Helmut Helmut Oberdiek * 18.9.1947 — † 27.4.2016
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Gefährdung wegen exilpolitischer Betätigung

Übersicht
Es handelt sich um eine Stellungnahme zu potentieller Gefährdung von exilpolitischer Betätigung (die so genannten "Nachfluchtgründe"). Im Prinzip aber geht es um Meinungsfreiheit in der Türkei (Stand: Mai 2007). Obwohl der Name des Asylsuchenden aufgrund der Angaben leicht zu identifizieren ist, wurde er mit dem Namen Herr E. wenigstens partiell anonymisiert. Aus dem Inhalt (kann jeweils angeklickt werden) geht es mit Strg+oben, bzw. Position 1 wieder hierher:

Beteiligung an Beerdigungen
Verfahren wegen Ehrerbietung an Abdullah Öcalan
Der Artikel 301 des Strafgesetzes
Der Lagebericht des ausw. Amtes zur Meinungsfreiheit
Änderungen am Anti-Terror Gesetz
Gefahr von Übergriffen (Folter) bei Verhören
Zusammenfassung

Mit Schreiben vom 04.05.2007 wurde ich vom RA Björn Stehn gebeten, mehrere Fragen hinsichtlich der möglichen Gefährdung seines Mandanten bei einer Rückkehr in die Türkei zu beantworten. Der Anfrage waren diverse Unterlagen wie der Bescheid des Bundesamtes vom 15.02.2007, die Klage beim VG Schleswig vom 23.02.2007, Schriftsätze vom 06. und 16.03.2007 (mit diversen Anhängen), sowie ein Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 19.03.2007 beigefügt.

Die erste Frage lautete:

Droht Herrn E. aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten, insbesondere seiner Vorstandsmitgliedschaft in der ADGH und seinen öffentlichen Auftritten bei Großveranstaltungen der MKP und dort vorgetragenen Liedtexten, die eine gewisse Sympathie mit der  Guerilla deutlich machen, in der Türkei eine strafrechtliche Verfolgung?
Der schon in den Schriftsätzen erwähnte Bericht des Landesamts für Verfassungsschutz - Arbeitsfeld Ausländerextremismus (Hamburg mit Stand vom 16.11.2005) führt unter dem Punkt: "Sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen von linksextremistischen und extrem nationalistischen türkischen Organisationen in Deutschland" zur TKP/M-L und ihre Nachfolgeorganisationen u.a. folgendes auf:

Die Dachorganisation der TKP/ML in Deutschland nennt sich "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V." (ATIF), die europäische Dachorganisation "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa" (ATIK). Die Dachorganisation der MKP in Deutschland ist die "Föderation für demokratische Rechte in Deutschland" (ADHF), auf europäischer Ebene ist dies die "Konföderation für demokratische Rechte in Europa" (ADHK).

Die Bezeichnung der Jugendorganisation als ADGH (Avrupa Demokratik Gençlik Hareketi = Demokratische Jugendbewegung Europas) wird in dem Bericht explizit nicht erwähnt; es dürfte aber wohl kein Zweifel vorhanden sein, dass es sich um die Jugendorganisation der in Europa als ADHK agierenden MKP (Maoist Komünist Partisi = Maoistische Kommunistische Partei) handelt. Dies wird auch durch einen Blick auf die eigene Internetpräsenz dieser Organisation unter http://www.adgh.org/ deutlich.
So wurde z.B. am 28.11.2006 (in Türkisch) über das 9. Yilmaz Güney Jugend-, Kultur- und Kunstfestival in Frankfurt berichtet, wo den mir übersandten Unterlagen zufolge Herr E. Gedichte vorgetragen haben soll. Neben der Tatsache, dass Herr E. im Bereich "Gedichte" zu den Personen gehörte, die eine Auszeichnung erhielten, sollte erwähnt werden, dass vor allem die im Verfassungsschutzbericht erwähnten ADHK und ADKH zu den Organisationen gehörten, die eine Grußbotschaft sandten.
Auf der Internetseite sind die selbst gestellten Aufgaben von ADGH in Deutsch nachzulesen. Ich möchte zusätzlich zur Entstehung aus der Vorstellungsbroschüre (die Seite tanitimbrosuru.htm) folgende Informationen aus der türkischen Sprache wiedergeben:

Die ADGH ist entstanden, als sich Jugendliche innerhalb der ATIK (s.o.) im Jahre 1989 trafen und unter der Bezeichnung "Yeni Demokratik Gençlik" (Neue demokratische Jugend) eine offizielle Gründung im Jahre 1990 vornahmen. Entsprechend der auf dem 1. Kongress vorgelegten Satzung wurde mit Jugendlichen aus NRW, Hessen, Nord- und Süddeutschland, sowie Frankreich, Österreich, den Niederlanden und Belgien eine zentrale Jugendkommission gebildet. Auf der 5. Vollversammlung im Jahre 1995 wurde der Name geändert (DGH = Demokratische Jugendbewegung) und auf der 14. Vollversammlung wurde der Name zu ADGH umgewandelt.

Keine Überraschung dürfte sein, dass im Gästebuch auf dieser Seite auch auf den Hungerstreik  von Herrn E. hingewiesen wird und unter den Verweisen (den "Links") die ADHK an vorderster Stelle steht. Erstaunlicher ist vielleicht, dass bei mir als 2. Treffer (mit der deutschen Version von Google) zu dem Suchbegriff ADGH eine Seite der "Karawane" (http://thecaravan.org/node/1046) auftaucht, auf der zur Solidarität mit Herrn E. aufgerufen und seine Funktionen in der ADGH dargestellt werden.
Diese Vorbemerkungen sollten deutlich machen, dass die Aktivitäten und auch die Vorstandsfunktion von Herrn E. in der ADGH den türkischen Behörden nicht verborgen geblieben sein sollten.

Die Frage nach der strafrechtlichen Verfolgung ist jedoch etwas komplizierter. Zum einen könnte die Mitgliedschaft im Vorstand einer Organisation, die von deutschen Verfassungsschützern und parallel dazu sicherlich auch von der obersten Polizeidirektion der Türkei als "Dachverband der TKP/ML (MKP) in Europa" angesehen wird, durchaus als Mitgliedschaft in der "bewaffneten (und damit illegalen)" Organisation MKP bewertet werden.

Obwohl mir keine Einzelfälle mit einem solchen Hintergrund bekannt sind, halte ich es angesichts der Tatsache, dass schon das Lesen von legalen Zeitschriften, die bestimmten illegalen Organisationen zugeordnet werden, als Indiz für die Mitgliedschaft in solchen Organisationen gewertet wird (nicht nur wurde, vgl. dazu das Beispiel unter Frage 2 zu Mehmet Desde), durchaus für möglich, dass der Artikel 314 TStG (türkisches Strafgesetz) n.F. (neue Fassung vom 01.06.2005) zur Anwendung kommt.

Im Unterschied zu Artikel 168 TStG a.F. werden die Organisationen nicht mehr "bewaffnete Banden" sondern "bewaffnete Organisationen" genannt und das Strafmaß hat sich von zwischen 10 und 15 Jahren Haft auf zwischen 5 und 10 Jahren Haft reduziert. Nach dem Artikel 5 des so genannten Anti-Terror Gesetzes (ATG, das Gesetz 3713 zur Bekämpfung von Terrorismus) muss die Strafe nach wie vor um 50% angehoben werden.

Zu den einzelnen in den Unterlagen aufgeführten Veranstaltungen, an denen Herr E. in Deutschland teilgenommen hat, kann wohl allgemein angemerkt werden, dass er dabei insofern eine exponierte Stellung innehatte, da er als Redner, Vortragender von Gedichten oder innerhalb der Musikgruppe "Daglara Ezgi" (könnte mit "Ode an die Berge", bzw. an die Kämpfer in den Bergen übersetzt werden) mit Liedern aufgetreten ist.

Was die Beteiligung an Demonstrationen und Veranstaltungen als Protest gegen die Ermordung von aktiven Kämpfern der MKP oder als Andenken an sie anbetrifft, sollte nicht nur auf die in den Unterlagen vorhandene Meldung zu einer Anklage von Häftlingen, die Briefe an den Generalstab und Staatspräsidenten wegen der Tötung von 17 Militanten der MKP im Juni 2005 in Tunceli geschickt hatten, hingewiesen werden.

Folgende Meldungen (Fußnote 1) sind m.E. ebenfalls zu beachten:

Festnahmen in Samsun
Am 25. Juni wurden in Samsun Gökhan T., Hüseyin Ö., Yasar Ç., Olcay B., Ferhat A., Sehabettin Ö., Savas K., Merve Y., Dilek K., Hasan T., Ahmet D., Ibrahim Y. und Ibrahim A. im Zusammenhang mit einer Pressekonferenz zu den 17 getöteten Angehörigen der MKP festgenommen. Sie kamen am 28. Juni in U-Haft (Özgür Gündem vom 29.06.2005)Fußnote 2
Folter in Antep
Abdullah Özgenç, Cüneyt Tiskaya, Halit Çelik, Oruç G. (17), Ergün Kaymaz und Mehmet Keban, die bei einer Pressekonferenz zu der Ermordung von 17 Militanten der MKP in Antep am 4. Juli festgenommen worden waren, haben Foltervorwürfe erhoben. Devrim Köse, die Vertreterin der Sozialistischen Plattform der Unterdrückten in Antep, sagte, dass Oruc G. wegen Schlägen auf den Kopf Gedächtnisverlust habe und zwei andere Freunde bedroht wurden, um als Spitzel zu arbeiten. (Hürriyet vom 06.07.2005)
Verhaftung wegen Pressekonferenz
Am 15. Juli wurde Nurten Karakas von der Demokratischen Frauenbewegung in Ankara wegen einer Pressekonferenz zu den getöteten MKP Mitgliedern verhaftet. (TIHV vom 20.07.2005)
Festnahmen und Verhaftungen
Azime Peker, die am 20. September in Mersin festgenommen worden war, wurde in U-Haft überstellt wegen "Propaganda  für die MKP". (Atilim und Özgür Gündem vom 23.09.2005)
Verfahren in Ankara
Am 13. April sprach die 11. Kammer des Landgerichts Ankara (ehemals Staatssicherheitsgericht) das Urteil in einem Prozess gegen 8 Personen, die sich an der Beerdigung der 17 MKP Militanten beteiligt hatten. Gökhan Akyol, Murat Yildirim und Nurten Karatas wurden zu 30 Monaten Haft wegen Unterstützung und Propaganda für eine illegale Organisation verurteilt. Özgür Kirmizioglu, Yakup Söylemez, Bahattin Aslan, Tünay Cengiz und Levent Çakir erhielten Strafen von 20 Monaten Haft. (Özgür Gündem vom 14.07.2006)
Weiteres Verfahren in Ankara
Am 27. Juni fand eine Verhandlung vor der 1. Kammer des Friedensgerichts in Ankara statt. Der stellvertretende Vorsitzende der EMEP, Haydar Kaya und Verwandte von 3 MKP Militanten, die 2005 in Tunceli erschossen worden waren und in Ankara beigesetzt wurden, sind wegen Propaganda für eine illegale Organisation angeklagt. Die Verhandlung wurde auf den 14. September vertagt. (Evrensel vom 29.06.2006)
Misshandlungen in Tunceli
Müslüm Sönmez und Hidir Yildiz haben der Polizei in Tunceli vorgeworfen, sie misshandelt zu haben. Müslüm Sönmez sagte, dass er zunächst auf der Polizeiwache Cemalettin Özdemir verhört worden sei. Als er zur Untersuchung gebracht wurde, hätten zwei Polizisten ihn zur Anti-Terror-Abteilung gebracht und ihn beschuldigt, Militante in die Berge zu schicken. Ihm sei vorgehalten worden, an der Beerdigung von 17 Militanten der MKP, die im letzten Jahr getötet worden waren, teilgenommen zu haben. Der Schüler Hidir Yildiz (19) beschwerte sich über Beleidigungen und Drohungen der Polizei. Die Beamten hätten versucht, seine Aussage ohne einen Anwalt aufzunehmen, und als er sich weigerte, hätten sie gedroht, ihn von der Schule zu entfernen. (Özgür Gündem vom 17.10.2006)

Obwohl den Meldungen einige Details für eine aussagekräftige Bewertung fehlen, kann zunächst einmal festgehalten werden, dass es nicht unproblematisch ist, an Gedenkveranstaltungen für getötete Guerilla(s) teilzunehmen. Selbst wenn die offizielle Bezeichnung eine Pressekonferenz sein sollte, die laut türkischem Recht an jedem Ort (auch im Freien) abgehalten werden darf, so kann als Minimum mit einer Anklage wegen Beteiligung an einer unerlaubten Demonstration (Gesetz 2911) gerechnet werden.

Das war jedoch bei den o.a. Beispielen nicht der Fall, sondern es wurde immer gleich zu härteren Strafvorschriften wie Propaganda für eine illegale Organisation oder Aufrufen zum Begehen einer Straftat (wie der in der Presse formulierte Vorwurf des Aufrufs zum bewaffneten Aufstand wohl exakter heißen sollte) gegriffen.

Was die Verurteilung von 8 Personen in Ankara betrifft, so bin ich mir fast sicher, dass die Presse hier die Strafvorschriften falsch wiedergibt. Nach dem ATG (vor seiner Änderung am 29.06.2006) war nach Artikel 7/1 die Mitgliedschaft in einer unter den "Terror" Begriff fallenden (und damit illegalen) Organisation mit einer Strafe zwischen 3 und 5 Jahren Haft belegt. Unterstützer erhielten nach Artikel 7/2 ATG eine Strafe zwischen 1 und 5 Jahren. Wenn man davon ausgeht, dass die meisten Gerichte die Strafen (bei "Ersttätern") auf das Mindestmaß begrenzen und dann noch wegen "guter Führung" um ein Sechstel kürzen, dann würden "Mitglieder" mit der Regelstrafe von 2 Jahren, 6 Monaten (=30 Monaten) zu rechnen haben. Das dürfte auf die ersten drei Angeklagten zutreffen. Die Strafe für die anderen Angeklagten könnte wegen "Unterstützung" erfolgt sein, wobei das Gericht im Strafmaß zwischen 1 und 5 Jahren nicht das untere Strafmaß, sondern z.B. eine Strafe von 2 Jahren Haft angeordnet hat, die dann um ein Sechstel verkürzt wurde.

Der Artikel 7 ATG wurde für unbewaffnete Organisationen entwickelt. Somit bliebe für mich an diesem Punkt vor allem unklar, welcher Organisation die Betroffenen angehört oder welche Organisation sie unterstützt haben sollen (vgl. auch hierzu die weiter unten aufgeführten Bemerkungen zum Verfahren gegen Mehmet Desde).
Es wäre vorteilhaft, einen genaueren Blick in die entsprechenden Akten zu werfen, denn wenn jemand wegen der Beteiligung an einer Beerdigung als Mitglied oder Unterstützer einer unbewaffneten, illegalen Organisation verurteilt wird, so sollte diese Person mindestens Parolen der Organisation gerufen oder aber z.B. Spruchbänder der Organisation getragen haben. Da ich aber keine Möglichkeit der Akteneinsicht sehe, kann ich an diesem Punkt momentan nur "spekulieren".

Ich werde bei der Beantwortung der Frage 2 die Änderungen am Artikel 7 ATG näher erläutern, so dass deutlicher wird, mit welcher Logik es zu einer Bestrafung nach Beteiligung an Gedenkfeiern für getötete Militante einer Organisation kommen kann.

Neben der bloßen Teilnahme an Kundgebungen, Demonstrationen oder Versammlungen im Gedenken an getötete Mitglieder einer illegalen Organisation dürfte es für Herrn E. aber auch eine Rolle spielen, welchen Inhalt seine auf den Veranstaltungen gehaltenen Reden, bzw. die vorgetragenen Gedichte und Lieder hatten. Darüber ist mir derzeit nicht viel bekannt.

Bei den Unterlagen befand sich der Text eines Liedes zu den 17 erschossenen Angehörigen der MKP (Anlage 22 zum Schriftsatz vom 16.03.2007) und im Internet habe ich zwei weitere Songtexte unter http://www.umbruch-bildarchiv.de/bildarchiv/ereignis/engin_celik.html gefunden. Die letzten vier Zeilen des 2. Songtextes sind:

"Wir haben es unserem Volk versprochen,
wir werden nie schweigen.
Lawinen fallen, Stürme gehen über uns,
Barabara ist die Sonne von Munzur!"

Mit Barbara ist hier Barbara Kistler gemeint, die sich als Schweizerin der TIKKO angeschlossen hatte und im Jahre 1993 vom türkischen Militär erschossen wurde. Sowohl in der Anlage 22 als auch in diesem Songtext kann meiner Ansicht nach eine Verherrlichung von "bewaffneten Terroristen" gesehen werden.
Möglich ist dies auch bezüglich der Rede, die Herr E. auf einer Veranstaltung in Hamburg am 25.06.2006 hielt und von der mir eine Zusammenfassung in deutscher Sprache vorgelegen hat. Hier heißt es u.a.: "… hat der Staat seine psychologische Kriegsführung in Funktion gesetzt… der Führungskreis der MKP wurde… brutal ermordet… Dieses Massaker ist das charakteristische Ergebnis des Staates."

Die "Verherrlichung des bewaffneten Kampfes" kann nach verschiedene Bestimmungen des türkischen Strafgesetzes juristisch verfolgt werden. Auf der einen Seite könnte Herr E. wegen Lobens einer Straftat oder eines Täters (einer Täterin) angeklagt werden (Artikel 215 TStG n.F.). Denkbar wäre auch eine Anklage wegen Propaganda für eine terroristische Organisation (strafbar nach Artikel 7/2 ATG oder 220/8 TStG n.F.) oder aber Unterstützung einer terroristischen Organisation (Artikel 314 TStG in Verbindung mit Artikel 220/7 TStG n.F.).

Veranschaulichen lässt sich dies am besten an Verfahren, die eröffnet wurden, wenn jemand von Abdullah Öcalan als "werter Öcalan" gesprochen hatte. Die Justiz ist sich dabei nicht einig, welche Strafvorschrift anzuwenden ist.

Die meisten Staatsanwälte und Gerichte sehen darin das Loben eines Straftäters, andere fassen es als Unterstützung einer bewaffneten Organisation oder als Propaganda für eine solche Organisation auf. Zu den Verfahren sollte noch angemerkt werden, dass es in der Türkei unhöflich ist, Personen des öffentlichen Lebens schlicht beim Namen zu nennen. Der Zusatz "sayin" (verehrter), der auch beim Schreiben von Adressen benutzt wird, ist dabei fast schon Teil des Namens, wie es "Herr" oder "Frau" im Deutschen sind.

Hier nun Beispiele aus den Jahren 2005 - 2007
Verfahren aus 2005
Geldstrafe für das Wort "Verehrter"
Das Amtsgericht in Nusaybin hat Mehmet Keyik, Vorstandsmitglied von DEHAP, zu einer Geldstrafe von 500 YTL (ca. 300 Euro) verurteilt, weil er dem Namen von Abdullah Öcalan die übliche Bezeichnung "sayin" (verehrter) vorangestellt hatte. Die Verurteilung soll nach Artikel 312 TStG erfolgt sein. Fußnote 3 (Özgür Gündem vom 14.04.2005)
Freispruch für "werter Öcalan"
Die 5. Kammer des Amtsgerichts Mersin hat Metin Nas freigesprochen. Er hatte auf einer Veranstaltung vom "werten Öcalan" gesprochen und sollte damit eine Straftat gelobt haben, was nach Artikel 312/1 altes TStG untersagt ist. Das Gericht ordnete den Freispruch unter Hinweis auf Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention an. (Özgür Politika vom 21.07.2005)
Verfahren gegen DEHAP Funktionäre
Die Staatsanwaltschaft in Ankara hat den Vorsitzenden der DEHAP, Tuncer Bakirhan und die Mitglieder des Parteiparlaments, Hatice Çoban, Alican Önlü, Muammer Deger, Orhan Miroglu, Hüseyin Yilmaz, Mehmet Tusun und Veli Büyüksahin wegen Mitgliedschaft in und Propaganda für eine illegale Organisation angeklagt, weil sie in einer Presseerklärung den Ausdruck "verehrter Öcalan" benutzt hatten. (Radikal vom 25.08.2005)
Zum zweiten Mal 10 Monate Haft für "Herr Öcalan"
Der Provinzvorsitzende der DEHAP in Erzurum Bedri Firat wurde zu 10 Monaten Haft und 400 YTL Geldstrafe verurteilt, weil er den Terroristenchef Abdullah Öcalan mit "Herr" bezeichnet hatte. Eine frühere Bewährungsstrafe hatte der 9. Strafsenat des Kassationshofs aufgehoben. Im Urteil heißt es "Das Wort 'verehrter' wird im Türkischen für ehrenwerte Menschen verwendet, um sie zu erheben. Ein nach dem TStG zum Tode Verurteilter hat nicht das Recht, so ehrerbietend bezeichnet zu werden." (Hürriyet vom 29.07.2005)
Politiker verurteilt
Der ehemalige stellvertretende Vorsitzende der DEHAP in Adana, Hasan Beliren wurde zu einer Haftstrafe von 1 Jahr verurteilt, weil er in einer Rede am 8. September 2004 vom "verehrten Öcalan" gesprochen hatte. Das Urteil an der 2. Kammer des Amtsgerichts in Adana soll schon im September ergangen sein, wurde aber erst jetzt zugestellt. Das Urteil beruht auf Artikel 215 neues TStG, womit das Loben einer Straftat unter Strafe gestellt wird. (Özgür Gündem vom 14.10.2005)
Verfahren wegen "Werter Öcalan"
Die Staatsanwaltschaft in Mus hat den Vorsitzenden des Gefangenenhilfsvereins TUHAY-DER in Mus, Ali Karagüzel, nach Artikel 215 neues TStG wegen "Lobens einer Straftat oder einer verurteilten Person" angeklagt, da er in einer Presseerklärung vom 10. Oktober den Ausdruck "werter Öcalan" verwendet hatte. (Milliyet vom 27.10.2005)
Verfahren aus 2006
Politiker Fehmi Sarac verurteilt
Fehmi Sarac, der Vorsitzende der DTP in der Provinz Mus, wurde vom Amtsgericht Mus zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr verurteilt, weil er Abdullah Öcalan "werter Öcalan" genannt hatte. (BIA vom 03.02.2006)
Strafe für Ibrahim Bülbül
Ibrahim Bülbül, der Vorsitzende der Jugendabteilung der DTP im Kreis Suruc (Urfa) wurde vom Amtsgericht in Urfa zu einer Strafe von 6 Monaten Haft verurteilt. Die Strafe erging nach Artikel 215 neues TStG, der das Loben einer Straftat oder Straftäters unter Strafe stellt. In einer Presseerklärung hatte Ibrahim Bülbül in Bezug auf Abdullah Öcalan vom "werten Öcalan" gesprochen. (Özgür Gündem vom 11.03.2006)
Strafe wegen "verehrter Öcalan"
Das Amtsgericht in Mus hat Mehmet Ali Karagüzel, Vorsitzender des Gefangenenvereins TUHAD-DER zu einer Geldstrafe von 400 YTL verurteilt, weil er in einer Presseerklärung von Abdullah Öcalan als "werter Öcalan" gesprochen hatte. Die Strafe wurde wegen Loben eines Straftäters und einer Straftat verhängt. (Özgür Gündem vom 10.05.2006)
Verfahren wegen "werter Öcalan"
Die 2. Kammer des Strafgerichts in Van hat Adil Kotay, der einem Gefangenenhilfsverein in Van vorsteht, am 23. Mai freigesprochen. Er war wegen einer Presseerklärung vom 10.10.2005 angeklagt worden, weil er darin Abdullah Öcalan als "verehrten Öcalan" erwähnt hatte. Wegen des gleichen Vorwurfs (Lob einer Straftat und eines Täter, Artikel 215 TStG) verurteilte ein Gericht in Hakkari Gülistan Koc und Emine Akboga zu je einem Monat Haft. (Atilim-Cumhuriyet-Evrensel-Özgür Gündem vom 19.-23.05.2006)
Politiker vor Gericht
Die 11. Kammer des Landgerichts Ankara hat am 30. Mai gegen den Vorsitzenden der aufgelösten DEHAP, Tuncer Bakirhan und 12 Funktionäre verhandelt. Hintergrund des Verfahrens ist eine Presseerklärung vom 16.08.2005, in der Abdullah Öcalan als "verehrter Öcalan" bezeichnet wurde. In seinem Plädoyer forderte der Staatsanwalt eine Bestrafung der Angeklagten als Mitglieder oder Unterstützer einer illegalen Organisation. (Özgür Gündem vom 31.05.2006)
Grundsatzurteil des Kassationshofs
Die 9. Kammer des Kassationshofs hat ein Urteil der 4. Kammer des Landgerichts Diyarbakir aufgehoben. Dort waren die Studenten Murat Atac, Murat Demez und Tülay Öner zu 7,5 Jahren Haft verurteilt worden, weil das Gericht sie als Mitglieder der PKK betrachtete. Sie hatten Hausbesuche gemacht und dabei Unterschriften unter eine Erklärung gesammelt, in der die Unterzeichnenden Abdullah Öcalan als den Ausdruck ihres politischen Willens bezeichneten. Der Kassationshof möchte diese Handlung nicht als Mitgliedschaft sondern als einen Verstoß gegen das Anti-Terror Gesetz betrachtet wissen. Darauf steht eine Strafe zwischen 1 Jahr und 3 Jahren. Die Studenten waren am 26. Januar 2006 verhaftet worden. (Radikal vom 19.12.2006)
Verfahren aus 2007
Verfahren wegen "werter Öcalan"
Gegen die Bezirksvorsitzenden der DTP aus Edirne Be?ir Belke, aus Kirklareli Yakup Aslan und aus Tekirdag Hilmi Karaoglan ist von der Staatsanwaltschaft in Edirne ein Verfahren eingeleitet worden, da sie während ihrer gemeinsamen Pressemitteilung am 2. Dezember von "Herrn" Abdullah Öcalan sprachen. In der Anklageschrift wird gefordert, die Bezirksvorsitzenden nach Artikel 215 "Loben eines Täters und einer Straftat" zu bestrafen. Das Verfahren wird am Friedensgericht Nr. 2 in Edirne durchgeführt werden. (Radikal vom 15.03.2007)
Strafe für "verehrter Öcalan"
Am 6. März verurteilte die 2. Kammer des Amtsgerichtes Diyarbakir den Vorsitzenden der DTP Ahmet Türk bei der ersten Gerichtsverhandlung in einem Verfahren wegen der Anrede "Herr" bezüglich Abdullah Öcalan am 18. Januar 2006 zu 6 Monaten Haft wegen "Lobens eines Straftäters und einer Straftat" nach Artikel 215/1 TStG. (Gündem vom 07.03.2007)
Strafe für "verehrter Öcalan"
Am 7. März verurteilte das Amtsgericht Diyarbakir Sedat Yurttas, ein ehemaliger Parlamentsabgeordneter der geschlossenen Demokratie-Partei und Mitglied der DTP-Partei-Versammlung, wegen Benutzung der Anrede "Herr" in Bezug auf Abdullah Öcalan bei einer Sendung von Roj TV am 11. Januar 2006. Das Gericht verurteilte ihn wegen "Lobens einer Straftat und eines Straftäters" nach Artikel 215/1 TStGB zu einer Haftstrafe von 6 Monaten. (ANF- Milliyet-Gündem vom 08.03.2007)

Neben einer Anklage als Mitglied oder Unterstützer der Organisation MKP, bzw. wegen Lobens einer Straftat oder Straftäters (Straftäterin) käme für E. Celik je nach dem Inhalt seiner Reden, Gedichte oder Lieder, die ebenfalls den türkischen Behörden bekannt sein dürften, auch eine Anklage nach Artikel 301 TStG in Betracht.

Der Artikel 301 lautet:
1. Die Person, die das Türkentum, die Republik und die Große Nationalversammlung der Türkei öffentlich verunglimpft, wird mit Haft zwischen sechs Monaten und drei Jahren bestraft.
2. Die Person, die die Regierung der Republik Türkei, die Justizorgane des Staates oder die Einrichtungen des Militärs oder der Polizei öffentlich verunglimpft, wird mit Haft zwischen sechs Monaten und zwei Jahren bestraft.
3. Wenn die Verunglimpfung des Türkentums durch einen türkischen Staatsbürger im Ausland begangen wurde, wird die Strafe um ein Drittel erhöht.
4. Meinungsäußerungen, die der Kritik dienen, sind nicht als Straftat zu werten.

Dies ist wohl der am meisten diskutierte Artikel unter den Bestimmungen des neuen Strafgesetzes, die die Meinungsfreiheit in der Türkei einschränken. Aufgrund seiner recht schwammigen Formulierung ist es möglich, negative Äußerungen über die Türkei ("die Türken") und oder ihre Institutionen mit Strafe zu belegen. Der 4. Absatz wurde mit dem Gesetz 4771 vom 9. August 2002 zum Artikel 159 TStG a.F. hinzugefügt. Allerdings war es auch davor schon gängige Rechtspraxis, d.h. es gab entsprechende Grundsatzurteile, die besagten, dass Äußerungen, die vom Gericht als reine Kritik bewertet wurden, nicht zu einer Bestrafung führten.

Neu jedoch ist der Absatz 3, der die Strafe für eine Verunglimpfung des Türkentums, wenn sie von einem türkischen Staatsbürger im Ausland erfolgte, um ein Drittel erhöht. Das käme möglicherweise für Herrn E. in Betracht.

Es mag richtig sein, dass der mittlerweile ermordete armenische Journalist Hrant Dink, der bisher Einzige war, gegen den eine rechtskräftige Verurteilung nach Artikel 301 TStG vorlag (vgl. S. 15 des Lageberichts vom 10. Januar 2007, Stand Dezember 2006) Fußnote 4 und (von mir hinzugefügt) nicht zuletzt deswegen zur Zielscheibe seiner Mörder wurde, es sind aber neben ihm eine ganze Reihe weiterer Personen verurteilt worden.

Dazu gehören u.a. folgende Verfahren, auf die der Lagebericht nicht hinweist:
Gewerkschafter Hanefi Bekmezci verurteilt
Das Amtsgericht in Tunceli hat den Gewerkschafter Hanefi Bekmezci zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten Haft verurteilt. Der Gewerkschafter hatte wegen einer Presseerklärung zur Ermordung des Taxifahrers Hasan Akdag am 14. September 2005 unter dem Vorwurf der Beleidigung (Artikel 301 TSG) vor Gericht gestanden. Die Haftstrafe wurde in eine Geldstrafe von 3.000 YTL umgewandelt. (Bia vom 16.02.2006)
Aziz Özer geht zum 5. Mal in Revision
Aziz Özer, der Chefredakteur der Zeitschriften "Aufruf" (für eine neue Welt) und "Güney", wird zum 5. Mal wegen eines Artikels vom Februar 2001 in Revision gehen. In einer Sondernummer von "Aufruf" hat auch gestern die 2. Kammer des Landgerichts Bakirköy einen Verstoß nach Artikel 301 neues TSG (159 altes TSG) gesehen und dem Journalisten eine Geldstrafe von 720 YTL auferlegt. Dagegen hat der Anwalt Özcan Kilic Revision eingelegt. (Bia vom 10.03.2006)
Eren Keskin verurteilt
Die 3. Kammer des Amtsgerichts Kartal hat die Vorsitzende des IHD Istanbul zu einer Haftstrafe von 10 Monaten nach Artikel 301 neues TStG verurteilt. Das Urteil wurde wegen einer Rede auf einer Veranstaltung der Union alewitischer Frauen in Köln am 16. März 2002 verhängt. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. (Radikal vom 16.03.2006)
Politiker Sabri Ejder Özic verurteilt
Die 5. Kammer des Amtsgerichts Adana hat Sabri Ejder Özic, Funktionär der ÖDP, wegen einer Rede im Radiosender Dünya (Adana) zu einer Strafe von 6 Monaten Haft nach Artikel 301 TStG verurteilt. In der Rede vom 23. Februar 2003 soll das Parlament beleidigt worden sein. Im Januar 2004 war Özic wegen dieser Rede nach Artikel 159 altes TStG zu einer Haftstrafe von einem Jahr verurteilt worden. Der Kassationsgerichtshof hatte das Urteil im Jahre 2005 aufgehoben. (Bia vom 21.04.2006)
Autor Mustafa Balbal verurteilt
Die 2. Kammer des Amtsgerichts Beyoglu hat Mustafa Balbal (von der Tageszeitung Cumhuriyet) zu einer Haftstrafe von 10 Monaten wegen seines Buches "Blutblumen eines gefangenen Generals am Ararat" verurteilt. In dem Buch soll sowohl die Republik als auch die Armee beleidigt worden sein. Die Strafe wurde nach den Absätzen 1 und 2 des Artikels 301 neues TStG verhängt. Die Strafe wurde in eine Geldstrafe von 1.800 YTL verwandelt und zur Bewährung ausgesetzt. Der Verleger Ahmet Zeki Okcuoglu (Verlag Doz) wurde freigesprochen. (Radikal vom 09.06.2006)
Menschenrechtler verurteilt
Die 1. Kammer des Amtsgerichts Bingöl hat die Funktionäre des Menschenrechtsvereins IHD, Kiraz Bicici und Ridvan Kizgin eines Vergehens nach Artikel 301 neues TStG für schuldig befunden. Die verhängten Freiheitsstrafen von 6 Monaten wurden in Geldstrafen umgewandelt. Es ging um eine Pressemitteilung vom 24.07.2003 zu Menschenrechtsverletzungen. Das Gericht befand, dass die Sicherheitskräfte ohne konkrete Beweise beleidigt worden seien. Von der Zweigstelle Bingöl des IHD wurde im letzten Oktober ein Bericht herausgegeben, der seit 2001 209 Ermittlungen und 51 Verfahren gegen die Filiale auflistete. Im gleichen Zeitraum hatte die Zweigstelle von 2.354 Verletzungen der Menschenrechte berichtet, wobei es nur in einem Fall zu einem Verfahren gegen Staatsbedienstete gekommen war. (Bia vom 21.12.2006)
Verurteilung eines Rechtsanwaltes in Mersin
Am 27. März beendete das Friedensgericht Nr. 2 das Verfahren gegen Rechtsanwalt Ali Bozan, ehemaliger Vorsitzender der DTP in Mersin und ehemaliger Generalsekretär der Zweigstelle des IHD in Mersin, das gegen ihn eingeleitet worden war im Zusammenhang mit einer Presseerklärung von ihm über die Tötung von Ümit Gönültas bei einer Demonstration am 15. Februar 2005 in Mersin und Murat Demir am 22. November 2005. Das Gericht verurteilte Ali Bozan wegen "Beleidigung der Justiz und der Sicherheitskräfte" nach Artikel 301 TStG zu 6 Monaten Haft. Die Haftstrafe wurde in eine Geldstrafe von 3.600 YTL umgewandelt. (Güncel, 30.03.2007)
Mahmut Alinak verurteilt
Der Prozess gegen den ehemaligen DEP- Abgeordneten und jetzigen DTP Kreisvorsitzenden von Kars, Mahmut Al?nak wegen eines Interviews am 19. Januar 2006 mit der Zeitung "Ülkede Özgür Gündem", wurde am 2. Mai beendet. Das 2. Landgericht  Beyo?lu verurteilte Al?nak aufgrund von "Beleidigung der türkischen Streitkräfte" gemäß Artikel 301, Absatz 2 TStG zu sechs Monaten Haftstrafe. Die Strafe wurde zu einer Geldstrafe von 3000 YTL umgewandelt. (Gündem vom 03.05.2007)

Hervorzuheben ist hier das Verfahren gegen Eren Keskin, die im Zusammenhang mit einer Veranstaltung in Köln angeklagt war. Sie hatte insofern "Glück" weil der Artikel 301 TStG n.F. zur "Tatzeit" noch nicht in Kraft getreten war, denn sonst hätte die Strafe nach dem neu eingeführten Absatz 3 um ein Drittel erhöht werden müssen und wäre evtl. nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt worden.

Folgende Internetseiten mögen zusätzlichen einen Einblick in das Ausmaß von politischer Verfolgung aufgrund von geäußerten Meinungen geben. Das ist zum einen die Datenbank von "Antenna", einer Organisation in Istanbul, die sich der Meinungsfreiheit verschrieben hat. Sie ist in englischer Sprache unter http://www.antenna-tr.org/ctl/index.asp?lgg=en zu erreichen.

Am 13. April 2007 hat "Human Rights Watch" (HRW) einen Brief an den Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan geschrieben und darin eine Reihe von Fällen genannt, die gegen das Recht auf Meinungsfreiheit verstoßen. Fußnote 5

Des Weiteren wird vom unabhängigen Netzwerk Bia ein Projekt mit dem Titel Bia² betrieben. In ihrem Jahresbericht für 2006 (in Englisch unter http://www.bianet.org/2006/11/01_eng/news92115.htm) werden dort folgende Zahlen präsentiert. Im Jahre 2006 wurden 293 Journalisten, Publizisten und Aktivisten angeklagt (verglichen zu 157 im Jahr 2005). 72 Verfahren wurden unter Artikel 301 TStG n.F. geführt, 35 Verfahren wurden unter Artikel 216 TStG (Aufstachelung zu Rassenhass) geführt und 24 Mal stand Beeinflussung der Justiz (strafbar nach Artikel 19 des Pressegesetzes und 288 TStG) im Hintergrund. Es kam zu 7 Verurteilungen nach Artikel 301 TStG und es gab 13 Freisprüche. Weitere 5 Verfahren wurden nicht durchgeführt, weil keine Genehmigung vom Justizministerium vorlag. Unter Artikel 216 TStG erfolgten 3 Verurteilungen und 4 Freisprüche.

Ich persönlich denke, dass die hohe Anzahl an Freisprüchen kein Indiz für die zunehmende Liberalisierung der Justiz in Richtung auf mehr Meinungsfreiheit in der Türkei ist. Ohne meinen subjektiven Eindruck mit Zahlen belegen zu können, war das "Missverhältnis" zwischen Anklagen und Verurteilungen auch vor den Gesetzesänderungen zwischen 2002 und 2005 gegeben.

Das lag zum einen daran, dass viele Verfahren aufgrund von verfälschten Anschuldigungen in der Presse erfolgten und (nachdem sich die öffentliche Empörung gelegt hatte) auch Staatsanwälte ihre ursprünglichen Anträge auf Bestrafung abänderten und auf Freispruch plädierten. Zum anderen kommt es in solchen Verfahren vielfach zum Einsatz von so genannten Expertenteams, die beurteilen sollen, ob eine bestimmte Äußerung als Beleidigung der Staatsautoritäten angesehen werden kann oder nicht.

In vielen Fällen sind Akademiker dann zu einem anderen Schluss gekommen als die jeweiligen Staatsanwaltschaften und die Gerichte konnten sich für Freispruch entscheiden. Wie aber am Fall von Hrant Dink deutlich wird, gibt es auch Fälle, wo Gerichte sich gegen die Gutachter entscheiden.

Frage 2:

Wie beurteilen Sie die Einschätzung des auswärtigen Amtes (hier zitiert nach Seite 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15.02.2007) demnach "öffentliche Äußerungen zur Unterstützung kurdischer Belange in der Türkei nur strafbar [seien], wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen/terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden könnten."?
Diese im Lagebericht vom November 2006 auf der Seite 27 aufgeführte Feststellung ist im Lagebericht vom Januar 2007 auf der Seite 34 aufgeführt. Für mich ist diese Feststellung eher an der Theorie (und hierbei noch an einzelnen Elementen von Änderungen an den gesetzlichen Vorschriften), denn an der Praxis (bzw. an den Rückschritten in Gesetzesreformen) in der Türkei orientiert. Lassen Sie mich dies am Fall von Mehmet Desde und anderen näher ausführen. Fußnote 6

Mehmet Desde war mit dem in Berlin lebenden Journalisten Mehmet Bakir auf dem Weg zur Ferienwohnung der Eltern von Mehmet Bakir, als sie am 9. Juli 2002 in der Nähe von Izmir festgenommen wurden. Vier Tage lang wurden sie bei der politischen Polizei in Bozyaka (Izmir) verhört. Rechtsbeistand wurde ihnen verweigert. Sie machten aber trotz physischer und psychischer Folter keine Angaben, bzw. versuchten deutlich zu machen, dass sie Fragen nach einer Organisation, der Bolschewistischen Partei Nordkurdistan-Türkei, von der sie noch nie etwas gehört hatten, nicht beantworten konnten.

Da andere Häftlinge sie aber in "Geständnissen", die sie vor Gericht mit deutlichem Hinweis auf Folter widerriefen, als Mitglieder dieser Organisation beschuldigten, kamen Mehmet Desde, Mehmet Bakir und 3 Mitangeklagte in Untersuchungshaft, wo sie bis zum 21. Januar 2003 blieben. Am gleichen Tag wurde ein Ausreiseverbot gegen Mehmet Desde und Mehmet Bakir verhängt, das bis heute gültig ist.

Der Staatsanwalt am Staatssicherheitsgericht (SSG) Izmir klagte sie zunächst nach Artikel 168 des türkischen Strafgesetzes (TStG) wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Bande an. In der Hauptverhandlung wurde der Vorwurf dann auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation abgeändert (Artikel 7 des Anti-Terror-Gesetzes), da keine bewaffneten Aktionen der Organisation bekannt waren.

Neben den Aussagen von einigen Angeklagten bei der Polizei wurden als "Beweise" bei Hausdurchsuchungen einige Flugblätter und Aufkleber, sowie legal erscheinende Zeitschriften gefunden. Bei den Flugblättern und Aufklebern geht es um Dinge wie den Aufruf zur Beteilung an Kundgebungen zum 1. Mai oder einen Protest gegen die Ermordung von 37 (alewitischen) Intellektuellen in Sivas (1993). Mit den angeblich legalen "Organen der Partei" sind die in Istanbul erscheinende Monatszeitschrift "Yeni Dünya icin Cagri" (Aufruf für eine neue Welt) und die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift "Güney" gemeint.

In keiner dieser vermeintlichen "Beweise" (für die Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation) waren Aufrufe zur Gewalt, bzw. zu terroristischen Akten enthalten. Diese Vorschrift, verkürzt dargestellt als "nur noch ein Aufruf zur Gewalt ist strafbar" wurde im Juli 2003 in das Anti-Terror-Gesetz (ATG) aufgenommen. Fußnote 7

Mit dem Urteil vom 24. Juli 2003 wurden die Angeklagten Mehmet Desde, Maksut Karadag, Hüseyin Habib Taskin, Serafettin Parmak und Mehmet Bakir als Gründer und leitende Mitglieder einer terroristischen Organisation nach Artikel 7 ATG zu einer Strafe von je 50 Monaten Haft und einer Geldstrafe von 7,27 Milliarden TL (ca. 4.800 Euro) verurteilt. Metin Özgünay, Ömer Güner und Ergün Yildirim wurden wegen Unterstützung dieser Organisation zu je 10 Monaten Haft und Geldstrafen von 795 Millionen TL verurteilt. Die Angeklagten Hatice Karadag und Fatma Tufaner wurden freigesprochen. Die Verurteilten legten Revision ein.

Im April 2004 hob der Kassationshof das Urteil auf und es musste erneut in Izmir verhandelt werden, wo das SSG nun die 8. Kammer des Gerichts für Zuchthausstrafen (ich nenne es verkürzt "Landgericht") geworden war. Am 12.10.2004 verurteilte dieses Gericht (in fast identischer Besetzung wie das SSG) die Angeklagten zwar nicht mehr wegen führender Mitgliedschaft, aber einfacher Mitgliedschaft, so dass sich die Strafen auf 2,5 Jahre Haft reduzierten. Die Strafen für die "Unterstützer" blieben gleich. Der Staatsanwalt hatte mit Hinweis auf die (neuen) Vorschriften im ATG vom Juli 2003 auf Freispruch plädiert.

Dem folgte das Gericht mit folgender Begründung nicht:
"Um zu beurteilen, ob eine Organisation terroristisch ist oder nicht, muss der Aufbau der Organisation, die Arbeitsweise, das Ziel und die Methoden berücksichtigt werden. Bei der Definition von Terror im Artikel 1 des Gesetzes Nr. 3713 wird Terror beschrieben als 'Aktionen von einer Person oder Personen, die einer solchen Organisation angehören, die unter Anwendung von Gewalt, einer der Methoden von Druck, Zermürbung, Einschüchterung, Erschrecken oder Drohungen mit der Absicht, die in der Verfassung aufgeführten Eigenschaften der Republik, das politische, rechtliche, soziale, laizistische, wirtschaftliche System zu verändern, die unteilbare Einheit des Staates mit seinem Land und seiner Nation zu zerstören, die Existenz der Republik des türkischen Staates zu gefährden, die Autorität des Staates zu schwächen oder zu zerstören oder an sich zu reißen, die Grundrechte und -freiheiten zu beseitigen, die innere und äußere Sicherheit des Staates, die öffentliche Ordnung oder allgemeine Gesundheit zu zerstören in Angriff genommen werden.' Es reicht dabei aus, dass der in dieser Definition erwähnte Zwang und die Gewalt von der Organisation als Zweck anerkannt wird. Es ist sogar ausreichend, wenn der Zwang ein ideeller Zwang ist. So werden die in der Definition aufgeführten Aktionen, die in der Absicht, strafbare Aktionen zu begehen, begangen werden, (diese 2 Worte fehlen im Türkischen) als Terror bezeichnet. "

Im November 2005 schickte der Staatsanwalt am Kassationshof die Akte wieder nach Izmir mit der Bemerkung, dass neue Gesetze in Kraft getreten seien und das Urteil dementsprechend überprüft werden müsse. Am 16. März 2006 fand dann eine Verhandlung statt, in der die 8. Kammer des Landgerichts in Izmir sein Urteil vom 12.10.2004 bestätigte, obwohl der Staatsanwalt und die Verteidigung erneut auf Freispruch plädiert hatten.

Am 18. Januar 2007 bestätigte die 9. Kammer am Kassationshof das Urteil, obwohl der Artikel 7 erneut verändert worden war. Damit war das Urteil rechtskräftig und zum Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens waren einige Angeklagte schon inhaftiert worden, um ihre Reststrafe "abzusitzen".

Die Bestätigung durch den Kassationshof sowie die Weigerung des Staatsanwaltes am Kassationshof die Entscheidung der Kammerversammlung am Kassationshof zur Überprüfung vorzulegen, Fußnote 8 ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich in der auch von amnesty international gesehenen "Rechtsbeugung" des Gerichts in Izmir keine Ausnahme sondern eher eine Tendenz für eine sich wieder verschärfende Gesinnungsjustiz in der Türkei abzeichnet. Dies kann auch an den Änderungen im ATG gesehen werden.

Mit dem Artikel 6 des Gesetzes 5532 vom 29.06.2006 wurde der Artikel 7 ATG folgendermaßen geändert (eigene Übersetzung):
Wer die im Artikel 1 beschriebenen Organisationen… gründet, leitet oder ihnen angehört, wird nach Artikel 314 TStG bestraft. Wer Aktivitäten der Organisation organisiert, wird als Leiter der Organisation bestraft.
Wer Propaganda für die Organisation macht, wird mit 1-5 Jahren Haft bestraft. Falls die Straftat mithilfe der Presse oder Publikationen begangen wird, wird die Strafe um die Hälfte angehoben… Folgende Vergehen und Verhalten werden nach diesem Absatz bestraft:
a) teilweise oder vollkommene Vermummung bei Kundgebungen und Demonstrationen, die zu Propaganda einer terroristischen Organisationen werden;
b) falls Embleme oder Zeichen getragen werden, Parolen gerufen oder mit Lautsprechern ausgestrahlt wird oder wenn Uniformen mit Emblemen und Zeichen der Organisation angezogen werden, die deutlich machen, dass jemand Mitglied oder Unterstützer der Organisation ist.
Wenn die im 2. Absatz beschriebenen Vergehen in Gebäuden, Lokalen, Büros oder Anbauten von Vereinen, Stiftungen, politischen Parteien, Arbeiter- oder Berufseinrichtungen oder ihren Unterorganisationen begangen wird, wird die Strafe verdoppelt.

Auf weitere Verschärfungen durch das Gesetz 5532 möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen. Sie waren bei der Erstellung der Lageberichte vom Juli 2006 und Januar 2007 bekannt und bedeuten nur auf den Artikel 7 angewandt:
1. Es wird nicht mehr nach bewaffneten und unbewaffneten Organisationen unterschieden (insofern hätte der Artikel 7 auch gestrichen werden können).
2. Die Strafe für führende Mitglieder illegaler Organisationen (wobei mit dem juristischen Konstrukt der "ideellen Gewalt" unbewaffnete Organisationen, die ohne Drohungen und Einschüchterungen arbeiten, terroristische Gruppen werden) liegt nach Artikel 314 TStG zwischen 10 und 15 Jahren Haft. Die Strafe für einfache Mitglieder illegaler Organisationen liegt zwischen 5 und 10 Jahren Haft.
3. Die unter Artikel 314 TStG verhängten Strafen müssen nach Artikel 5 ATG um die Hälfte angehoben werden, bevor sie wegen "guter Führung" um ein Sechstel reduziert werden können. Mehmet Desde würde nach dieser Bestimmung also nicht zu 30 Monaten, sondern zu 6 Jahren, 3 Monaten Haft verurteilt werden.
4. Die Propaganda für eine solche Organisation wurde um bestimmte Formen der Beteiligung an Demonstrationen und Kundgebungen erweitert. Das Strafmaß ist gleich geblieben.

Es mag sein, dass im Falle von Herrn E.die Frage nach bewaffneter oder unbewaffneter Organisation nicht die entscheidende Rolle spielt, denn nach Artikel 314 TStG in Verbindung mit Artikel 220/7 TStG n.F. könnte er, falls die MKP als bewaffnete Organisation eingestuft wird, als ihr Unterstützer zu der gleichen Strafe verurteilt werden, die ein einfaches Mitglied erhält. Im Falle der Propaganda für eine bewaffnete Organisation hätte er nach Artikel 220/8 TStG n.F. eine Strafe zwischen 1 und 3 Jahren Haft zu erwarten (die Obergrenze liegt dabei noch unter der Obergrenze des Artikels 7/2 ATG).

"Beweise" für eine derartige Anklage bzw. Urteil dürften schon durch die für jedermann (jede Frau) im Internet zugänglichen Quellen vorhanden sein. Es dürften viele Bilder von Demonstrationen und anderen Veranstaltungen, an denen Herr E. beteiligt war, zu finden sein. Dabei wurden Embleme und Zeichen einer von nach den Gesetzen der Türkei verbotenen Organisation getragen.

Hier könnte einschränkend eingewandt werden, dass die neuen Bestimmungen nur auf Veranstaltungen in der Türkei und nicht im Ausland anzuwenden sind, bzw. angewendet werden. Auf der anderen Seite aber könnte die Vorstandsfunktion, die Auftritte bei Veranstaltungen einer in der Türkei illegalen Organisation miteinander verbunden als Beweis für Mitgliedschaft und/oder Unterstützung gewertet werden.

Es sollte auch bedacht werden, dass "gewaltfreie" Äußerungen im Ausland entgegen der Meinung des auswärtigen Amtes in der Türkei nicht straffrei sind. Unter Verweis auf das Verfahren von Eren Keskin scheint hier der strittige Punkt (zum Vorwurf der Beleidigung der Armee) gewesen zu sein, dass sie davon gesprochen hatte, dass (einzelne) Soldaten (bestimmte) kurdische Frauen vergewaltigt hatten. Außerdem hatte sie das Wort "Kurdistan" als geographische Bezeichnung verwandt (vgl. Özgür Politika vom 21.09.2002). Dies wurde pauschal als Beleidigung der Armee (nicht nur Kritik) bewertet.

Erinnert werden sollte auch an das Verfahren gegen Akin Birdal, den ehemaligen Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins IHD. Özgür Gündem vom 06.03.2003 berichtete seinerzeit: "Der Ehrenvorsitzende des IHD und st. Vorsitzende von FIDH Akin Birdal wurden von der 2. Strafkammer des Landgerichts Ankara vom Vorwurf eines Vergehens nach Artikel 159 TStG a.F. (Amtsbeleidigung) freigesprochen. Das Verfahren war wegen einer Rede am 20. Oktober 2000 in Deutschland eröffnet worden, wo Birdal gesagt haben soll, dass die Türkei sich wegen des Völkermords an den Armeniern entschuldigen soll. Nachdem lange Zeit ergebnislos nach dem Reporter der Zeitung Gözcü, der den Artikel verfasst hatte, gesucht worden war, hat das Gericht nun das Verfahren aus Mangeln an Beweisen eingestellt."

Mit anderen Worten, Akin Birdal wäre wohl bestraft worden, wenn der Journalist, der über die Veranstaltung berichtet hatte, aufgetaucht wäre und vor Gericht seine Behauptungen bekräftigt hätte. Noch einmal anders ausgedrückt, falls jemand die Meinung vertritt, dass die Türkei einen Völkermord an den Armeniern verübt hat und sich dafür entschuldigen solle, muss er/sie mit Bestrafung rechnen. Daran hat sich auch seit 2003 nichts geändert.

Wenn ich nun auf die eingangs gestellte Frage zurückkomme, so muss ich nach alledem feststellen, dass auch nach den umfassenden Reformen der Jahre 2002-2005 nicht nur die nach dem Buchstaben des türkischen Strafgesetzes verbotene "Anstiftung zu konkret separatistischen/terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen" angesehenen Meinungsäußerungen bestraft werden, sondern im Sinne der offiziellen Ideologie in der Türkei unliebsame Meinungen zu Strafverfolgung führen können und nach wie vor führen.

Auf das von mir angeführte Beispiel des deutschen Staatsbürgers Mehmet Desde bezogen, lässt sich zusammenfassend sagen: Mehmet Desde wurde wegen der Mitgliedschaft in einer Organisation verurteilt, die für den jetzigen Zeitpunkt Gewalt ablehnt. Die angeblichen Beweise sind neben Flugblättern und Zeitschriften, die nicht zur Gewalt aufrufen und überdies nicht in seinem Besitz sondern bei anderen Beschuldigten gefunden wurden, Aussagen von anderen Angeklagten, von denen sie glaubhaft versicherten, dass sie unter Folter erpresst wurden. Das Gericht in Izmir hat diese Aussagen als Beweise zugelassen, ohne die Foltervorwürfe zu untersuchen. Das in mehrfacher Hinsicht nach einem unfairen Gerichtsverfahren im März 2006 gefällte Urteil wurde im Januar 2007 durch den Kassationshof bestätigt. Trotz einiger positiver Urteile kann bislang nicht davon die Rede sein, dass die oberste Berufungsinstanz in der Türkei durch Grundsatzurteile einen entscheidenden Beitrag zum Schutz der Meinungsfreiheit oder der Rechtsstaatlichkeit politischer Verfahren geleistet hat.

Frage 3:

Droht Herrn E. aufgrund dieser Umstände im Falle einer Abschiebung und der damit verbundenen besonderen Einreisekontrolle auch unter Berücksichtigung, dass er militärdienstpflichtig ist, eine menschenrechtswidrige Behandlung im unmittelbaren Zusammenhang mit der Einreise oder zu einem späteren Zeitpunkt?
Wie auch das auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom Januar 2007 auf der Seite 47 einräumt, würde Herr E. im Falle seiner (zwangsweisen) Rückkehr in die Türkei bei der Einreise einer Kontrolle unterzogen, bei der sein GBT (Genel Bilgi Toplama = allgemeine Informationen zu Personen, mehr als nur ein Strafregister) abgefragt und im Heimatort Auskunft über mögliche Ermittlungen gegen ihn eingeholt werden.

Sollte sich hier ergeben, dass Ermittlungen schon angestrengt wurden, würde die Polizei (z.B. am Flughafen in Istanbul) ihn zur politischen Polizei überstellen und Herr E. würde dort, bzw. bei der politischen Polizei an dem Ort, an dem die Ermittlungen geführt werden, Verhören unterzogen werden, die je nach Charakter legal 24 oder 48 Stunden dauern dürfen. Fußnote 9

Folgende Problemzonen bestehen für Herrn Celik. Sollte die Polizei am Flughafen (bzw. dem jeweiligen Einreiseort) von seinem politischen Engagement Kenntnis erlangen (was in Verbindung mit seinem Geburtsort und Alter ihn gleich als "Terroristen" abstempeln würde), dann ist auch hier nicht ausgeschlossen, dass besonders staatstreue Beamte ihn als "Vaterlandsverräter" beschimpfen und evtl. auch schlagen. Sollten die Beamten sich korrekt verhalten und ihrer Pflicht entsprechend lediglich die politische Polizei einschalten, ist die Foltergefahr damit nicht vorüber.

Mit dem Gesetz 5532 vom 29.06.2006 wurden Bestimmungen des Gesetzes 3713 zur Bekämpfung des Terrorismus vom April 1991 abgeändert. In Artikel 10(b) wurde festgelegt, dass die Personen, die unter dem Verdacht festgenommen wurden, eine Bestimmung dieses Gesetzes verletzt zu haben, nur Anspruch auf den Rechtsbeistand von einer Person haben. Ein Staatsanwalt kann außerdem beantragen, dass der Festgenommene in den ersten 24 Stunden keinen Rechtsbeistand erhält. Dies muss durch einen Richter bestätigt werden (so das Gesetz). In der Praxis werden Polizeibeamte diese Bestimmung aber so interpretieren, dass sie 24 Stunden keinen Kontakt zwischen Verdächtigem und Anwalt erlauben. Dies erhöht die Foltergefahr.

Neben den gesetzlich erlaubten 48 Stunden für ein Verhör (evtl. auch vier Tage, wenn Herr E. mit anderen Personen als Mitglied einer illegalen Organisation beschuldigt wird) hat die politische Polizei weitere 12 Stunden Zeit, jemanden festzuhalten, obwohl diese Zeit offiziell als Höchstdauer für den Transport zu einem Gericht (Staatsanwalt und Haftrichter) ausgegeben ist.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass jemand, der zunächst in einem anderen Ort als dem Ort der Ermittlungen aufgegriffen wird, nicht immer sofort an die heimatlichen Behörden überstellt wird, sondern erst einmal Verhöre bei der jeweiligen Polizei stattfinden. Im Falle einer Einreise über Istanbul könnte es also sein, dass bei Ermittlungen gegen Herrn E. in Tunceli er erst einmal bei der politischen Polizei in Istanbul (bis zu 48 Stunden lang) verhört und dann an die politische Polizei in Tunceli überstellt wird. Hier hätten die Beamten wiederum 48 Stunden Zeit (24 Stunden davon ohne Kontakt zur Außenwelt), ihn zu verhören.

Die oben aufgeführte Zeitungsmeldung vom 17.10.2006 ist ein Indiz dafür, dass in Tunceli vermutlich eine erhöhte Gefahr von Folter besteht. Mir ist nicht bekannt, dass das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung oder Bestrafung (Committee for the Prevention of Torture = CPT) jemals Verhörzentren in Tunceli besucht hat. Das ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass in der Vergangenheit ausländischen Delegationen mehrfach die Einreise in die Provinz verweigert wurde. Daher liegen direkte Eindrücke des CPT über die Zustände in der Provinz Tunceli nicht vor. Im vorläufig letzten Bericht vom 6. September 2006 Fußnote 10 bescheinigte die CPT der Türkei "Fortschritte im Kampf gegen Folter", fand aber auch "Beschwerden über kürzliche Misshandlung, die vielfach durch medizinische Atteste unterstützt waren". Fast in allen besuchten Polizeistationen (in Istanbul und Van) wurden Vorwürfe von Quetschen der Hoden und brutalen Schlägen gemacht.

Zu den Angaben des Lageberichtes bezüglich der Zahlen des Menschenrechtsvereins IHD auf der Seiten 38 sollte angemerkt werden, dass sich die hier wiedergegebenen Zahlen zu Folter und Misshandlungen auf die ersten 9 Monate des Jahres 2006 beziehen. Für das gesamte Jahr wurde ein Bericht im März 2007 veröffentlicht. Hieraus ergibt sich eine Gesamtzahl von 708 Beschwerden, von denen 179 auf Polizei- oder Gendarmeriestationen verzeichnet wurden. 261 Fälle kamen von nicht offiziellen Haftorten und 173 aus den Gefängnissen.

Vielleicht sollte auch auf die Bilanz der Zweigstelle Istanbul des IHD für das Jahr 2006 hingewiesen werden. Sie wurde am 16.02.2007 veröffentlicht und führt auf, dass sich 105 Personen bei dem Verein wegen Folter und Misshandlung beschwerten. Zusammen mit anderen Fällen in Istanbul, von denen der Verein Kenntnis erlangte, lag die Zahl der Beschwerden in Istanbul bei 137.

Eine Kategorie, die als solche nicht im Bericht des Gesamtvereins IHD aufgeführt ist, sind Abgeschobene und Ausgelieferte, bzw. erfolglose Asylbewerber. Immerhin haben sich aus diesem Kreis 19 Personen beim Verein gemeldet und vier Personen haben Vorwürfe von Misshandlung erhoben (wobei es allerdings unklar ist, ob es abgeschobene Asylbewerber waren oder ob es sich um Asylbewerber handelte, die sich in der Türkei aufhielten).

Im Jahresbericht 2006 der Menschenrechtsstiftung TIHV, der sich aus Angaben der Behandlungszentren in Adana, Ankara, Diyarbakir, Istanbul und Izmir (herausgegeben am 17. April 2007) zusammensetzt, werden folgende Angaben gemacht:
Im Jahre 2006 beantragten 337 Personen eine Behandlung, unter denen 222 im selben Jahr festgenommen worden waren. Weitere 9 Personen gaben an, im selben Jahr im Gefängnis gefoltert worden zu sein. Anstelle der Haltung "Null-Toleranz gegen Folter" herrsche "Toleranz gegen Folterer", sagt der Bericht.
Im Jahre 2005 hatten 692 Personen eine Behandlung wegen gesundheitlicher Probleme aufgrund von Folter beantragt. Damit wurde ein deutlicher Rückgang der Anträge verzeichnet. Fußnote 11 Allerdings ist bei den "akuten" Fällen (Folter im gleichen Jahr) eine Zunahme von 193 (2005) auf 222 (2006) zu verzeichnen.

146 Personen gaben an, einen Tag (24 Stunden) lang festgehalten worden zu sein; bis maximal 4 Tage (Höchstdauer bei organisatorischen Delikten) wurden 142 Personen festgehalten. 12 Personen gaben an, zwischen 16 und 30 Tagen festgehalten worden zu sein und 5 Personen gaben die Dauer der Polizeihaft als länger als einen Monat an. Fußnote 12 Gerade die letzten Zahlen sollten Zweifel daran wecken, dass sich die Sicherheitskräfte immer an die gesetzlich vorgeschriebene maximale Dauer für ihre Verhöre halten.

Ich denke, dass die von mir aufgeführten Zahlen unabhängig von einer Diskussion darüber, ob die Folter in der Türkei systematisch ist und wie brutal und weit verbreitet das Phänomen immer noch ist, die Gefahr der Folter in und außerhalb von Polizei- und Gendarmeriestationen immer noch sehr real ist, selbst wenn sich die Zahl derer, die bei einem Verhör nicht gefoltert werden, erhöht hat.

Die Tatsache, dass Herr Celik seinen Militärdienst noch nicht abgeleistet hat, dürfte dabei die Gefahr leicht erhöhen, denn Wehrdienstentziehung könnte bei ihm als weiteres Indiz für seine Charakterisierung als "Vaterlandsverräter" genommen werden. Dabei sollte er parallel zu dem in der Meldung aus der Zeitschrift Kizilbayrak geschilderten Fall (Fußnote 3) lediglich "eingezogen" werden. Sollte nichts gegen Herrn Celik vorliegen (über seine GBT oder die Heimatbehörde über ihn bekannt sein), dann würde er im Normalfall bei einer Ankunft am Flughafen Istanbul dem Kreiswehrersatzamt in Bakirköy überstellt und von dort vermutlich auch nach Manisa geschickt werden.

Es ist jedoch fraglich, ob seine Rückkehr wirklich so glimpflich ablaufen sollte.

Wenn ich meine Antworten auf die Fragen zusammenfasse, so ergibt sich folgendes Bild: Herrn E. droht allein aufgrund seiner Vorstandsmitgliedschaft in der ADGH eine Anklage als Mitglied oder Unterstützer der MKP (Artikel 314 TStG und Artikel 220/7 TStG). Seine öffentlichen Auftritte bei Veranstaltungen der MKP und dort gehaltene Reden sowie vorgetragenen Liedtexte können den Straftatbestand des "Lobens von Straftaten und Tätern" (Artikel 215 TStG) erfüllen oder als weiteres Indiz für die Unterstützung der MKP genommen werden. Ob ihm eine Anklage nach Artikel 301 TStG (Verunglimpfung des Türkentums oder der Staatsautoritäten) droht, kann anhand der mir bekannten Inhalte der Lieder und Reden nicht eindeutig prognostiziert werden.

Im Unterschied zu den Lageberichten (vom Juli 2006 und Januar 2007) komme ich zu dem Schluss, dass auch nach den umfassenden Reformen der Jahre 2002-2005 nicht nur die nach dem Buchstaben des türkischen Strafgesetzes verbotene "Anstiftung zu konkret separatistischen/terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen" angesehenen Meinungsäußerungen bestraft werden, sondern im Sinne der offiziellen Ideologie in der Türkei unliebsame Meinungen zu Strafverfolgung führen können und nach wie vor führen.

Herr E. hat im Falle einer Abschiebung und der damit verbundenen Einreisekontrolle damit zu rechnen, dass er (falls Ermittlungen gegen ihn anhängig sind) sowohl bei der politischen Polizei als auch bei der politischen Polizei in Tunceli verhört wird. Trotz einer Abnahme von Folterfällen in der Türkei ist die Gefahr von menschenrechtswidriger Behandlung in Tunceli besonders hoch.

Ich hoffe, Ihnen mit diesen Angaben gedient zu haben.
 

Hamburg, den 25.05.2007   Helmut Oberdiek

Fußnoten:
Anm.: Sie gelangen mit dem Befehl "zurück" (back, alt+<-) wieder an die ursprüngliche Stelle

1 Die Beispiele sind den Tagesmeldungen der Menschenrechtsstiftung TIHV entnommen. Zum großen Teil wurden sie vom Demokratischen Türkeiforum DTF übersetzt und sind auf deren Internetpräsenz unter www.tuerkeiforum.net zu finden.
2  Die Zeitschrift Kizilbayrak schreibt dazu auf ihrer Internetseite http://www.kizilbayrak.org/2005/sikb.05.28/sayfa_18.html,dass 17 Personen unter dem Vorwurf, Propaganda für eine Organisation gemacht und das Volk zu einem bewaffneten Aufstand aufgerufen zu haben, in U-Haft kamen, aber aufgrund des Widerspruchs kamen 12 am 5. Juli, 3 am 6. Juli and weitere 2 in den Provinzen, wo sie festgenommen worden waren, wieder frei. Eine Person wurde zur Ableistung des Wehrdienstes nach Manisa geschickt.
3  Der Artikel 312/1 TStG a.F. entsprach dem Artikel 215 TStG n.F.
4  Rechtskräftig wird ein Urteil, wenn es durch den Kassationshof bestätigt wird.
5  Der englische Text ist unter http://hrw.org/english/docs/2007/04/13/turkey15692.htm zu finden.
6  Der Fall des deutschen Staatsbürgers Mehmet Desde sowie weiteren ursprünglich 9, inzwischen 7 Mitangeklagten ist dem auswärtigen Amt nicht nur aufgrund des Kontaktes von Herrn Desde und seinem Anwalt mit dem deutschen Konsulat in Izmir bekannt, sondern auch als Teil meines für amnesty international, Pro Asyl und der Holtfortstiftung erstellten Gutachtens zur "Rechtsstaatlichkeit politischer Verfahren in der Türkei". Es wurde im Februar 2006 der Öffentlichkeit vorgestellt.
7  Der Artikel 1 ATG wurde mit dem Gesetz Nr. 4928 vom 15.07.2003 und Artikel 7/2 wurde mit dem Gesetz 4963 vom 30.07.2003 geändert. Nach der Definition von Terror im Artikel 1 des ATG ist es nun Voraussetzung, dass Methoden wie Einschüchterung oder Drohungen angewendet werden, um illegale Vereinigungen zu terroristischen Organisationen werden zu lassen. Der Artikel 7/2 wurde in Bezug auf Propaganda für terroristische Organisation um die Bedingung erweitert, dass die Propaganda einen Aufruf zu terroristischen Taten beinhalten muss, um strafbar zu sein.
8  Dies geschah trotz einer Eilaktion von amnesty international (der Text kann unter den Eilaktionen von amnesty international gefunden werden, gesamte url ist für eine Wiedergabe zu lang; die Startseite ist unter http://www2.amnesty.de/ zu finden) und einer zumindest angekündigten deutlichen Intervention des auswärtigen Amtes für den deutschen Staatsbürger Mehmet Desde.
9  Bei politischen Delikten (das sind alle Delikte, die vor den als Staatssicherheitsgerichte bekannten und nun nach Artikel 250 der Strafprozessordnung kompetenten Gerichten verhandelt werden müssen) beträgt nach Artikel 13 der Verordnung zur Ergreifung, Festnahme und Aufnahme einer Aussage vom 01.06.2005 die maximale Dauer der Polizeihaft bei Einzeltätern 48 Stunden (24 Stunden bei gewöhnlichen Delikten). Sind von dem Vorwurf (z.B. Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation) drei oder mehr Personen beteiligt, beträgt die maximale Dauer der Polizeihaft 4 Tage.
10  Der auf einen Besuch des Komitees zwischen dem 7. und 14. Dezember 2005 bezogene Bericht kann in Englisch unter http://www.cpt.coe.int/ gefunden werden. Eine etwas ausführlichere Übersetzung des Berichtes in die deutsche Sprache kann unter http://www.tuerkeiforum.net/extra/2006/extra06.html nachgelesen werden.
11  Das wird vor allem auf die geringere Anzahl von entlassenen Häftlingen, die eine Behandlung wünschten, zurückgeführt.
12  Eine etwas ausführlichere Übersetzung des Berichtes in die deutsche Sprache kann unter http://www.tuerkeiforum.net/index.php?id=49 gefunden werden.

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