldstrafen von 795 Millionen TL verurteilt. Die Angeklagten Hatice Karadag und Fatma Tufaner wurden freigesprochen. Die Verurteilten legten Revision ein. Im April 2004 hob der Kassationshof das Urteil auf und es musste erneut in Izmir verhandelt werden, wo das SSG nun die 8. Kammer des Gerichts für Zuchthausstrafen (ich nenne es verkürzt "Landgericht") geworden war. Am 12.10.2004 verurteilte dieses Gericht (in fast identischer Besetzung wie das SSG) die Angeklagten zwar nicht mehr wegen führender Mitgliedschaft, aber einfacher Mitgliedschaft, so dass sich die Strafen auf 2,5 Jahre Haft reduzierten. Die Strafen für die "Unterstützer" blieben gleich. Der Staatsanwalt hatte mit Hinweis auf die (neuen) Vorschriften im ATG vom Juli 2003 auf Freispruch plädiert. Dem folgte das
Gericht mit folgender Begründung nicht:
Im November 2005 schickte der Staatsanwalt am Kassationshof die Akte wieder nach Izmir mit der Bemerkung, dass neue Gesetze in Kraft getreten seien und das Urteil dementsprechend überprüft werden müsse. Am 16. März 2006 fand dann eine Verhandlung statt, in der die 8. Kammer des Landgerichts in Izmir sein Urteil vom 12.10.2004 bestätigte, obwohl der Staatsanwalt und die Verteidigung erneut auf Freispruch plädiert hatten. Am 18. Januar 2007 bestätigte die 9. Kammer am Kassationshof das Urteil, obwohl der Artikel 7 erneut verändert worden war. Damit war das Urteil rechtskräftig und zum Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens waren einige Angeklagte schon inhaftiert worden, um ihre Reststrafe "abzusitzen". Die Bestätigung durch den Kassationshof sowie die Weigerung des Staatsanwaltes am Kassationshof die Entscheidung der Kammerversammlung am Kassationshof zur Überprüfung vorzulegen, Fußnote 8 ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich in der auch von amnesty international gesehenen "Rechtsbeugung" des Gerichts in Izmir keine Ausnahme sondern eher eine Tendenz für eine sich wieder verschärfende Gesinnungsjustiz in der Türkei abzeichnet. Dies kann auch an den Änderungen im ATG gesehen werden. Mit
dem Artikel 6 des Gesetzes 5532 vom 29.06.2006 wurde der Artikel 7 ATG
folgendermaßen geändert (eigene Übersetzung):
Auf weitere Verschärfungen
durch das Gesetz 5532 möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen.
Sie waren bei der Erstellung der Lageberichte vom Juli 2006 und Januar
2007 bekannt und bedeuten nur auf den Artikel 7 angewandt:
Es mag sein, dass im Falle von Herrn E.die Frage nach bewaffneter oder unbewaffneter Organisation nicht die entscheidende Rolle spielt, denn nach Artikel 314 TStG in Verbindung mit Artikel 220/7 TStG n.F. könnte er, falls die MKP als bewaffnete Organisation eingestuft wird, als ihr Unterstützer zu der gleichen Strafe verurteilt werden, die ein einfaches Mitglied erhält. Im Falle der Propaganda für eine bewaffnete Organisation hätte er nach Artikel 220/8 TStG n.F. eine Strafe zwischen 1 und 3 Jahren Haft zu erwarten (die Obergrenze liegt dabei noch unter der Obergrenze des Artikels 7/2 ATG). "Beweise" für eine derartige Anklage bzw. Urteil dürften schon durch die für jedermann (jede Frau) im Internet zugänglichen Quellen vorhanden sein. Es dürften viele Bilder von Demonstrationen und anderen Veranstaltungen, an denen Herr E. beteiligt war, zu finden sein. Dabei wurden Embleme und Zeichen einer von nach den Gesetzen der Türkei verbotenen Organisation getragen. Hier könnte einschränkend eingewandt werden, dass die neuen Bestimmungen nur auf Veranstaltungen in der Türkei und nicht im Ausland anzuwenden sind, bzw. angewendet werden. Auf der anderen Seite aber könnte die Vorstandsfunktion, die Auftritte bei Veranstaltungen einer in der Türkei illegalen Organisation miteinander verbunden als Beweis für Mitgliedschaft und/oder Unterstützung gewertet werden. Es sollte auch bedacht werden, dass "gewaltfreie" Äußerungen im Ausland entgegen der Meinung des auswärtigen Amtes in der Türkei nicht straffrei sind. Unter Verweis auf das Verfahren von Eren Keskin scheint hier der strittige Punkt (zum Vorwurf der Beleidigung der Armee) gewesen zu sein, dass sie davon gesprochen hatte, dass (einzelne) Soldaten (bestimmte) kurdische Frauen vergewaltigt hatten. Außerdem hatte sie das Wort "Kurdistan" als geographische Bezeichnung verwandt (vgl. Özgür Politika vom 21.09.2002). Dies wurde pauschal als Beleidigung der Armee (nicht nur Kritik) bewertet. Erinnert werden sollte auch an das Verfahren gegen Akin Birdal, den ehemaligen Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins IHD. Özgür Gündem vom 06.03.2003 berichtete seinerzeit: "Der Ehrenvorsitzende des IHD und st. Vorsitzende von FIDH Akin Birdal wurden von der 2. Strafkammer des Landgerichts Ankara vom Vorwurf eines Vergehens nach Artikel 159 TStG a.F. (Amtsbeleidigung) freigesprochen. Das Verfahren war wegen einer Rede am 20. Oktober 2000 in Deutschland eröffnet worden, wo Birdal gesagt haben soll, dass die Türkei sich wegen des Völkermords an den Armeniern entschuldigen soll. Nachdem lange Zeit ergebnislos nach dem Reporter der Zeitung Gözcü, der den Artikel verfasst hatte, gesucht worden war, hat das Gericht nun das Verfahren aus Mangeln an Beweisen eingestellt." Mit anderen Worten, Akin Birdal wäre wohl bestraft worden, wenn der Journalist, der über die Veranstaltung berichtet hatte, aufgetaucht wäre und vor Gericht seine Behauptungen bekräftigt hätte. Noch einmal anders ausgedrückt, falls jemand die Meinung vertritt, dass die Türkei einen Völkermord an den Armeniern verübt hat und sich dafür entschuldigen solle, muss er/sie mit Bestrafung rechnen. Daran hat sich auch seit 2003 nichts geändert. Wenn ich nun auf die eingangs gestellte Frage zurückkomme, so muss ich nach alledem feststellen, dass auch nach den umfassenden Reformen der Jahre 2002-2005 nicht nur die nach dem Buchstaben des türkischen Strafgesetzes verbotene "Anstiftung zu konkret separatistischen/terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen" angesehenen Meinungsäußerungen bestraft werden, sondern im Sinne der offiziellen Ideologie in der Türkei unliebsame Meinungen zu Strafverfolgung führen können und nach wie vor führen. Auf das von mir angeführte Beispiel des deutschen Staatsbürgers Mehmet Desde bezogen, lässt sich zusammenfassend sagen: Mehmet Desde wurde wegen der Mitgliedschaft in einer Organisation verurteilt, die für den jetzigen Zeitpunkt Gewalt ablehnt. Die angeblichen Beweise sind neben Flugblättern und Zeitschriften, die nicht zur Gewalt aufrufen und überdies nicht in seinem Besitz sondern bei anderen Beschuldigten gefunden wurden, Aussagen von anderen Angeklagten, von denen sie glaubhaft versicherten, dass sie unter Folter erpresst wurden. Das Gericht in Izmir hat diese Aussagen als Beweise zugelassen, ohne die Foltervorwürfe zu untersuchen. Das in mehrfacher Hinsicht nach einem unfairen Gerichtsverfahren im März 2006 gefällte Urteil wurde im Januar 2007 durch den Kassationshof bestätigt. Trotz einiger positiver Urteile kann bislang nicht davon die Rede sein, dass die oberste Berufungsinstanz in der Türkei durch Grundsatzurteile einen entscheidenden Beitrag zum Schutz der Meinungsfreiheit oder der Rechtsstaatlichkeit politischer Verfahren geleistet hat. Droht Herrn E. aufgrund dieser Umstände im Falle einer Abschiebung und der damit verbundenen besonderen Einreisekontrolle auch unter Berücksichtigung, dass er militärdienstpflichtig ist, eine menschenrechtswidrige Behandlung im unmittelbaren Zusammenhang mit der Einreise oder zu einem späteren Zeitpunkt?Wie auch das auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom Januar 2007 auf der Seite 47 einräumt, würde Herr E. im Falle seiner (zwangsweisen) Rückkehr in die Türkei bei der Einreise einer Kontrolle unterzogen, bei der sein GBT (Genel Bilgi Toplama = allgemeine Informationen zu Personen, mehr als nur ein Strafregister) abgefragt und im Heimatort Auskunft über mögliche Ermittlungen gegen ihn eingeholt werden. Sollte sich hier ergeben, dass Ermittlungen schon angestrengt wurden, würde die Polizei (z.B. am Flughafen in Istanbul) ihn zur politischen Polizei überstellen und Herr E. würde dort, bzw. bei der politischen Polizei an dem Ort, an dem die Ermittlungen geführt werden, Verhören unterzogen werden, die je nach Charakter legal 24 oder 48 Stunden dauern dürfen. Fußnote 9 Folgende Problemzonen bestehen für Herrn Celik. Sollte die Polizei am Flughafen (bzw. dem jeweiligen Einreiseort) von seinem politischen Engagement Kenntnis erlangen (was in Verbindung mit seinem Geburtsort und Alter ihn gleich als "Terroristen" abstempeln würde), dann ist auch hier nicht ausgeschlossen, dass besonders staatstreue Beamte ihn als "Vaterlandsverräter" beschimpfen und evtl. auch schlagen. Sollten die Beamten sich korrekt verhalten und ihrer Pflicht entsprechend lediglich die politische Polizei einschalten, ist die Foltergefahr damit nicht vorüber. Mit dem Gesetz 5532 vom 29.06.2006 wurden Bestimmungen des Gesetzes 3713 zur Bekämpfung des Terrorismus vom April 1991 abgeändert. In Artikel 10(b) wurde festgelegt, dass die Personen, die unter dem Verdacht festgenommen wurden, eine Bestimmung dieses Gesetzes verletzt zu haben, nur Anspruch auf den Rechtsbeistand von einer Person haben. Ein Staatsanwalt kann außerdem beantragen, dass der Festgenommene in den ersten 24 Stunden keinen Rechtsbeistand erhält. Dies muss durch einen Richter bestätigt werden (so das Gesetz). In der Praxis werden Polizeibeamte diese Bestimmung aber so interpretieren, dass sie 24 Stunden keinen Kontakt zwischen Verdächtigem und Anwalt erlauben. Dies erhöht die Foltergefahr. Neben den gesetzlich erlaubten 48 Stunden für ein Verhör (evtl. auch vier Tage, wenn Herr E. mit anderen Personen als Mitglied einer illegalen Organisation beschuldigt wird) hat die politische Polizei weitere 12 Stunden Zeit, jemanden festzuhalten, obwohl diese Zeit offiziell als Höchstdauer für den Transport zu einem Gericht (Staatsanwalt und Haftrichter) ausgegeben ist. Ein weiteres Problem besteht darin, dass jemand, der zunächst in einem anderen Ort als dem Ort der Ermittlungen aufgegriffen wird, nicht immer sofort an die heimatlichen Behörden überstellt wird, sondern erst einmal Verhöre bei der jeweiligen Polizei stattfinden. Im Falle einer Einreise über Istanbul könnte es also sein, dass bei Ermittlungen gegen Herrn E. in Tunceli er erst einmal bei der politischen Polizei in Istanbul (bis zu 48 Stunden lang) verhört und dann an die politische Polizei in Tunceli überstellt wird. Hier hätten die Beamten wiederum 48 Stunden Zeit (24 Stunden davon ohne Kontakt zur Außenwelt), ihn zu verhören. Die oben aufgeführte Zeitungsmeldung vom 17.10.2006 ist ein Indiz dafür, dass in Tunceli vermutlich eine erhöhte Gefahr von Folter besteht. Mir ist nicht bekannt, dass das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung oder Bestrafung (Committee for the Prevention of Torture = CPT) jemals Verhörzentren in Tunceli besucht hat. Das ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass in der Vergangenheit ausländischen Delegationen mehrfach die Einreise in die Provinz verweigert wurde. Daher liegen direkte Eindrücke des CPT über die Zustände in der Provinz Tunceli nicht vor. Im vorläufig letzten Bericht vom 6. September 2006 Fußnote 10 bescheinigte die CPT der Türkei "Fortschritte im Kampf gegen Folter", fand aber auch "Beschwerden über kürzliche Misshandlung, die vielfach durch medizinische Atteste unterstützt waren". Fast in allen besuchten Polizeistationen (in Istanbul und Van) wurden Vorwürfe von Quetschen der Hoden und brutalen Schlägen gemacht. Zu den Angaben des Lageberichtes bezüglich der Zahlen des Menschenrechtsvereins IHD auf der Seiten 38 sollte angemerkt werden, dass sich die hier wiedergegebenen Zahlen zu Folter und Misshandlungen auf die ersten 9 Monate des Jahres 2006 beziehen. Für das gesamte Jahr wurde ein Bericht im März 2007 veröffentlicht. Hieraus ergibt sich eine Gesamtzahl von 708 Beschwerden, von denen 179 auf Polizei- oder Gendarmeriestationen verzeichnet wurden. 261 Fälle kamen von nicht offiziellen Haftorten und 173 aus den Gefängnissen. Vielleicht sollte auch auf die Bilanz der Zweigstelle Istanbul des IHD für das Jahr 2006 hingewiesen werden. Sie wurde am 16.02.2007 veröffentlicht und führt auf, dass sich 105 Personen bei dem Verein wegen Folter und Misshandlung beschwerten. Zusammen mit anderen Fällen in Istanbul, von denen der Verein Kenntnis erlangte, lag die Zahl der Beschwerden in Istanbul bei 137. Eine Kategorie, die als solche nicht im Bericht des Gesamtvereins IHD aufgeführt ist, sind Abgeschobene und Ausgelieferte, bzw. erfolglose Asylbewerber. Immerhin haben sich aus diesem Kreis 19 Personen beim Verein gemeldet und vier Personen haben Vorwürfe von Misshandlung erhoben (wobei es allerdings unklar ist, ob es abgeschobene Asylbewerber waren oder ob es sich um Asylbewerber handelte, die sich in der Türkei aufhielten). Im Jahresbericht
2006 der Menschenrechtsstiftung TIHV, der sich aus Angaben der Behandlungszentren
in Adana, Ankara, Diyarbakir, Istanbul und Izmir (herausgegeben am 17.
April 2007) zusammensetzt, werden folgende Angaben gemacht:
146 Personen gaben an, einen Tag (24 Stunden) lang festgehalten worden zu sein; bis maximal 4 Tage (Höchstdauer bei organisatorischen Delikten) wurden 142 Personen festgehalten. 12 Personen gaben an, zwischen 16 und 30 Tagen festgehalten worden zu sein und 5 Personen gaben die Dauer der Polizeihaft als länger als einen Monat an. Fußnote 12 Gerade die letzten Zahlen sollten Zweifel daran wecken, dass sich die Sicherheitskräfte immer an die gesetzlich vorgeschriebene maximale Dauer für ihre Verhöre halten. Ich denke, dass die von mir aufgeführten Zahlen unabhängig von einer Diskussion darüber, ob die Folter in der Türkei systematisch ist und wie brutal und weit verbreitet das Phänomen immer noch ist, die Gefahr der Folter in und außerhalb von Polizei- und Gendarmeriestationen immer noch sehr real ist, selbst wenn sich die Zahl derer, die bei einem Verhör nicht gefoltert werden, erhöht hat. Die Tatsache, dass Herr Celik seinen Militärdienst noch nicht abgeleistet hat, dürfte dabei die Gefahr leicht erhöhen, denn Wehrdienstentziehung könnte bei ihm als weiteres Indiz für seine Charakterisierung als "Vaterlandsverräter" genommen werden. Dabei sollte er parallel zu dem in der Meldung aus der Zeitschrift Kizilbayrak geschilderten Fall (Fußnote 3) lediglich "eingezogen" werden. Sollte nichts gegen Herrn Celik vorliegen (über seine GBT oder die Heimatbehörde über ihn bekannt sein), dann würde er im Normalfall bei einer Ankunft am Flughafen Istanbul dem Kreiswehrersatzamt in Bakirköy überstellt und von dort vermutlich auch nach Manisa geschickt werden. Es ist jedoch fraglich, ob seine Rückkehr wirklich so glimpflich ablaufen sollte. Wenn ich meine Antworten auf die Fragen zusammenfasse, so ergibt sich folgendes Bild: Herrn E. droht allein aufgrund seiner Vorstandsmitgliedschaft in der ADGH eine Anklage als Mitglied oder Unterstützer der MKP (Artikel 314 TStG und Artikel 220/7 TStG). Seine öffentlichen Auftritte bei Veranstaltungen der MKP und dort gehaltene Reden sowie vorgetragenen Liedtexte können den Straftatbestand des "Lobens von Straftaten und Tätern" (Artikel 215 TStG) erfüllen oder als weiteres Indiz für die Unterstützung der MKP genommen werden. Ob ihm eine Anklage nach Artikel 301 TStG (Verunglimpfung des Türkentums oder der Staatsautoritäten) droht, kann anhand der mir bekannten Inhalte der Lieder und Reden nicht eindeutig prognostiziert werden. Im Unterschied zu den Lageberichten (vom Juli 2006 und Januar 2007) komme ich zu dem Schluss, dass auch nach den umfassenden Reformen der Jahre 2002-2005 nicht nur die nach dem Buchstaben des türkischen Strafgesetzes verbotene "Anstiftung zu konkret separatistischen/terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen" angesehenen Meinungsäußerungen bestraft werden, sondern im Sinne der offiziellen Ideologie in der Türkei unliebsame Meinungen zu Strafverfolgung führen können und nach wie vor führen. Herr E. hat im Falle einer Abschiebung und der damit verbundenen Einreisekontrolle damit zu rechnen, dass er (falls Ermittlungen gegen ihn anhängig sind) sowohl bei der politischen Polizei als auch bei der politischen Polizei in Tunceli verhört wird. Trotz einer Abnahme von Folterfällen in der Türkei ist die Gefahr von menschenrechtswidriger Behandlung in Tunceli besonders hoch. Ich hoffe, Ihnen
mit diesen Angaben gedient zu haben.
Hamburg, den 25.05.2007 Helmut Oberdiek Fußnoten:
1
Die Beispiele sind den Tagesmeldungen der Menschenrechtsstiftung TIHV entnommen.
Zum großen Teil wurden sie vom Demokratischen Türkeiforum DTF
übersetzt und sind auf deren Internetpräsenz unter www.tuerkeiforum.net
zu finden.
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