Helmut Helmut Oberdiek * 18.9.1947 — † 27.4.2016
Wörterbuch  Bibliothek von HO aus HF in HH

Gefährdung nach Auftritt in Roj TV

Übersicht:

Bei der Untersuchung der Frage, welche rechtlichen Schritte aufgrund von kritischen Äußerungen im Fernsehsender Roj TV ergriffen werden können, geht es nicht nur um "Beleidigung des Türkentums oder von staatlichen Institutionen" (Artikel 301 TStG), sondern auch um das "Loben eines Straftäters oder einer Straftat" (Artikel 215 TStG) oder aber "Aufstachelung zu Rassenhass" (Artikel 216 TStG). Die Punkte im Einzelnen (nach Anklicken des "links" geht es mit Strg+oben, bzw. Pos1 wieder an den Anfang dieser Seite):

Wortlaut des Artikel 301
Beispiele von Verurteilungen nach Artikel 301
1. Fazit
Das Verfahren gegen Hrant Dink
2. Fazit
Aufstachelung zu Rassenhass
Grundsatzurteile des Kassationshofs
3. Fazit
Verfahren nach Teilnahme an Sendungen in Roj TV
4. Fazit
Erweitertes Fazit zu Artikel 301
Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse auf den Kläger
Gefahr von Misshandlung

Mit Schreiben vom 09.05.2007 wurde ich von Herr Pankalla, Richter am VG Magdeburg gebeten, eine Frage im Zusammenhang mit der o.a. Verwaltungsrechtssache zu beantworten. Sie lautete:

Sind die vom Kläger in der Roj TV Sendung vom 19. Juni 2006 gemachten öffentlichen Äußerungen geeignet, dass der Kläger von den türkischen Sicherheits- bzw. Strafverfolgungskräften einem Ermittlungsverfahren (z.B. wegen "Verunglimpfung des Türkentums" oder separatistischer Äußerungen) unterzogen werden wird? Besteht das ernstzunehmende Risiko von Misshandlung in einem solchen Verfahren oder den erforderlichen Verhören?
Der Anfrage waren zwei Seiten mit übersetzten Teilen aus dem Interview in Roj TV und 3 Seiten aus dem Protokoll vom 03.04.2007 beigefügt, in denen der Kläger und sein gesetzlicher Vertreter auf die Passagen aufmerksam machten, die ihrer Ansicht nach zu einer Strafverfolgung führen können.

Bevor ich zur Beantwortung der Frage komme, möchte ich einige allgemeine Bemerkungen zur Meinungsfreiheit in der Türkei vorausschicken.
Die rasanten Gesetzesänderungen vor allem zwischen 2002 und 2005, die auf dem Hintergrund des angestrebten EU-Beitrittes durchgeführt wurden, ließen den Eindruck entstehen, als würde ein ernsthafter Versuch unternommen, Menschenrechtsverletzungen einzudämmen und für mehr Rechte und Freiheiten der Bürger zu sorgen. Schon im Vorfeld der Einführung einer ganzen Reihe von Gesetzen, allem voran einem revidierten Strafgesetz, aber wurde klar, dass gerade in Bezug auf die Meinungsfreiheit wenig oder keine Änderungen vorgesehen waren. Daran hat auch die öffentliche Kritik von Menschenrechtlern und Anwälten nichts geändert. Eine in Aussicht gestellte Änderung des maßgeblich kritisierten Artikels 301 im neuen Strafgesetz (Verunglimpfung des Türkentums oder der Staatsautoritäten) ist derzeit auf ein unbestimmtes Datum vertagt worden.

Die meisten Vorschriften, mit denen die Meinungsfreiheit eingeschränkt wurde, blieben erhalten und erhielten höchstens kleine Umformulierungen sowie neue Standorte (Nummern) im Gesetz.

Es hat in den letzten Jahren zwar wiederholt Verfahren gegeben, in denen entweder Gerichte der ersten Instanz, bzw. der mit der Revision dieser Fälle betraute Kassationshof unter Berufung auf Artikel 10 der Europäischen Menschenrechts-Konvention gegen eine Bestrafung plädierten und es gehen sehr viele Verfahren mit Freispruch aus, aber seit 2006 scheinen die Gerichte wieder eine härtere Gangart eingeschlagen zu haben, d.h. es kommt zu mehr Schuldsprüchen.

Das kann an einer Aufstellung des unabhängigen Netzwerks Bia im Projekt "Bia²" gesehen werden. Im Jahresbericht für 2006 Fußnote 01 wurden folgende Zahlen präsentiert. Es wurden 293 Journalisten, Publizisten und Aktivisten angeklagt (verglichen zu 157 im Jahr 2005). 72 Verfahren wurden unter Artikel 301 Türkisches Strafgesetz, neue Fassung (TStG n.F.) geführt, 35 Verfahren wurden unter Artikel 216 TStG n.F. (Aufstachelung zu Rassenhass) geführt und 24 Mal stand Beeinflussung der Justiz (strafbar nach Artikel 19 des Pressegesetzes und 288 TStG) im Hintergrund. Es kam zu 7 Verurteilungen nach Artikel 301 TStG und es gab 13 Freisprüche. Weitere 5 Verfahren wurden nicht durchgeführt, weil keine Genehmigung vom Justizministerium vorlag. Unter Artikel 216 TStG erfolgten 3 Verurteilungen und 4 Freisprüche.
Es folgen weitere Details, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte.

Der Klägervertreter hält angesichts der Äußerungen seines Mandanten vor allem eine Bestrafung nach Artikel 301 für möglich und nennt dazu einige Absätze aus der Übersetzung des Interviews, aus denen ich die in meinen Augen markantesten Stellen wie folgt zitieren könnte:
- Die Sicherheitskräfte der Regierung haben mir und meiner Familie schlimme Sachen angetan.
- …wenn wir in unserer Heimat Menschenrechte, Demokratie und Frieden gehabt hätten… wären wir mit unserer Familie und Freunden dort geblieben.
- Jederzeit hätte mir und meiner Familie etwas zustoßen können.
- …die Regierung erkennt keine Minderheiten und deren Rechte an. Wer dies fordert, wird terrorisiert, ermordet und gefoltert.

Diese und ähnliche Äußerungen (ich habe nicht alle aufgeführt) sind in den Augen des Klagevertreters geeignet, seinem Mandanten ein Verfahren wegen "Verunglimpfung des Türkentums" nach Artikel 301 TStG n.F. einzubringen. Um einzuschätzen, wie realistisch diese Befürchtung ist, sollte zunächst einmal der Gesetzestext angeschaut werden.

Der Artikel 301 lautet:
1. Die Person, die das Türkentum, die Republik und die Große Nationalversammlung der Türkei öffentlich verunglimpft, wird mit Haft zwischen sechs Monaten und drei Jahren bestraft.
2. Die Person, die die Regierung der Republik Türkei, die Justizorgane des Staates oder die Einrichtungen des Militärs oder der Polizei öffentlich verunglimpft, wird mit Haft zwischen sechs Monaten und zwei Jahren bestraft.
3. Wenn die Verunglimpfung des Türkentums durch einen türkischen Staatsbürger im Ausland begangen wurde, wird die Strafe um ein Drittel erhöht.
4. Meinungsäußerungen, die der Kritik dienen, sind nicht als Straftat zu werten.

Es geht demnach nicht nur um Äußerungen gegen das nicht näher definierte "Türkentum" (wofür es z.B. im Englischen keine Entsprechung gibt), sondern es können auch konkrete Institutionen wie die Regierung, die Justiz, das Militär oder die Polizei gemeint sein.

Ich möchte auch darauf verweisen, dass der 4. Absatz mit dem Gesetz 4771 vom 9. August 2002 zum Artikel 159 TStG a.F. hinzugefügt wurde (das war der Vorgänger von 301). Allerdings war es auch davor schon gängige Rechtspraxis, d.h. es gab entsprechende Grundsatzurteile, die besagten, dass Äußerungen, die vom Gericht als reine Kritik bewertet wurden, nicht zu einer Bestrafung führten. Insofern hat die "neue" Gesetzgebung nicht für mehr Toleranz gesorgt.

Der Begriff "Verunglimpfung" ist sicherlich eine gute Übersetzung des türkischen Ausdrucks "asagilamak", es sollte aber auch auf die Herkunft des Wortes verwiesen werden. "Asagi" bedeutet "unten" und daher kann der Begriff auch als "Erniedrigen", "Herabwürdigen" oder ganz allgemein als "Beleidigung" übersetzt werden. Der Artikel 159 TStG a.F. verwandte die aus dem Osmanischen stammenden Begriffe "tahkir" (Beleidigung) und "tezyif" (Verhöhnung).

Um zu sehen, was in den Augen der Gerichte in der Türkei als Verunglimpfung (von Institutionen oder dem "Türkentum") gesehen wird, möchte ich einige Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit aufführen. Fußnote 02

Urteil
Die 2. Kammer des Amtsgerichts in Istanbul sprach am 13. September das Urteil im Verfahren gegen Emin Karaca, Dogan Özgüden und Mehmet Emin Sert im Zusammenhang mit Artikeln im April 2002 in der Zeitschrift "Sommer in Europa und der Türkei". Emin Karaca wurde wegen des Artikels "Was uns der 30. Jahrestag in Erinnerung bringt" (darin hatte er die Hinrichtungen an den Studentenführern Deniz Gezmis, Yusuf Aslan und Hüseyin Inan kritisiert) zu einer Strafe von 5 Monaten Haft nach Artikel 301/2 neues TStG (159 altes TStG) bestraft. Die Haftstrafe wurde in eine Geldstrafe von 900 YTL (neue türkische Pfund ca. 500 Euro) verwandelt und zur Bewährung ausgesetzt. Das Verfahren gegen Dogan Özgüden, der im Ausland lebt, wurde abgetrennt. Der Chefredakteur der Zeitschrift, Mehmet Emin Sert wurde freigesprochen. (Zaman vom 15.09.2005)

Menschenrechtler und Journalist vor Gericht
Gegen Ridvan Kizgin, Vorsitzender des IHD in Bingöl, und gegen 3 Journalisten wurde ein Verfahren wegen einer Presseerklärung vom 24. September 2004 zu Waldbränden eröffnet. Ridvan Kizgin und Sami Tam, der Direktor der Nachrichtenagentur Dicle haben sich wegen "Anzeige einer nicht vorhandenen Straftat" (ehemals Artikel 283 TStG) und die Journalisten Serdar Altan und Birol Duru, die als Überschrift "Soldaten vernichten die Wälder" formulierten, müssen sich wegen Beleidigung der Armee (ehemals Artikel 159 TStG) verantworten. Das Verfahren wird am 13. Juli vor dem Amtsgericht in Bingöl beginnen. (Özgür Gündem vom 26.06.2005)

Eren Keskin verurteilt
Die 3. Kammer des Amtsgerichts Kartal hat die Vorsitzende des IHD Istanbul zu einer Haftstrafe von 10 Monaten nach Artikel 301 neues TStG verurteilt. Das Urteil wurde wegen einer Rede auf einer Veranstaltung der Union alewitischer Frauen in Köln am 16. März 2002 verhängt. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. (Radikal vom 16.03.2006)

Politiker angeklagt
Der Vorsitzende der Partei der demokratischen Gesellschaft (DTP) in ?stanbul-Eminönü Halil Do?an wurde wegen einer Rede am 1. April 2006 angeklagt. Er soll den Sicherheitskräften vorgeworfen haben, bei einem Einsatz in der Provinz Mus, bei dem 14 PKK Militante ums Leben kamen, chemische Waffen eingesetzt zu haben. Bezogen auf die Vorfälle, die sich danach in Diyarbakir abgespielt hatten, soll er auch von Überfällen auf Büros der DTP im Westen der Türkei gesprochen haben und dabei gesagt haben, dass die Sicherheitskräfte, die für Ordnung sorgen sollten, die Angreifer ausgezeichnet hätten. Die Anklage fordert eine Bestrafung nach Artikel 301 TStG, Absatz 1 und 2. (Yeni Safak vom 11.05.2006)

Autor Mustafa Balbal verurteilt
Die 2. Kammer des Amtsgerichts Beyoglu hat Mustafa Balbal (von der Tageszeitung Cumhuriyet) zu einer Haftstrafe von 10 Monaten wegen seines Buches "Blutblumen eines gefangenen Generals am Ararat" verurteilt. In dem Buch soll sowohl die Republik als auch die Armee beleidigt worden sein. Die Strafe wurde nach den Absätzen 1 und 2 des Artikels 301 neues TStG verhängt. Die Strafe wurde in eine Geldstrafe von 1.800 YTL verwandelt und zur Bewährung ausgesetzt. Der Verleger Ahmet Zeki Okcuoglu (Verlag Doz) wurde freigesprochen. (Radikal vom 09.06.2006)

Politiker angeklagt
Vor der 2. Kammer des Amtsgerichts Beyoglu musste sich Atilla Kaya, Vorsitzender der Partei der Sozialistischen Demokratie (SDP) wegen eines Artikels in der Tageszeitung Özgür Gündem unter verschiedenen Vorwürfen verantworten. Mit ihm angeklagt sind Chefredakteur Hasan Bayar, Journalist Dogan Iyice und der Besitzer der Zeitung, Ali Gürbüz. In dem Artikel hatte Atilla Kaya eine Untersuchung des Vorwurfs gefordert, dass bei der Tötung von 14 Militanten der PKK in der Provinz Mus chemische Waffen eingesetzt wurden. Der Hauptvorwurf lautet auf Erniedrigung der Armee (Artikel 301). Die Anklage führt aber auch den Vorwurf von Rassenhass (Artikel 216) und Propaganda für eine terroristische Organisation (Artikel 7 des ATG) auf. Das Gericht vertagte sich auf den 7. März, um dann zu verkünden, ob es sich für alle Straftatbestände für zuständig hält. (Netzwerk Bia vom 30.11.2006)

Freispruch wegen Verunglimpfung
Die Staatsanwaltschaft in Mersin klagte den Vorsitzender der 78er Vereinigung, Ethem Dinçer wegen einer Presseerklärung mit dem Titel "Die Akte zum Massaker vom 1. Mai 1977 muss geöffnet werden" wegen eines Verstoßes nach den Artikeln 216/1 und 301/2 TStG an. Die 6. Kammer des Justizgerichts sprach Ethem Dinçer am 15. Dezember 2006 frei, da der Straftatbestand nicht erfüllt sei. (Evrensel vom 16.12.2006)

Menschenrechtler verurteilt
Die 1. Kammer des Amtsgerichts Bingöl hat die Funktionäre des Menschenrechtsvereins IHD, Kiraz Bicici und Ridvan Kizgin eines Vergehens nach Artikel 301 neues TStG für schuldig befunden. Die verhängten Freiheitsstrafen von 6 Monaten wurden in Geldstrafen umgewandelt. Es ging um eine Pressemitteilung vom 24.07.2003 zu Menschenrechtsverletzungen. Das Gericht befand, dass die Sicherheitskräfte ohne konkrete Beweise beleidigt worden seien. Von der Zweigstelle Bingöl des IHD wurde im letzten Oktober ein Bericht herausgegeben, der seit 2001 209 Ermittlungen und 51 Verfahren gegen die Filiale auflistete. Im gleichen Zeitraum hatte die Zweigstelle von 2.354 Verletzungen der Menschenrechte berichtet, wobei es nur in einem Fall zu einem Verfahren gegen Staatsbedienstete gekommen war. (Bia vom 21.12.2006)

Erneut Verurteilung nach Artikel 301
Am 24. Januar beendete  das Amtsgericht  Nr. 5 in Diyarbakir das Verfahren gegen den Sprecher  von Kürt-Der in Diyarbakir, Ibrahim Güçlü. Das Verfahren gegen ihn war wegen einer Rede im August 2005 eröffnet worden, bei der er über die Tötung von 33 Dorfbewohnern im Kreis Özalp der Provinz Van auf Befehl von General Mustafa Muglali gesprochen hatte. Das Gericht verurteilte Ibrahim Güçlü wegen "Beleidigung des Türkentums und der Türkischen Republik " nach  Artikel 301 des  TStG zu 18 Monaten Gefängnis. (Milliyet-Yeni Safak vom 25.01.2007)

Verurteilung eines Rechtsanwaltes in Mersin
Am 27. März beendete das Friedensgericht Nr. 2 das Verfahren gegen Rechtsanwalt Ali Bozan, ehemaliger Vorsitzender der DTP in Mersin und ehemaliger Generalsekretär der Zweigstelle des IHD in Mersin. Das Verfahren war im Zusammenhang mit einer Presseerklärung von ihm über die Tötung von Ümit Gönültas bei einer Demonstration am 15. Februar 2005 und Murat Demir am 22. November 2005 eingeleitet worden. Das Gericht verurteilte Ali Bozan wegen "Beleidigung der Justiz und der Sicherheitskräfte" nach Artikel 301 TStG zu 6 Monaten Haft. Die Haftstrafe wurde in eine Geldstrafe von 3.600 YTL umgewandelt. (Güncel, 30.03.2007)

Gerichtsverfahren nach Artikel 301
Gegen Oktay Avcu wurde ein Gerichtsverfahren nach Artikel 301 TStG eingeleitet wegen eines Flugblattes, in dem gegen die Aufnahmeprüfungen für die Universität protestiert wurde. Der Titel des Flugblattes war "Verhinderung von Bildung ist Verrat gegenüber dem Land". Das Gerichtsverfahren wird an der 5. Kammer des Amtsgerichts in Mersin durchgeführt. (Hürriyet, 19.04.2007)

Angeklagter Journalist
Der Prozess gemäß Artikel 301 TStG, der gegen den Chefredakteur der Zeitschrift "Idea Politika", Erol Özkoray, wegen der Artikel "Wozu dient die Armee?" und "Die Taliban - neue Barbaren mit Achselklappen" aus dem Jahr 2001 eröffnet worden war, kam am 25. April zum Abschluss. Das 2. Landgericht in Sisli beschloss, den Prozess wegen Verjährung einzustellen. (TIHV vom 26.04.07)

Angeklagter DTP-Funktionär
Der Prozess gegen den ehemaligen Abgeordneten der Demokratie Partei (DEP) und jetzigen DTP-Kreisvorsitzenden von Kars, Mahmut Alinak, wegen eines Interviews am 19. Januar 2006 mit der Zeitung "Ülkede Özgür Gündem", wurde am 2. Mai beendet. Das 2. Landgericht  Beyoglu verurteilte Alinak aufgrund von "Beleidigung der türkischen Streitkräfte" gemäß Artikel 301, Absatz 2 TStG zu sechs Monaten Haftstrafe. Die Strafe wurde in eine Geldstrafe von 3000 YTL umgewandelt. (Gündem vom 03.05.07)

Verfahren gegen Staatsanwalt
Der Staatsanwalt in Ankara eröffnete gegen den ehemaligen Staatsanwalt Mustafa Turhan ein Gerichtsverfahren nach Artikel 301 TStG. Turhan war von der Höchsten Kommission der Richter und Staatsanwälte auf Dauer von seinem Beruf ausgeschlossen worden, nachdem er versucht hatte, eine Waffe zu tragen, die im Depot des Gerichtes liegen sollte, und er war zu 4 Jahren Haft verurteilt worden. Dieses weitere Verfahren soll gegen ihn eingeleitet worden sein, weil er während des Gerichtsverfahrens sagte, er habe nie Vertrauen in die türkische Gerichtsbarkeit gehabt.  (Radikal vom 04.05.2007)

Verurteilung des DTP-Vorsitzenden von Kars
Am 4. Mai beendete das Amtsgericht in Ardahan das Verfahren gegen Mahmut Alinak, den DTP-Vorsitzenden von Kars, das wegen einer Rede von ihm bei der Eröffnung des DTP-Büros in Ardahan eingeleitet worden war. Das Gericht verurteilte Alinak nach Artikel 301 TStG zu 10 Monaten Haft. Berichten zufolge wurde Alinak angeklagt, weil er betonte, dass die Person, die den Anschlag in Semdinli organisiert hatte, ein Mitglied der Konterguerilla sei, "wir in einem Land der Konterguerilla leben", der ganze Generalstab, die Staatspräsidentschaft und das Parlament sich an der Konterguerilla orientierten und der Attentäter vom Staat geschützt würde.  (Milliyet vom 07.05.2007)

Journalist angeklagt
Die Staatsanwaltschaft in Bakirköy (Istanbul) hat den Journalisten Ahmet ??k zusammen mit Lale Sar?ibrahimo?lu, mit der er ein Interview führte, das in der Zeitschrift "Nokta" unter dem Titel "Das Militär muss sich aus der inneren Sicherheit heraushalten" erschien, angeklagt, gegen Artikel 301 TStG verstoßen zu haben. (Milliyet vom 23.05.2007)

Leider enthalten nur wenige dieser Meldungen halbwegs nachvollziehbare Details über die inkriminierten Äußerungen. Es dürfte z.B. nicht unwichtig sein, in welcher Form die Hinrichtungen von 3 Studentenführern im Jahre 1972 kritisiert wurde (siehe 1. Meldung). Wurde von einem "Justizirrtum" oder "Willkürjustiz" gesprochen und die Justiz "beleidigt", oder wurde die seinerzeit an der Macht befindliche Militärjunta mit vermeintlich beleidigenden Worten für die Hinrichtungen verantwortlich gemacht? Klar ist nur, dass nicht nach Artikel 301/1 TStG n.F. (Verunglimpfung des Türkentums), sondern nach Artikel 301/2 TStG n.F. (Beleidigung von Institutionen) vorgegangen wurde.

Etwas konkreter ist das Verfahren gegen die Journalisten, die in einer Überschrift "Soldaten" beschuldigten, "Wälder in Brand zu setzen". Dies wird als Verunglimpfung des Militärs angesehen worden sein. Parallel dazu kann vom Verfahren gegen Eren Keskin gesagt werden, dass sie die Armee verunglimpft haben soll, weil sie auf der Veranstaltung in Köln von Soldaten als Vergewaltigern gesprochen hatte. Dazu die Meldung von der Prozesseröffnung:

Das Staatssicherheitsgericht Istanbul befasste sich am 20. September zum ersten Mal mit dem Verfahren gegen die Anwältin Eren Keskin, Vorsitzende des IHD Istanbul im Zusammenhang mit einer Rede, die sie am 16. März in Köln auf einer Veranstaltung von alewitischen Frauen hielt. Eren Keskin sagte, dass auf der Veranstaltung auch die Abgeordnete Sema Piskinsüt und Prof. Dr. Nejla Arat sprachen und sie angezeigt hätten. Sie hätte nicht gesagt, dass alle Soldaten Vergewaltiger seien, aber unter den von ihr betreuten Fällen seien die Täter in 115 Fällen Polizisten und in 34 Fällen Gendarmeriesoldaten gewesen. Sie habe das Wort "Kurdistan" als geographischen Begriff benutzt, wie es schon Mustafa Kemal Atatürk getan habe. Das Verfahren unter dem Vorwurf der Anstiftung zu Hass und Feindschaft (Artikel 312 TStG a.F.) wurde auf den 27. November vertagt. (Özgür Politika vom 21.09.2002)

Es sollte nicht verwirren, dass dieses Verfahren zunächst nach einer anderen Strafvorschrift und vor einem anderen Gericht geführt wurde. Im Endeffekt aber wurde die Äußerung über Soldaten (der türkischen Streitkräfte), die kurdische Frauen vergewaltigten, als Verunglimpfung des Militärs angesehen und Frau Keskin verurteilt, wobei die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Erinnert werden sollte auch an das Verfahren gegen Akin Birdal, den ehemaligen Vorsitzenden des IHD. Özgür Gündem vom 06.03.2003 berichtete seinerzeit: "Der Ehrenvorsitzende des IHD und st. Vorsitzende von FIDH Akin Birdal wurde von der 2. Strafkammer des Landgerichts Ankara vom Vorwurf eines Vergehens nach Artikel 159 TStG a.F. freigesprochen. Das Verfahren war wegen einer Rede am 20. Oktober 2000 in Deutschland eröffnet worden, wo Birdal gesagt haben soll, dass die Türkei sich wegen des Völkermords an den Armeniern entschuldigen soll. Nachdem lange Zeit ergebnislos nach dem Reporter der Zeitung Gözcü, der den Artikel verfasst hatte, gesucht worden war, hat das Gericht nun das Verfahren aus Mangeln an Beweisen eingestellt."

Mit anderen Worten, Akin Birdal hätte mit Bestrafung rechnen müssen, wenn der Journalist, der über die Veranstaltung berichtet hatte, aufgetaucht wäre und vor Gericht seine Behauptungen bekräftigt hätte.

Unter den Beispielen gibt es zwei Verfahren, in denen auch der Absatz 1 des Artikels 301 TStG (Verunglimpfung des Türkentums) zum Tragen gekommen sein soll. Es handelt sich dabei um das Verfahren von Halil Dogan und das von Ibrahim Güclü. Letzterer soll dieses Delikt bei einer Rede über ein historisches Ereignis begangen haben (Strafmaß 18 Monate) und Halil Dogan soll der Armee vorgeworfen haben, chemische Waffen im Kampf gegen die PKK einzusetzen. In beiden Fällen kann ich zwar Kritik an den Sicherheitskräften entdecken, aber keine "Verhöhnung" der Türken allgemein. Ich habe also Zweifel an der Korrektheit der jeweiligen Nachrichten.

Auffallend an den Meldungen ist, dass immer wieder Menschenrechtler angeklagt werden, wenn sie auf Verstöße gegen die Menschenrechte aufmerksam machen. Da bei den o.a. Beispielen wichtige Details fehlen, habe ich mich im Internet umgesehen (die sinngemäßen Übersetzungen der gefundenen Meldungen habe ich angefertigt und verbürge mich als vereidigter Übersetzer für die Korrektheit). Laut einer Meldung in NTV vom 21.12.2006 Fußnote 03 wurden Kiraz Bicici (seinerzeit Vorsitzende des IHD in Istanbul) und Ridvan Kizgin (seinerzeit Vorsitzender des IHD in Bingöl) beschuldigt, auf einer Pressekonferenz in Mus im Jahre 2003 (nachdem der dortige Vorsitzende des IHD verhaftet worden war, weil er an der Beerdigung eines PKK Militanten teilnahm), das Militär kritisiert zu haben.

"Yeni Özgür Politika" beschreibt am gleichen Tag den Hintergrund etwas anders. Fußnote 04 Demnach soll sich Ridvan Kizgin im Jahre 2003 über einen Drohanruf von jemandem beschwert haben, der sich als Kommandant des Gendarmerieregiments vorstellte und ihn auf die Kommandantur in Bingöl bestellte. Der IHD habe daher darauf aufmerksam gemacht, dass in Silopi Personen verschwanden, nachdem sie zur Gendarmerie gingen. Fußnote 05 Kiraz Bicici war am 27.11.2003 nach Bingöl gegangen und hatte gesagt: "Wir wissen, was im Hauptquartier der Gendarmerie passiert. Wir wissen, von wo der 'tiefe Staat' (Staat im Staat) die Morde der Contra-Guerilla anleitet."
Ich halte die letzte Meldung für korrekt, d.h. eine Verurteilung erfolgte, weil die Gendarmerie (als Teil des Militärs) wegen Morden ("Verschwindenlassen") an Zivilisten beschuldigt wurde.

Die Vorwürfe gegen Mamut Alinak, wegen der er in Ardahan verurteilt wurde, beziehen sich auf die Unterordnung des Staatspräsidenten, des Parlaments und des Generalstabs unter die "Contra-Guerilla" (den so genannten "tiefen Staat").

Somit bliebe an diesem Punkt festzuhalten, dass es Gerichte als "Verunglimpfung der Armee" ansehen, wenn von Soldaten oder der Gendarmerie im Zusammenhang mit Gesetzesübertretungen wie politischen Morden oder Vergewaltigungen gesprochen wird. Schon der als unwahr eingestufte Vorwurf, dass chemische Waffen eingesetzt wurden, kann zu einer Anklage führen. Darüber hinaus ist eine Beleidigung der Justiz, wenn von "Misstrauen in die Gerichtsbarkeit" gesprochen wird. Ebenso kann das Parlament verunglimpft worden sein, wenn unterstellt wird, dass es unter "Befehl" der "Contra-Guerilla" steht.

Es sollte aber auch erwähnt werden, dass nicht jede Art der "Unterstellung" bestraft wird. Ethem Dincer wurde vom Vorwurf unter Artikel 301 TStG (gleichzeitig noch Art. 216 TStG n.F. - Aufstachelung zu Rassenhass) freigesprochen, obwohl er die Vorkommnisse auf dem Taksim-Platz in Istanbul am Tag der Arbeit, dem 1. Mai 1977, ein "Massaker" genannt hatte. Er wird aber nicht das Militär oder die Polizei beschuldigt haben, durch Schüsse in die Menge der demonstrierenden Gewerkschafter (ca. eine halbe Million) den Tod von mehr als 30 Menschen verursacht zu haben. Die bis heute unbestraften Täter werden allgemein dem "Staat im Staate" zugerechnet.

Auf den umstrittenen Straftatbestand der "Verunglimpfung des Türkentums" möchte ich anhand des ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink eingehen. Fußnote 06 Der inkriminierte Artikel von Hrant Dink in dem von ihm herausgegebenen Journal "Agos" wurde in Radikal vom 20.01.2007 wiedergegeben. Der für die Verurteilung wichtige Satz steht am Anfang: "Das giftige Blut, das einem Türken entströmt, wird durch reines Blut ersetzt, das in der eigentlichen Ader, die die Armenier mit Armenien herstellen werden, existiert."

Was Hrant Dink mit dem "giftigen Blut" meinte, geht aus dem Gutachten zu seiner Artikelserie hervor. Aus dem Gutachten zitierte Radikal vom 10.10.2005: "Zwischen dem 7. November 2003 und dem 13. Februar 2004 erschienen 8 Schriften des Angeklagten zur armenischen Identität… Aus ihnen folgt, dass die Ereignisse von 1915 in den Augen des Angeklagten ein Völkermord waren… Die Armenier müssen sich von dem türkischen Element in ihrer Identität befreien… Um eine Straftat zu sein, hätte die Aussage des giftigen Blutes auf die Türken bezogen sein müssen und nicht das türkische Element in der armenischen Identität… Mit dem 'giftigen Blut' meint der Angeklagte, dass die Armenier sich von dem falschen Verständnis befreien müssen, die gemeinsame Existenz stets von einer Einschätzung der Ereignisse von 1915 abhängig zu machen. Es ist keine Aussage gegen die Türken oder das Türkentum."

Die Gutachter waren zu dem Schluss gekommen, dass kein Verstoß gegen den Artikel 159 TStG a.F. (bzw. 301 TStG n.F.) vorliege. Dennoch wurde der Schuldspruch des Gerichts in Istanbul gegen Hrant Dink vom Kassationshof bestätigt. Genauer gesagt, bestätigte die 9. Kammer des Kassationshofs das Urteil des Amtsgerichts Sisli (Istanbul) vom 07.10.2005 mit Urteil vom 01.05.2006 (es wurden lediglich ein paar Formfehler bemängelt). Dagegen legte der oberste Staatsanwalt am Kassationshof Einspruch ein, so dass die Kammerversammlung (Hauptversammlung aller Strafkammern) zusammentreten musste. Hier erging das Urteil am 11.07.2006. Fußnote 07

Das Urteil der Kammerversammlung des Kassationshofs ist deswegen so lang, weil neben dem Urteil der 9. Kammer auch die recht lange, aber sehr aufschlussreichen Begründungen von Richtern mit abweichender Meinung und die des Staatsanwaltes zur Aufhebung des Urteils zitiert wird (sie datiert vom 01.05.2006).

Dabei machte der Staatsanwalt auf die Artikel 25 und 26 der Verfassung zur Meinungsfreiheit und Artikel 28 zur Pressefreiheit aufmerksam. Unter Hinweis auf Artikel 90 der Verfassung, der (gültigen) internationalen Normen Vorrang vor nationalem Recht einräumt, wurde neben Artikel 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte auch Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention zitiert. Wichtig sind die vom Staatsanwalt genannten Normen, die sich sowohl aus dem Gesetzestext (Kritik ist nicht strafbar) als auch einer Reihe von Grundsatzurteilen ergeben.

Daraus ergibt sich u.a. das Prinzip: Beiträge (Artikel) müssen immer im Zusammenhang betrachtet werden. Fußnote 08 Allerdings sollten Worte, die in einem Gespräch als Beschimpfung gelten, nicht als Kritik gelten, wenn sie in einer Kolumne verwandt werden (Urteil der Kammerversammlung vom 15.06.1999).

Der Staatsanwalt hatte auch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGfMR) zitiert, wonach z.B. mehr Toleranz bei Kritik einer Regierung im Unterschied zu einer Privatperson gefordert wird. Der Staatsanwalt räumte ein, dass die inkriminierte Äußerung von Hrant Dink eine polemische Verfremdung des von Atatürk bekannten (geflügelten) Wortes "die Energie, die du brauchst, wirst du in dem echten Blut deiner Adern finden" sei und verwies auf 2 mögliche Auslegungen: a) es seien die Adern und das Blut der Türken gemeint oder b) es sei das türkische Element in der Persönlichkeit der Armenier (türkische Staatsbürger armenischer Abstammung) gemeint.

Sodann hatte er ausführlich dargelegt, warum nicht nur in den Worten des Angeklagten sondern auch objektiv nur die 2. Interpretation möglich sei.

Das begründete Urteil der Kammerversammlung beginnt auf Seite 13 und geht bis Seite 22. Fußnote 09 Ähnlich wie der Staatsanwalt zitiert auch das Urteil zuerst die nationalen und internationalen Normen, ohne allerdings auf Grundsatzurteile oder Entscheidungen des EGfMR einzugehen. Ein Schwerpunkt wurde auf die Grenzen der Meinungsfreiheit gelegt.

Das Urteil präsentiert eine Zusammenfassung der Artikelserie, um darzulegen, dass die Äußerung nicht aus dem Zusammenhang gerissen und beurteilt wurde. Dann aber wurde festgestellt, dass man sich der Ansicht, dass sich das "vergiftete Blut" auf das türkische Element der Armenier beziehe und eine "Abart" sei, die eine vernünftige armenische Persönlichkeit verhindere, nicht anschließen könne, zumal der Autor bei den Türken von "Paranoia" und bei den Armeniern von einem "Trauma" spreche.

Es sei klar, dass das "giftige Blut" aus niederen Gründen zur Verhöhnung der Türken benutzt wurde. Zu diesem Schluss komme man, wenn man die Zeitschrift, in der der Artikel erschien, den Autor, die angesprochene Leserschaft und deren Auffassung dieser Wörter betrachte. Die armenische Gemeinschaft sei glorifiziert und die türkische Gemeinschaft sei erniedrigt worden und das könne nicht im Rahmen der Meinungsfreiheit und als Kritik ausgelegt werden.

Ich bin auf diesen Fall ausführlicher eingegangen, weil an der obersten Rechtssprechung deutlich werden dürfte, inwieweit abweichende Meinungen in der Türkei geduldet werden.

An dieser Stelle bliebe (ungeachtet dessen, was Hrant Dink wirklich meinte) festzuhalten, dass eine pauschale Herabwürdigung der Türken mit einer Feststellung wie "sie haben falsches oder giftiges Blut in den Adern" zu einer Verteilung nach Artikel 301/1 TStG n.F. führen kann.

Wie an den Beispielen von Eren Keskin und Atilla Kaya gesehen werden konnte, gibt es nach dem Fortfall des Artikel 8 ATG (Separatismuspropaganda) auch die Möglichkeit, unliebsame Äußerungen zur Kurdenfrage nach Artikel 216 TStG n.F. (Artikel 312/2 TStG a.F.), d.h. wegen Aufstachelung zum Rassenhass Fußnote10 zu bestrafen. Das Strafmaß liegt zwischen 1 und drei Jahren Haft. Beispiele für solche Verfahren aus der letzten Zeit sind: Fußnote 11

Zaman vom 03.03.2005
Journalist inhaftiert
Sami Cebeci von der Zeitung "Yeni Asya" wurde am 2. März in Ankara verhaftet. Gegen ihn soll eine 20-monatige Strafe, die er aufgrund eines Artikels nach dem Erdbeben vom 17. August 1999 erhalten hatte, bestätigt worden sein, obwohl er nach den Änderungen des Artikel 312 TStG das Recht auf eine erneute Verhandlung gehabt hätte.
Am Folgetage meldete Milliyet seine Freilassung. Ihm war anscheinend weder das Urteil zugestellt worden, noch hatte er eine Aufforderung erhalten, seine Haftstrafe anzutreten.

Bia (Netzwerk) vom 16.02.2006
Journalist verurteilt
Das Urteil der 11. Kammer des Landgerichts Istanbul vom 9. Dezember 2005 wurde der Zeitung jetzt erst zugestellt. In dem Revisionsverfahren verurteilte das Gericht den Journalisten Sami Cebeci zu 15 Monaten Haft. Er soll mit seinem Kommentar zum Erdbeben vom 17.09.1999 als "heilige Warnung" die Bevölkerung zu Hass und Feindschaft aufgestachelt haben. Das Verfahren war unter Artikel 312 altes TStG eröffnet worden und ging unter Artikel 216 neues TStG weiter. Zuvor war der Journalist wegen der Artikel zu 20 Monaten Haft verurteilt worden. Bis zum Ende seiner Strafhaft wurden dem Journalisten auch seine bürgerlichen Rechte entzogen. In einem ähnlich gelagerten Fall hatte die 2. Kammer des Amtsgerichts den Journalisten Cemil Tokpinar im Revisionsverfahren zu einer Geldstrafe von 7.300 YTL verurteilt.

Cumhuriyet vom 14.06.2005
Journalist vor Gericht
Die 14. Kammer des Landgerichts in Istanbul verurteilte den Journalisten Selahattin Aydar von der Tageszeitung "Milli Gazete" zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten. In seinem Artikel "Wir sollten uns der Kinder annehmen", der am 11. September 2001 erschienen war, sah das Gericht einen Verstoß gegen den alten Artikel  312 TStG. Dieses Verfahren hatte zu einer Entscheidung der Kammerversammlung des Kassationshofes mit 14:13 Stimmen gegen eine Verurteilung geführt. Nun hat sich die Kammerversammlung erneut mit dem Urteil auseinander zu setzen.

Bia (Netzwerk) vom 18.10.2005
Journalist verurteilt
Die 2. Kammer des Amtsgerichts Bagcilar hat Cemil Tokpinar, Journalist in der Zeitung Yeni Asya zu einer Strafe von einem Jahr Haft nach Artikel 216 neues TStG (312 altes TStG) verurteilt. In einem Artikel hatte er das Erdbeben vom 17. August 1999 als Warnung Gottes bezeichnet. Sein Anwalt Ömer Faruk Ünsal sagte, dass Cemil Tokpinar wegen dieses Artikels im Jahre 2001 vom SSG Istanbul zu 20 Monaten Haft verurteilt worden war, die 8. Kammer des Kassationsgerichtshof am 29. April 2004 das Urteil aber aufgehoben habe, weil sich der Artikel im Bereich von Kritik bewegt habe. Die Haftstrafe wurde in eine Geldstrafe von 7.300 YTL verwandelt.

Özgür Gündem vom 31.12.2005
Anwalt angeklagt
Die Staatsanwaltschaft in Beyoglu hat den Anwalt Hasip Kaplan wegen Aufstachelung zu Rassenhass nach Artikel 216/1 und 218 neues TStG angeklagt. Grund ist sein Auftritt im Fernsehsender Flash TV am 30. Mai.

Yeni Safak vom 17.03.2006
Besitzer von Yeni Asya verurteilt
Die 11. Kammer des Landgerichts Ankara hat den Besitzer der Tageszeitung "Yeni Asya", Mehmet Kutlular zu 18 Monaten Haft verurteilt. Das Verfahren war im Zusammenhang mit einer Rede angestrengt worden, in der Mehmet Kutlular das Erdbeben vom 17.08.1999 als Strafe für die Ungläubigen bezeichnet hatte. Das SSG Ankara hatte ihn deshalb am 9. Mai 2000 zu 2 Jahren Haft verurteilt. Die 8. Kammer des Kassationsgerichtshofs hatte die Strafe am 16.01.2001 bestätigt. Aufgrund von Veränderungen am Artikel 312 altes TStG kam es zu einer erneuten Verhandlung, in der das SSG Ankara ihn erneut zu gleicher Strafe verurteilte. Danach verbrachte Kutlular 276 Tage im Gefängnis. Nachdem der Artikel 312 altes TStG durch den Artikel 216 neues TStG ersetzt wurde, war das jetzt beendete Verfahren eingeleitet worden.

Radikal vom 11.05.2006
Journalist verurteilt
Die 2. Kammer des Amtsgerichts Bakirköy hat den Journalisten Mehmet Sevket Eygi von der "Milli Gazete" zu einer Strafe von 1 Jahr Haft verurteilt. In einem Artikel vom 20.03.2005 mit dem Titel "Es gibt keine Anstrengung und kein Ehrgefühl mehr" soll er die Bevölkerung zu Hass und Feindschaft aufgestachelt haben (Artikel 216 neues TStG). Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.

Özgür Gündem vom 24.06.2006
Bürgermeister und Journalist angeklagt
Die Staatsanwaltschaft in Diyarbakir hat den Bürgermeister Osman Baydemir und den Journalisten Cemal Subasi von der Zeitschrift Tempo wegen eines Artikels vom 14. Januar angeklagt. In diesem Artikel hatte Osman Baydemir sich gegen die Isolationshaft von Abdullah Öcalan gewandt und darauf hingewiesen, dass er in bestimmten Kreisen einen großen Einfluss habe. Die Anklage fußt auf Artikel 216/2 TStG (öffentliche Verunglimpfung eines Teils der Bevölkerung) und Artikel 218 TStG (höhere Strafe, wenn Straftat durch die Medien begangen wird).

Cumhuriyet vom 29.08.2006
Historikerin vor Gericht
Die Staatsanwaltschaft von Beyoglu hat Muazzez Ilmiye Cig, eine führende Historikerin zur Erforschung der Sumerer, und den Verleger Ismet Ögütücü vom Verlag "Zeitalter und Analyse" wegen des Buches "Meine Reaktionen als Bürgerin" unter Artikel 216/2 neues TStG (öffentliche Verunglimpfung eines Teils der Bevölkerung) angeklagt. In dem Buch sind Briefe abgedruckt, die sie an den damaligen Bürgermeister von Istanbul, Recep Tayyip Erdogan geschrieben hat, und Artikel, die sie 1997 veröffentlichte. Frau Cig sagte u.a., dass bei den Sumerern die Prostituierten ihr Angesicht verhüllten, während es im Islam eingeführt wurde, als die vielen Frauen und Töchter des Propheten bemerkt wurden.
Cumhuriyet vom 01.11.2006
Historikerin freigesprochen
Am 1. November sprach das Amtsgericht Beyoglu die Expertin der Sumerologie, Muazzez Ilmiye Cig (93) wegen ihres Buchs "Reaktionen als Bürgerin" frei.

TIHV vom 05.03.2007
Verleger verurteilt
Am 28. Februar verurteilte die 2. Kammer des Amtsgerichtes Beyoglu (Istanbul) Ahmet Önal, den Besitzer des Verlages Peri, im Zusammenhang mit dem Buch "Ein kurdischer Geschäftsmann: Hüseyin Baybasin"" von Murat Baksi nach Artikel 312 des früheren TStG zu 1 Jahr und 8 Monaten Haft.

Gündem-Milliyet vom 08.05.2007
Gerichtsverfahren gegen DTP-Bürgermeister
Gegen Aydin Budak, den Bürgermeister von Cizre (Sirnak) von der DTP, wurde im Zusammenhang mit seinen Reden und Verlautbarungen zwei Verfahren eingeleitet. Der Staatsanwalt in Cizre leitete Verfahren gegen ihn ein im Zusammenhang mit seinen Verlautbarungen nach der Festnahme von 31 Frauen nach den Demonstrationen am Frauentag am 8. März und den Newroz-Feiern am 21. März. Die Anklage fordert eine Verurteilung zu 7 Jahren und 6 Monaten nach Artikel 215 TStG wegen "Lobens einer Straftat und eines Straftäters" und nach Artikel 216/1 wegen "Aufstachelung zu Hass und Feindschaft".  Der Staatsanwalt in Diyarbakir leitete wegen der gleichen Äußerungen nach Artikel 7/2 Anti-Terror-Gesetz wegen "Propaganda für eine illegale Organisation" ein Verfahren ein. Das erste Verfahren beginnt am 8. Mai am Amtsgericht Cizre, das zweite am 17. Mai am Landgericht Nr. 5 in Diyarbakir.
Gündem vom 09.05.2007
Bei der Gerichtsverhandlung am 8. Mai am Amtsgericht in Cizre beschloss das Gericht die Freilassung von Bürgermeister Aydin Budak. Da Budak im Zusammenhang mit dem Verfahren am Landgericht in Diyarbakir (wegen der gleichen Rede) in Untersuchungshaft ist, wurde er nicht freigelassen.

Atilim vom 24.05.2007
Schriftsteller verurteilt
Die 2. Kammer des Amtsgerichts Fatih (Istanbul) hat am 23. Mai den Schriftsteller Mehmet Pamak für sein Buch "Kemalismus, Laizismus und Märtyrerwesen" zu einer Haftstrafe von 15 Monaten  verurteilt. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Gegen den Verleger Hamza Türkmen wurde keine Strafe verhängt.

Zunächst einmal sollte erwähnt werden, dass der Artikel 312 TStG mit dem Reformpaket Nr. 1 (dem Gesetz 4744) vom 06.02.2002 verändert wurde. Strafbar sollen seitdem nur noch öffentliche Äußerungen sein, die eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen. Der Artikel 216 TStG vom 01.06.2005 formuliert diese Bedingung als "offene und nahe Gefahr für die öffentliche Sicherheit". Dies kann durchaus als Schritt in Richtung auf mehr Meinungsfreiheit bewertet werden. Hoffnungen in diese Richtung keimten nach Urteilen des Kassationshofs im Jahre 2004 und Anfang 2005 auf.

Nach einem "westlichen" Verständnis könnten die aus religiösen Beweggründen gemachten "Feststellungen" vielleicht als "geistige Verwirrung" ausgelegt werden, aber die herrschende Elite (zu der auch die obersten Richter zu zählen sind) sieht darin eine Gefährdung der Errungenschaften von Mustafa Kemal Atatürk. Die Entscheidung für Straffreiheit von Selahattin Aydar war mit 14:13 Stimmen sehr knapp. Ihr folgte ca. einen Monat später ein deutliches Votum für die Bestrafung von Mehmet Sevki Eygi. Hierzu die folgenden Meldungen:

Radikal vom 05.02.2005
Kassationsgerichtshof zur Meinungsfreiheit
Die Kammerversammlung des Kassationsgerichtshofs hat mit einer Mehrheit von 14 gegen 13 Stimmen ein Urteil der 8. Kammer aufgehoben. Die 8. Kammer hatte die Verurteilung des Journalisten Selahattin Aydar von der "Milli" Zeitung über 20 Monate Haft nach Artikel 312 TStG bestätigt. Hier Auszüge aus der Begründung der Kammerversammlung:
"Die Grenzen der Meinungsfreiheit können mit nationalen oder internationalen Normen gezogen werden. Meinungsfreiheit gehört zu den Bedingungen für die Entwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft. Der Artikel 312 TStG dient der Abwehr einer Gefahr, wobei die objektiven Kriterien für die Schaffung von Feindschaft und Hass nicht aufgeführt sind. Als Mindestbedingung sollten verschiedene Bevölkerungskreise gegeneinander aufgehetzt werden. Mit dem Artikel 216 im neuen Strafgesetz wurde die Bedingung der "offensichtlichen" und "nahen" Gefahr hinzugefügt. Die Inhaftierung von Personen, die eine Ansicht äußern, hat in der Geschichte nicht dazu geführt, dass von diesen Ansichten Abstand genommen wird. Im Gegenteil gereichte dies zu mehr Interesse für die Gedanken und auch aus Mitleid mit dem Betroffenen zur Zunahme der Personen, die solche Meinungen teilten. Es sollte eine öffentliche Ordnung gebildet werden, die mehr Toleranz entwickelt und gewaltfreie Gedanken fördert. Sekularismus (Laizismus) ist nicht ungeschützt, obwohl der entsprechende Artikel 163 TStG abgeschafft wurde. Dazu ist Bestrafung nicht die Voraussetzung.
Der Journalist Selahattin Aydar hatte in seinem Artikel mit der Überschrift "Nehmen wir uns der Kinder an" von ideeller Folter an Gläubigen und Behinderung der Koranschulen gesprochen. Die Ungläubigen hätten die Jugend an den Schulen und Universitäten vom Glauben entfernt und das Tragen des Kopftuches unterbunden. Es gebe aber einen Tag nach jeder Nacht und die Nation werde einen Frühling nach dem Winter erleben. Dann würden diejenigen, die Kinder und Jugendlichen vom Koran und Islam fernhielten, in Schande fallen.

Milliyet vom 16.03.2005
Strafe gegen Journalisten bestätigt
Die Kammerversammlung des Kassationsgerichtshofes hat die Strafe gegen den Journalisten Mehmet Sevki Eygi und den Chefredakteur der "Milli Gazete", Selami Caliskan wegen des Artikels "Terror von Religionsfeindschaft" vom 15.11.2000 mit einer Mehrheit von 24:4 Stimmen bestätigt. Das Staatssicherheitsgericht Istanbul hatte einen Verstoß gegen Artikel 312 gesehen und am 9. Oktober 2002 eine Strafe von 20 Monaten gegen Mehmet Sevki Eygi verhängt. Die Strafe war nicht in eine Geldstrafe verwandelt worden, da das Gericht davon ausging, dass der Angeklagte wieder straffällig werden könne. Die Strafe des Chefredakteurs war in eine Geldstrafe von 1,8 Milliarden TL verwandelt worden. Im September 2004 war das Urteil von der 8. Kammer des Kassationsgerichtshofes aufgehoben worden, weil der Text des Artikels nicht zur Gewalt aufrief und daher keine konkrete Gefahr bestehe.

Dieses Urteil wurde in der türkischen Presse diskutiert. Adnan Keskin von der Tageszeitung "Radikal" griff das Thema (vermutlich anhand von Protokollen der Sitzung) auf. Das begründete Urteil wird erst nach einiger Zeit veröffentlicht. Am 17.03. schrieb Adnan Keskin u.a.:

Im letzten Monat hob die Kammerversammlung des Kassationsgerichtshofes das Urteil gegen den Journalisten Selahattin Aydar von der Zeitung "Milli Gazete", der nach Artikel 312 TStG verurteilt worden war, auf. Nun wurde vorgestern ein Urteil gegen einen anderen Journalisten von der gleichen Zeitung bestätigt. Osman Arslan, der Vorsitzende des Kassationsgerichtshofes, wollte sich nicht dazu äußern, welches dieser Urteile richtungweisend sein wird. An beiden Urteilen wirkten insgesamt 12 Mitglieder mit. 8 von ihnen votierten beide Male gleich (jeweils vier für eine Verurteilung und 4 für Freispruch). Vier Mitglieder aber entschieden sich dieses Mal anders, d.h. für eine Bestrafung. Bei der Urteilsfindung soll auch die Rolle, die Eygi beim "Blutigen Sonntag" im Jahre 1969 spielte, berücksichtigt worden sein. Damals fanden anti-amerikanische Demonstrationen statt und er schrieb in der Zeitung "Bugün" gegen Kommunismus und rief zum heiligen Krieg auf.

Am 18.03.2005 schrieb Adnan Keskin u.a.: Das jüngste Urteil der Kammerversammlung des Kassationsgerichtshofes bringt neue Dimensionen zur Meinungsfreiheit. Im letzten Monat hatten die Richter entschieden, dass Gedanken nicht bestraft werden können, wenn sie nicht zur Gewalt anstacheln oder aufrufen. Nun aber wurden neue Kriterien geschaffen, die z.B. besagen: "Kein Gedanke ist verboten, nur die Art und Methode, wie er geäußert wird. Verbotene Formen der Meinungsäußerung sind in der Konvention zu Menschenrechten erläutert. In den Urteilen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes sind dies Hass, Beleidigungen, Rassismus und Terrorismus… Laizismus ist unser Staatssystem, d.h. es ist unsere offizielle Ideologie. Aufgrund der gesellschaftlichen Struktur und Geschichte unseres Landes können Anhänger auch ohne Druck und Gewalt gefunden werden. Sollte man bei der Äußerung von undemokratischen Meinungen das Element von Gewalt oder Aufruf zur Gewalt suchen, so würde das bedeuten, das System ungeschützt zu lassen und Gedanken, die das verfassungsmäßige System und Existenz beseitigen, in die Arme schließt… Gedanken, die leicht Anhänger finden und Funken in die Gesellschaft werfen, sind eine offene und nahe Gefahr."

Fast "folgerichtig" nach dem Urteil vom März 2005 ist es weiterhin zu Bestrafungen unter Artikel 312/2 TStG a.F. (Artikel 216 TStG n.F.) gekommen, ohne dass (zumindest für mich) eine "offene und unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit" erkennbar wäre. Die erneute Verurteilung von Selahattin Aydar durch die 14. Kammer des Landgerichts Istanbul (vormals die 4. Kammer des SSG Istanbul) wurde im März 2007 durch die Kammerversammlung wohl aufgehoben, aber nur, weil hierfür nicht mehr die Sondergerichte zuständig sind, und nicht weil erneut die Meinung vertreten wurde, dass Herr Aydar freizusprechen sei.

Etwas Positives gibt es zu dem Verfahren gegen den Anwalt Hasip Kaplan (er vertritt viele Kurden vor dem EGfMR) zu vermelden. Er wurde am 8. Juni 2006 von der 2. Kammer des Amtsgerichts Beyoglu freigesprochen, nachdem auch der Staatsanwalt die Meinung vertreten hatte, dass die Äußerungen von Herrn Kaplan im Fernsehen nach der EMRK kein Vergehen darstellten. Fußnote 12

Vom Verfahren gegen Osman Baydemir, Bürgermeister von Diyarbakir, ist ebenfalls positiv zu vermelden, dass er im April dieses Jahres freigesprochen wurde. Fußnote 13
Zum Verleger Ahmet Önal haben seine Anwälte eine Übersicht über seine Verfahren angefertigt. Sie ist auf den Internet Seiten des kurdischen Instituts in Brüssel zu finden. Zu dem unter den Beispielen aufgeführten Verfahren steht aber keine aktualisierte Information zur Verfügung (lediglich der Verlauf bis zum Urteil). Auch sonst habe ich neben weiteren Stellen, an denen die Verfahren aufgelistet sind (26, von  denen 8 noch andauern) keine Einzelheiten zu diesem spezifischen Verfahren gefunden.

Nach einer Meldung bei Bianet soll Aydin Budak, der Bürgermeister von Cizre, bei der Newroz-Veranstaltung in Kurdisch "Lang lebe Newroz" und "Gruß nach Imrali" (wo Abdullah Öcalan inhaftiert ist) gesagt haben. Fußnote 14

Über das Verfahren gegen den Schriftsteller Mehmet Pamak verrät uns die Internetseite "haksoz.net" etwas mehr. Fußnote 15 Hier wird von der Verhandlung am 26.04.2006 berichtet, in denen der Angeklagte mit 21 Seiten seine Argumente gegen die Anklage vorbrachte und 11 Seiten Anhang dem Gericht übergab.
In seiner Verteidigung beschuldigte der Angeklagte den Staatsanwalt, keine Beweise für die Vorwürfe gegen ihn aufgeführt zu haben. Es seien lediglich ein paar Sätze mit 57 Worten aus dem Buch zitiert worden. Dennoch könne er (der Angeklagte) angesichts der unzähligen Hinrichtungen ohne Urteil und Ungerechtigkeiten froh sein, dass gegen ihn immerhin eine Anklageschrift verfasst wurde.
In seinem Buch habe er den Despotismus der kemalistischen Ideologie und das System kritisiert, dass Freiheiten einschränkt, sich in die Justiz einmischt, die Rechtssprechung zur Willkür mache und islamische Begriffe missbrauche. Er wies den Tatvorwurf von sich und sagte, dass seine Aussagen keine Gewalt oder bevorstehende Gefahr darstellten.
Der Staatsanwalt wiederum vertrat die Meinung, dass in dem Buch gesagt werde, dass der Kemalismus mit Blut aufgebaut wurde, sich mit Blut seit 80 Jahren aufrecht halte und in dieser Zeit die Kurden, die Gläubigen und Armen unterdrückt habe. Deshalb beantragte er eine Verurteilung, von der im Falle des Verlegers abgesehen werden könne, weil der Autor bekannt sei. Das Gericht beschloss, die Akte an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten, um zu prüfen, ob der Angeklagte die Grenzen der Verteidigung überschritten und gegen andere Strafvorschriften verstoßen haben könnte. Das Verfahren wurde auf den 20. September 2006 vertagt.

Ende Mai des letzten Jahres wurde Mehmet Pamak in Essen festgenommen. Die Organisation für Würde und Rechte des Menschen e.V. schrieb dazu u.a.:
"Der zu unserer Podiumsveranstaltung 'Islamfeindlichkeit im Westen und die Verantwortung der Muslime'? am 04.06.06 aus der Türkei eingeladene Mehmet Pamak wurde am 31.05.06 mit dem Gründungsmitglied unseres Vereins, Herrn Yalcin Icyer, im Rahmen eines Polizeieinsatzes gemeinsam auf das Polizeipräsidium in Essen abgeführt.
Der Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Essen vom 13.4.2006 erlaubte die Durchsuchung der Wohnräume einschließlich Keller und Dachboden… Auch in den Raum, in dem unser Gastredner Herr Pamak schlief und überhaupt nicht vom Durchsuchungsbefehl erfasst war, seien Polizisten eingedrungen, hätten ihn sehr erniedrigend behandelt (und) seine privaten Sachen… sichergestellt.
Als Vorwand für diese brutale Vorgehensweise habe man Volksverhetzung durch die Veröffentlichung eines Textes auf der Internetseite des Vereins angegeben, wonach Gott darum gebeten worden sei, die Amerikaner, Russen und Juden, die gegen den Islam Krieg führen, zu vernichten." Fußnote 16

Mir ist nicht bekannt, ob Mehmet Pamak auch in Deutschland strafrechtlich belangt worden ist, aber schließlich ist der Artikel 130 StGB in seinem Wortlaut dem Artikel 126 TStG sehr ähnlich. Der Unterschied der Strafvorschriften liegt vermutlich in der Zielsetzung. War (und ist) der Artikel 130 StGB vor allem gegen NS-Propaganda gerichtet, so soll der Artikel 126 TStG n.F. vor allem die als "reaktionär" (irtica) beschriebenen extrem religiösen Strömungen und den "Separatismus" (bölücülük) "bekämpfen". Vor allem die militärische Führung in der Türkei hält beide Elemente für gefährlich, bzw. wird die "Reaktion" häufig als noch gefährlicher eingeschätzt, als die einen bewaffneten Kampf führenden "Separatisten".

An dieser Stelle bliebe festzuhalten, dass der Artikel 312/2 TStG a.F. (216 TStG n.F.) vorwiegend gegen missliebige Äußerungen von Personen eingesetzt wird, die offiziell als "religiöse Fanatiker" angesehen werden. In gewisser Weise auch als "Ersatz" zum Vorwurf der Separatismuspropaganda wurde (und wird) der Artikel auch gegen kurdische Aktivisten eingesetzt. Nach der Gesetzesänderung vom Februar 2002 scheinen diese Verfahren vorwiegend mit Freispruch zu enden.

Gespannt darf man dabei auf den Ausgang eines Verfahrens in Diyarbakir sein. Vor der 7. Kammer des Amtsgerichts Diyarbakir sind Ibrahim Güçlü, Seyhmus Aykol und Halis Nezan angeklagt. Sie hatten am 3. April 2005 auf einer Veranstaltung des inzwischen verbotenen Kurdischen Vereins Kürt-Der von Diyarbakir zum Andenken an die kurdischen Führer der Republik Mahabad, die am 31. März 1947 hingerichtet wurden, gesprochen. Die Anklage beruht auf Artikel 216 TStG. Der Prozess begann im Jahre 2006 und wurde 2007 mit Verhandlungen im Februar und April fortgeführt. Der Angeklagte Ibrahim Güclü hat mehrfach deutlich gemacht, dass er seine Verteidigung nur in Kurdisch vorbringen werde.

Vor einer näheren Betrachtung der Äußerungen des Klägers im Lichte der hier aufgeführten Beispiele sollte ich noch auf die "Gefährlichkeit" von Auftritten bei Roj TV eingehen. Fußnote 17

Özgür Gündem vom 03.12.2005
Strafe wegen Interview mit Roj TV
Das Amtsgericht von Siirt hat am 27. November den ehemaligen Vorsitzenden der Demokratischen Volkspartei (DEHAP) für den Zentralkreis in Siirt, Sükrü Oguz zu einer Geldstrafe von 740 YTL verurteilt. Grund war eine Rede im Fernsehsender Roj TV, wo er sich mit den Worten "es sollen weder die Mütter der Soldaten noch die der Guerillas weinen" gegen den Krieg gewandt hatte. Darin sah das Gericht das "Loben eines Schuldigen und einer Straftat mittels der Presse". Die Strafe wurde nach den Artikeln 215 und 218 TStG verhängt.

ANF (Nachrichtenagentur Firat) vom 13.12.2005
Politiker verhaftet
Sabahattin Suvagci, bis zu ihrer Auflösung Vorsitzender der DEHAP in der Provinz Hakkari, wurde am 12. Dezember verhaftet. Grund soll ein Interview im Fernsehsender Roj TV sein.
ANF vom 14.12.2005
Nach Widerspruch der Anwälte wurde S. Suvagci noch am gleichen Tag aus der Haft entlassen.

Hürriyet-Milliyet-Radikal-Özgür Gündem vom 01.-05.04.2006
Politiker verhaftet
In Batman wurde Ayhan Karabulut, der Provinzvorsitzende der DTP am 1. April in U-Haft genommen. Die Verhaftung erfolgte wegen einer Rede im Fernsehsender Roj TV. Karabulut wurde noch am gleichen Tag wieder freigelassen, aber nach einem Widerspruch erging gegen ihn Haftbefehl in Abwesenheit.

Özgür Gündem, 07/08.04.2006
Politiker verhaftet
Hasan Bozkurt, Vorsitzender der aufgelösten Partei Volksdemokratie Partei (HADEP) im Kreis Nusaybin (Mardin) wurde am 7. April im Zusammenhang mit einer Rede, die er in ROJ-TV gehalten hatte, verhaftet.
Yeni Özgür Politika vom 07.12.2006
Anfang Dezember 2006 wurde der Kreisvorsitzende der mittlerweile verbotenen HADEP in Nusaybin (Mardin) Hasan Bozkurt von der 4. Kammer des Landgerichts Diyarbakir zu 3 Jahren und 4 Monaten Haft verurteilt. Nachdem die Ereignisse in Diyarbakir Ende März 2006 nach Nusaybin übergesprungen waren, hatte Bozkurt dazu telefonisch in Roj TV berichtet. Das Gericht bezeichnete die Proteste als Machtdemonstration der PKK und den Auftritt in der Nachrichtensendung von Roj TV als PKK Propaganda. Dafür erging eine Haftstrafe von 20 Monaten. Die 2. (identische) Strafe erfolgte wegen der Benutzung des Wortes Guerilla, das in den Augen des Gerichtes (nur) für Personen verwendet wird, die im bewaffneten Kampf ihr Land von Besatzern befreien wollen.

Özgür Politika vom 29.04.2006
Verhaftung nach Äußerungen in Roj TV
Taner Bektas, der im Jahre 2005 als Vertreter von der Konföderation der Demokratischen Jugend (Dem-Genc) telefonisch an einen Programm in ROJ TV teilgenommen hatte, wurde von der Anti-Terror Abteilung der Polizei in Ankara festgenommen. Die 11. Kammer des Landgerichts Ankara stellte Haftbefehl wegen Mitgliedschaft in Kongra-Gel aus.

Radikal vom 10.06.2006
Bürgermeister verurteilt
Das Amtsgericht in Cizre hat den Bürgermeister Aydin Bucak (DTP) zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt. Seine Botschaft zum Opferfest war in Roj TV ausgestrahlt worden. Darin hatte er davon gesprochen, dass die Isolation von Abdullah Öcalan eine Provokation sei. Die Strafe wurde nach Artikel 220 TStG verhängt.

Cumhuriyet vom 04.07.2006
Bürgermeister angeklagt
Hüseyin Kalkan, Bürgermeister von Batman (DTP) wurde angeklagt, weil er in Interviews mit Roj TV und lokalen Zeitungen die PKK gelobt und die Kampagne, Abdullah Öcalan als politischen Willen anzuerkennen, unterstützt habe.

Özgür Gündem vom 29.08.2006
Bürgermeister vor Gericht
Der stellvertretende Bürgermeister von Semdinli, Emin Sari, wird sich vor einem Amtsgericht wegen eines Telefonats mit Roj TV verantworten müssen. Er hatte nach der Verhandlung gegen den Unteroffizier Tanju Cavus am 20. Januar einen Kommentar abgeben wollen, aber schon nach den Worten "Wenn das Verfahren unabhängig in Angriff genommen worden wäre, hätte heute Tanju Cavus..." war die Telefonleitung unterbrochen worden. Die Anklage fordert eine Bestrafung nach Artikel 301 TStG (Beleidigung).

Bia (Netzwerk) vom 25.09.2006
Menschenrechtler angeklagt
Die 5. Kammer des Landgerichts in Diyarbakir verhandelte am 19. September in zwei Verfahren gegen den Rechtsanwalt Selahattin Demirtas, den Vorsitzenden des IHD in Diyarbakir. In einem Verfahren geht es um ein Interview mit dem Fernsehsender ROJ-TV am 7. Februar 2003 und im anderen Verfahren um eine Rede im lokalen Fernsehsender Gün-TV am 24. Juni 2005. In beiden Fällen lautet die Anklage auf Propaganda für eine illegale Organisation (Artikel 220/8 des neuen TStG). Die Verfahren wurden auf den 14. November vertagt.

Özgür Gündem vom 04.10.2006
Gewerkschafter angeklagt
Der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Egitim-Sen in Tunceli Hanefi Bekmezci wurde angeklagt, weil er die Nähe von militärischen Einheiten zu den Schulen kritisiert hatte. Die Presseerklärung wurde in Roj TV am 28. Mai 2006 aufgegriffen und Herr Bekmezci wegen Verunglimpfung des Militärs angeklagt.
Anm.: Am 14. November sprach ihn das Friedensgericht in Tunceli frei.

Özgür Gündem vom 13.10.2006
Politiker verurteilt
Das Amtsgericht in Erzincan hat den Vorsitzenden der DTP für die Provinz, Hüseyin Bektasoglu, zu einer Haftstrafe von 2 Jahren verurteilt. In einem Programm bei Roj-TV soll er Propaganda für eine illegale Organisation gemacht haben (Artikel 220/8 neues TStG) und gegen den Artikel 301 verstoßen haben. Der Anwalt Necati Güven sagte, dass die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Özgür Gündem vom 16.11.2006
Menschenrechtler verurteilt
Die 5. Kammer des Landgerichts Diyarbakir hat den Vorsitzenden des IHD in Diyarbakir, Selahattin Demirtas, wegen einer Rede in ROJ-TV im Juli 2005 zu einer Strafe von 15 Monaten wegen Propaganda für eine illegale Organisation verurteilt. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Wegen einer Rede beim lokalen Fernsehsender Gün-TV am 24. Juni 2005 erteilte die 4. Kammer des Landgerichts Diyarbakir die gleiche Strafe.

ANF- Milliyet-Gündem vom 08.03.2007
Politiker verurteilt
Am 7. März verurteilte das Amtsgericht Diyarbakir Sedat Yurttas, ein ehemaliger Parlamentsabgeordneter der geschlossenen Demokratie-Partei (DEP) und Mitglied der DTP-Partei-Versammlung, wegen Benutzung der Anrede "Verehrter" (in der Anwendung fast so selbstverständlich wie "Herr" in Deutsch, HO) in Bezug auf Abdullah Öcalan bei einer Sendung von Roj TV am 11. Januar 2006. Das Gericht verurteilte ihn wegen "Lobens einer Straftat und eines Straftäters" nach Artikel 215/1 TStG zu einer Haftstrafe von 6 Monaten.
Anm.: Radikal vom 27.01.2006 meldete, dass auch der ehemalige Abgeordnete der DEP, Hatip Dicle, in gleicher Weise angeklagt wurde.

Radikal, 12.04.2007
Verfahren gegen Anwalt
Gegen Muharrem Sahin, Mitglied der Anwaltskammer Diyarbakir, wurde im Zusammenhang  mit einer Äußerung von ihm in ROJ-TV über 9 PKK-Militante, die nach einer Kampfhandlung in einem Massengrab beerdigt worden waren, ein Gerichtsverfahren eröffnet. Die Anklage fordert eine Bestrafung von Sahin nach Artikel 301 TStG.

Wie schon in den Beispielen zur Anwendung des Artikels 301 TStG (unter den hier aufgelisteten Verfahren befinden sich weitere Beispiele für die Anwendung des Artikels) fehlen vielen Meldungen wertvolle Details, bzw. können in ihrer Korrektheit angezweifelt werden.

Einigermaßen konkret ist der Vorwurf in der ersten Meldung, wo ein Politiker in Roj TV davon sprach, dass "weder die Mütter der Soldaten noch der Guerilla weinen sollen". Ausschlaggebend ist hier wohl das Wort Guerilla. Hätte der Politiker "Terroristen" gesagt oder zumindest nicht ein Synonym für Freiheitskämpfer benutzt, wäre es vermutlich nicht zur Anklage gekommen. Falls mit den Guerillas die Kämpfer/innen der PKK gemeint sind, sind sie in den Augen des türkischen Staates "Straftäter". Daher kann eine Verurteilung wegen "Lobens von Strafen oder Straftäter" (Artikel 215 TStG) erfolgt sein. Artikel 218 TStG sieht eine Anhebung der Strafe um die Hälfte vor, wenn (zuvor genannte) Artikel mittels der Medien verletzt werden.

Das Wort "Guerilla" hat auch im Verfahren gegen Hasan Bozkurt eine Rolle gespielt. Neben der eigenwilligen Definition des Gerichts wurde hier anscheinend auf Haftstrafe entschieden (18 Monate). Die Nachricht in Yeni Özgür Politika suggeriert, dass der falsche Gebrauch des Wortes bestraft wurde, wofür allerdings keine Strafvorschrift genannt wird. Ich würde vermuten, dass die Strafe entweder nach Artikel 215 TStG wegen Lobens von Straftätern oder nach Artikel 7/2 ATG wegen Propaganda für eine terroristische Organisation erging.

Die 4. Kammer des Landgerichts Diyarbakir (zuvor die 1. Kammer des Staatssicherheitsgerichts) hat zudem eine andere Neuerung der Gesetzgebung vom 1. Juni 2005 angewandt. Demnach müssen bei Delikten, in denen verschiedene Strafvorschriften verletzt wurden (so würde z.B. ein Bankraub im Namen einer Organisation zur Bestrafung für Raub und Mitgliedschaft in der Organisation führen), gesondert abgeurteilt werden. Die "Propaganda für die PKK", die der Zeitungsartikel als weiteren Grund nennt (das wäre Artikel 220/8 TStG), könnte der bloße Auftritt in Roj TV gewesen sein. Es kann aber auch sein, dass die Art der Berichterstattung über eine Machtdemonstration der PKK als "Propaganda" bewertet wurde. In jedem Fall hat es dafür eine gesonderte Strafe von 20 Monaten Haft festgelegt. Ich vermute, dass die Gesamtstrafe von 3 Jahren, 4 Monaten Haft weder in eine Geldstrafe verwandelt, noch zur Bewährung ausgesetzt wurde. Der Artikel macht dazu keine Angaben.

Die Strafe gegen den Bürgermeister von Cizre (Aydin Bucak) wurde nach Artikel 220 TStG verhängt. Hier sieht der Absatz 8 eine Strafe zwischen 1 und 3 Jahren Haft vor, wenn Propaganda für eine (kriminelle, bzw. illegale) Organisation gemacht wird. Fußnote 18 Neben seiner Äußerung "die Isolation von Öcalan ist eine Provokation" könnte er auch gesagt haben, dass er Abdullah Öcalan als den Ausdruck seines politischen Willens anerkennt. Fußnote 19

Die Anklage gegen den Bürgermeister von Batman (Hüseyin Kalkan) wird einen entsprechenden Tatvorwurf zum Hintergrund haben.
An dem Verfahren gegen den stellvertretenden Bürgermeister von Semdinli ist mir nicht ganz klar, ob allein der angefangene Satz zur Anklage führte. Fußnote 20 Das Thema betraf die Vorfälle in Semdinli im November 2005. Dafür wurden 2 Unteroffiziere zu je 39 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt (allerdings hat der Kassationshof im Mai 2007 die Urteile wieder aufgehoben).

Der Unteroffizier Tansu Cavus ist gesondert angeklagt, da er bei einer Demonstration nach den Vorfällen in die Menge geschossen und mindestens eine Person getötet haben soll. Die letzte Meldung über diesen Prozess, der aus Sicherheitsgründen von Hakkari nach Malatya verlegt wurde, hat mir aus Oktober 2006 vorgelegen.
Meine Internetrecherche ergab, dass sich Emin Sari zu anderen Zeitpunkten ebenfalls zu den Vorfällen in Semdinli geäußert hat. In einer Meldung von Özgür Gündem vom 18.05.2006 beschwerte er sich, dass die Angeklagten von "Einigen" geschützt werden und dies eine Bedrohung für sie sei. Fußnote 21 Weitere (relevante) Meldungen habe ich nicht gefunden, aber es dürfte klar geworden sein, dass Emin Sari weitere (kritische) Äußerungen zum Verfahren gegen Tanju Cavus gemacht haben kann und die in die Ermittlungen, bzw. das Verfahren gegen ihn eingeflossen sein können.

Zu den Verfahren gegen den Vorsitzenden des IHD in Diyarbakir, Selahattin Demirtas sollte angemerkt werden, dass der Auftritt in Roj TV in Verbindung mit einer Presseerklärung vom 7. Februar 2003 stand, die als Titel hatte "Die Spannungen, die durch den Krieg und die Isolation hervor gerufen wurden, haben zu einer Zunahme von Verletzungen (der Menschenrechte) geführt". Der Auftritt im lokalen Fernsehsender Gün TV (mit Sitz in Diyarbakir) war am 24. Juni 2004 und hier hatte die Staatsanwaltschaft in der Ansicht, dass "Öcalan nicht aus dem Friedensprojekt in der Türkei heraus gehalten werden soll" eine Gesetzeswidrigkeit gesehen. Fußnote 22
Den Meldungen zufolge war der Hinweis auf die Isolation (von Abdullah Öcalan) und die Fürsprache, ihn nicht aus dem Friedensprojekt heraus zu halten, Grund für die Gerichte, dies als "Propaganda für eine illegale Organisation" zu betrachten.

Zum Verfahren gegen den DTP Vorsitzenden in Erzincan, Hüseyin Bektasoglu habe ich im Internet folgende Ergänzung gefunden. Am 8. April 2006 war es in Erzincan zu einem Lynchversuch an Mitgliedern des Jugendvereins gekommen. Aus Protest dagegen wurde von verschiedenen Organisationen am nächsten Tag eine Pressekonferenz (vermutlich im Freien) abgehalten und es kam erneut zu Ausschreitungen. Fußnote 23 Darüber hatte Herr Bektasoglu in Roj TV berichtet. Nach der Nachricht in Özgür Gündem vom 13.10.2006 soll Hüseyin Bektasoglu gesagt haben, dass er wegen Propaganda für eine (illegale) Organisation allein deswegen verurteilt wurde, weil er die Mitarbeiter/innen des Senders gegrüßt und ihnen Glück gewünscht hatte. Fußnote 24

Die Meldung zum Verfahren gegen den Anwalt Muharrem Sahin erschien am 11.04.2007 in Radikal (nicht 12.04.). Es ging bei dem Tod von 9 PKK Militanten um einen Vorfall in der Provinz Mardin (Kreis Savur) vom Mai und Juni 1995. Damals sollen 9 Militante in einem Massengrab "verscharrt" worden sein. Fußnote 25 In der Meldung in Radikal vom 11.04.2007 beschwerte sich der Anwalt, dass allein seine Äußerung, "es sei möglich, dass ein PKK'ler (genauer: eine PKK'lerin) nach der Festnahme getötet wurde" zur Eröffnung des Verfahrens geführt habe.

Verfahren wie das gegen Sedat Yurttas (und Hatip Dicle) gibt es sehr viele, die aber nicht auf Auftritte bei Roj TV beschränkt sind. Zum Hintergrund sollte gesagt werden, dass das Attribut "verehrter" gerade von Politiker auch vor dem Namen ihres ärgsten "Feindes" (z.B. Führer der Opposition) verwendet wird.

An diesem Punkt sollte festgehalten werden: die Sendungen in Roj TV werden anscheinend "peinlich" genau überwacht und sehr häufig werden dort gemachte Äußerungen juristisch auf die "Goldwaage" gelegt. In einem Fall soll es sogar zur Unterbrechung eines Telefonats geführt haben, was nur durch enge Koordination der Sicherheitskräfte (Geheimdienst?) mit der türkischen Telekom möglich gewesen sein könnte.

Besonders "gefährlich" sind Äußerungen, die als Sympathie für den PKK-Führer Abdullah Öcalan bzw. die Organisation ausgelegt werden können. Dies kann sowohl als "Loben eines Straftäters" als auch als "Propaganda für eine illegale Organisation" ausgelegt werden. Das Verfahren in Erzincan scheint dabei etwas aus dem üblichen Rahmen zu fallen. Wenn es zutrifft, was der Angeklagte Hüseyin Bektasoglu sagte, so muss das Gericht den Sender Roj TV als Teil der PKK eingestuft haben, da aufmunternde Worte an die Mitarbeiter/innen des Senders als "Propaganda für eine illegale Organisation" bewertet wurden. Gegen die Korrektheit der Angaben des Angeklagten spricht, dass das Urteil nicht nur wegen "Propaganda" sondern auch wegen "Verunglimpfung" erfolgt sein soll. Nach dem Hergang der Sache könnte damit eine "Beleidigung der Polizei" gemeint sein, wenn Hüseyin Bektasoglu beispielsweise von einseitigem Eingreifen der Polizei gesprochen hat.

Für die Möglichkeit einer Bestrafung wegen eines Auftritts in Roj TV spricht das Verfahren gegen Hasan Bozkurt. Demnach könnte sowohl ein Gericht in Erzincan als auch ein Gericht in Diyarbakir einen Auftritt bei Roj TV (in beiden Fällen als ehrenamtliche Reporter) als Propaganda für eine illegale Organisation bewertet haben.
Aus dem üblichen Rahmen fällt auch das Verfahren in  Ankara, wo den Presseberichten zufolge Taner Bektas unter der Beschuldigung, Mitglied in einer illegalen (bewaffneten) Organisation zu sein, in Untersuchungshaft kam, (nur) weil er in Roj TV lobende Worte zur PKK äußerte. Hinzufügen sollte ich, dass Taner Bektas schon einmal im November 2004 in Ankara festgenommen wurde, weil er bei einer Demonstration gegen das Hochschulgesetz Poster von Abdullah Öcalan getragen haben soll.

Auf den dramatischen Anstieg von Verfahren unter dem Vorwurf der "Propaganda (für eine illegale Organisation)" hat Ende letzten Jahres der Vorsitzende der Anwaltskammer Diyarbakir Sezgin Tanrikulu, hingewiesen. Die Bestimmungen im neuen Strafrecht, die die Meinungsfreiheit einschränken, würden langsam deutlich, meinte er. So seien allein in Diyarbakir 150 Personen in 60 Verfahren nach dem Artikel 220/8 des neuen Strafgesetzes angeklagt worden. Dieser Artikel verbietet die Propaganda für eine illegale Organisation. Von den Verfahren seien 26 abgeschlossen worden und es erhielten 46 Personen Haftstrafen (die Meldung erschien beim unabhängigen Kommunikations-Netzwerk Bia am 21.11.2006).

Es werden auch Ermittlungen geführt und Verfahren eröffnet, wenn innerhalb der Auftritte bei Roj TV Kritik an den Streitkräften geübt, bzw. kritisiert wird, dass Gesetzesüberschreitungen von Angehörigen der Streitkräfte nicht in ausreichendem Maße geahndet werden. Diese werden in der Regel nach Artikel 301/2 TStG n.F. (Verunglimpfung der Streitkräfte) verfolgt. Unter Hinzunahme der Beispiele zu Verfahren nach Artikel 301 TStG könnte ergänzend gefolgert werden, dass Erklärungen über konkrete Ereignisse, bei denen den Sicherheitskräften ein in den Augen der Behörden nicht vorhandenes Fehlverhalten unterstellt wird, zu Strafverfolgung führen kann. Auf die Beispiele angewendet wäre die offizielle Haltung also: Soldaten vergewaltigen nicht; sie stecken keine Wälder in Brand; sie lassen niemanden "verschwinden"; sie verüben keine Morde im Auftrag des "verborgenen" Staates; sie töten niemand nach Festnahme und (auf Emin Sari bezogen) sie genießen keinen besonderen (Rechts)schutz. Auf das Verfahren von Akin Birdal bezogen, wäre ein Grund für ein Verfahren nach Artikel 301/2 TStG, wenn jemand behauptet, dass die Regierung der Republik der Türkei oder des osmanischen Reiches einen Völkermord an den Armeniern begangen (angeordnet) hat und sich deshalb entschuldigen müsse.

Wenn ich nun die bis hierher gewonnenen Erkenntnisse mit den Äußerungen des Klägers in Roj TV in Relation setze, kann ich feststellen:
1. Sein Auftritt in Roj TV wird nicht unbemerkt geblieben sein und es muss davon ausgegangen werden, dass er auch in "juristischer" Hinsicht ausgewertet wurde.
2. Es kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob allein der Auftritt als solcher schon strafrechtliche Konsequenzen haben könnte. Die Verfahren gegen Hüseyin Bektasoglu und Hasan Bozkurt machen eine solche Annahme möglich. Jedoch haben beide quasi als "Reporter" fungiert und waren nicht einfach Interviewpartner.
3. Unter den aufgeführten Beispielen war kein Verfahren, dass sich auf einen Studioauftritt bezog (vielleicht "trauen" sich das nur Personen, die permanent im Ausland sind). Insofern kann keine Angabe dazu gemacht werden, ob die Gerichte in der Türkei einen solchen Auftritt allein schon als "Propaganda für die PKK" bewerten würden. Das Verfahren gegen Hüsnü Cemal Aslan, die im Februar 2001 als Sprecherin des Vorläufers von Roj TV (MED TV) vom Staatssicherheitsgericht in Erzurum zu 12,5 Jahren Haft wegen "Mitgliedschaft in der PKK" verurteilt wurde, kann kaum als Vergleich herangezogen werden. (vgl. die Nachricht in Milliyet vom 07.02.2001)
4. Separatistische Äußerungen sind kein Straftatbestand mehr. Der Artikel 8 des Gesetzes 3713 zur Bekämpfung des Terrorismus (kurz: Anti-Terror-Gesetz, ATG) wurde mit dem Gesetz 4928 vom 19. Juli 2003 (das so genannte Anpassungspaket 6) abgeschafft. An den Beispielen aber wird deutlich, dass es genügend andere Vorschriften gibt, um ursprünglich als separatistisch eingestufte Meinungen nun als "Propaganda für illegale Organisationen", als "Loben einer Straftat oder eines Straftäters", als "Aufstachelung zu Rassenhass" oder auch als "Verunglimpfung von Staatsautoritäten" zu bestrafen.
5. In dem (übersetzten Teil des) Interviews des Klägers in Roj TV sind keine separatistischen Äußerungen im Sinne des abgeschafften Artikel 8 ATG (oder der hilfsweise an dessen Stelle verwandten Artikel) zu entdecken. Der Kläger spricht nicht von "Kurdistan" oder "den Kurden". Er erwähnt "kurdische Gebiete", aber scheint "kirmanc" als Synonym für "kurdisch" verwendet zu haben. Die Übersetzung führt "kirmancische/s Volk" und "kirmancische Menschen" auf. "Kirmanc" ist ein Dialekt der kurdischen Sprache und wird als Hauptdialekt auch als Synonym für Kurden verwandt. Im Falle des Klägers verwundert dies jedoch, weil er aus der Provinz Tunceli (Dersim) kommt, wo vorwiegend "Zaza" gesprochen wird.
6. In dem Interview wurde anscheinend nicht auf die Situation des PKK-Führers Abdullah Öcalan eingegangen. Ich konnte zumindest keine positiven (oder auch negativen) Äußerungen über ihn oder die Organisation als solche finden. Ein Vorwurf nach Artikel 215 TStG n.F. (Loben einer Straftat oder eines Straftäters) dürfte demnach entfallen.
7. In ähnlicher Form bieten mir (die übersetzten Teile) des Interviews keinen Anhaltspunkt dafür, dass hier (neben der Tatsache aktiv an einem Programm des als Sender der PKK bezeichneten Fernsehstation teilgenommen zu haben) "Propaganda für eine illegale Organisation" (Artikel 220/8 TStG n.F.) betrieben worden sein könnte.
8. Eine Bestrafung (Ermittlung) nach Artikel 216 TStG (Aufstachelung zu Rassenhass) scheint zwar möglich, weil von der Benachteiligung der kurdischen Bevölkerung gesprochen wird. Angesichts der Tatsache, dass kurdische Aktivisten kaum noch nach dieser Vorschrift verurteilt werden, dürfte dies auch für den Kläger unwahrscheinlich sein.
9. In Bezug auf den Artikel 301 TStG kann ich auch keinen (im Sinne der Rechtssprechung in der Türkei) vorhandenen Verstoß gegen den Absatz 1 (Verunglimpfung des Türkentums) feststellen, da an keiner Stelle "die Türken" pauschal als "minderwertig" oder sonst wie "verabscheuungswürdig" dargestellt werden (oder es Formulierungen gibt, die ein Gericht in der Türkei als derartige Äußerung bewerten würde).
10. Möglich ist jedoch, dass in den Bemerkungen des Klägers ein Verstoß gegen Artikel 301/2 TStG n.F. gesehen wird. Dies könnte in den Sätzen "die Sicherheitskräfte der Regierung haben mir und meiner Familie schlimme Sachen angetan" und "die Regierung erkennt keine Minderheiten und deren Rechte an. Wer dies fordert, wird terrorisiert, ermordet und gefoltert." gesehen werden.

Gegen diese Annahme sprechen zwei Gesichtspunkte. Auf der einen Seite sind die Vorwürfe ("Unterstellungen") des Klägers gegen die Staatsautoritäten nicht konkret. Fußnote 26 Im ersten Satz ist die Rede von "schlimmen Sache", die die Streitkräfte verübt haben sollen (die allerdings immer noch nicht der Regierung der Türkei unterstellt sind). Der "schlimmen Sachen" werden im Folgesatz mit "Druck, Verfolgung und Inhaftierung" ansatzweise konkretisiert, sind aber immer noch sehr allgemein gehalten. Im zweiten Satz ist unklar, wer oder welche Institution für welche Art von Terror, Mord oder Folter verantwortlich gemacht werden soll. Der Satz in der zweitletzten Zeile auf der Setie 1 der Übersetzung: "Stattdessen verbrennen unsere Wälder und Häuser, wir werden ins Gefängnis gesteckt und gefoltert" nennt ebenfalls keine Täter, bzw. Zeit und Ort und bleibt daher allgemein.

Lediglich am Schluss der Übersetzung wird ein konkretes Ereignis in den Worten: "Ich habe gelesen, dass letzten (hier fehlt wohl das Wort "März") 14 Guerillas getötet wurden. Als die Angehörigen die Leichname holen wollten, hat eine kleine Demonstration stattgefunden. Die Sicherheitskräfte haben noch 14 Menschen getötet."  Im Zusammenhang mit Äußerungen über diese Vorkommnisse sind mindestens 3 Personen angeklagt worden. Fußnote 27 Atilla Kaya wurde unter verschiedenen Vorschriften angeklagt, weil er in einem Zeitungsartikel eine Untersuchung des Vorwurfs, dass bei dem Einsatz gegen die Militanten der PKK chemische Waffen eingesetzt wurden, gefordert hatte. Der ebenfalls in Istanbul lebende Halil Dogan wurde nach Artikel 301 TStG angeklagt, weil er vom Einsatz chemischer Waffen gesprochen und in Bezug auf Übergriffe gegen Büros der DTP der Polizei vorgeworfen habe, die Angreifer belohnt zu haben. Hasan Bozkurt hatte in Roj TV von Demonstrationen in Nusaybin (Mardin) berichtet und soll 2 Mal zu je 18 Monaten Haft verurteilt worden sein, weil er in seiner Schilderung das Wort "Guerilla" verwandte und aus seiner Darstellung einer in den Augen des Gerichts "Machtdemonstration der PKK" Propaganda für diese Organisation gemacht haben soll.

Auch der Kläger verwendet das Wort "Guerilla", allerdings nicht als seine eigene Wortwahl, sondern in der Form "ich habe gelesen". Er spricht nicht von Massendemonstrationen als Zeichen des starken Rückhalts der PKK in der Bevölkerung, sondern nennt es "kleine Demonstrationen", bei denen die Sicherheitskräfte 14 Menschen erschossen.

Demonstrationen fanden seinerzeit nicht nur in Diyarbakir statt und die Todesopfer waren nicht nur dort, sondern auch in anderen Orten zu beklagen. Ansonsten entspricht aber die Darstellung des Klägers den Zeitungsberichten. Fußnote 28 Auch aufgrund des zeitlichen Abstands zu den Vorkommnissen und der indirekten Schilderung in der Form von "ich habe gelesen" ist es jedoch fraglich, ob ein Staatsanwalt diese Äußerung zum Grund nimmt, Anklage zu erheben. Dennoch sehe ich in dieser Äußerung am ehesten eine Gefahr der Strafverfolgung.

In Bezug auf die sonstigen Bemerkungen stellt sich allgemein die Frage nach den in offizieller Darstellung "unwahren" Behauptungen über "Missetaten" der Armee. Die Tatsache, dass "schlimme Sachen" mit den Bürgern und Bürgerinnen der Türkei (vor allem im Osten und Südosten des Landes) passierten, hat die Türkei sogar vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGfMR) mehrfach eingestanden (als Teil von "gütlichen Einigungen"). Es wird auch nicht abgestritten, dass es Morde und Folter gegeben hat, aber es wurden nie "die Schuldigen" (als Angehörige bestimmter Einrichtungen) benannt.

Jedoch ist die Taktik, die von offizieller Seite der Türkei bei Verfahren vor dem EGfMR eingeschlagen wird, eine andere Sache als die Strafgerichtsbarkeit im Lande. Ansonsten wären wohl die Äußerungen von Eren Keskin (in Köln) und Kiraz Bicici (in Bingöl) anders bewertet worden. Allerdings sollte auch festgehalten werden, dass nicht jede öffentliche Beschwerde über erlittenes Unrecht zwangsläufig zu einer Anklage führt. Immer wieder treten Opfer (z.B. von Folter) u.a. beim IHD in Istanbul vor die Presse, ohne dass deswegen gleich Strafverfahren gegen sie eröffnet werden. Fußnote 29

Der zweite Einwand gegen die Annahme, dass ein Verfahren gegen den Kläger eröffnet wird, stammt von dem Eindruck, den die Beispiele dahin gehend hinterlassen, dass nur gegen "wichtige" Personen (mit einer gewissen Position im öffentlichen Leben) vorgegangen wird, da vor allem Politiker und Menschenrechtler von den Maßnahmen betroffen zu sein scheinen. Es kann aber genauso gut sein, dass nur Verfahren gegen diesen Personenkreis einen Niederschlag in den Medien finden und weitere Verfahren keinen "Nachrichtenwert" haben.

Unter den Beispielen sind 12 Verfahren aufgelistet, die unter dem Artikel 301 TStG n.F. geführt wurden. Zwei dieser Verfahren gingen vor dem Jahre 2006 zu Ende. Verglichen mit den 72 Verfahren, die vom Projekt "Bia²" für 2006 gezählt wurden, machen 10 Verfahren gerade mal ein Sechstel (16,7%) aus, so dass hier von der Spitze eines Eisbergs gesprochen werden kann.

Unabhängig von der Möglichkeit, dass "Bia²" nicht über eine komplette Liste der Verfahren verfügt, Fußnote 30 besteht die Möglichkeit, dass unter der hier nicht betrachteten Mindestanzahl von 60 Fällen etliche Verfahren sind, die sich nicht auf "prominente" Personen beziehen. Da mir hierzu wesentliche Erkenntnisse fehlen, möchte ich mich an diesem Punkt aber nicht festlegen. Insbesondere kann ich keine Angaben dazu machen, ob unter den Verfahren gegen weniger oder gar nicht bekannte Personen auch solche sind, die als Hintergrund ein pauschal als negativ zu bezeichnendes Bild von der Lage der Menschenrechte in der Türkei abgeben.

Abschließend möchte ich noch auf eine Sache hinweisen, die mich zu der Vermutung führte, dass evtl. nicht alle Teile des Interviews übersetzt wurden. Der Kläger spricht in dem Protokoll vom 03.04.2007 davon, dass er ein Massaker aus dem Jahre 1938 kritisiert habe, bei dem 40.000 bis 60.000 Menschen ums Leben kamen.
Sicherlich ist das Wort "Massaker" (katliam) nicht in gleicher Weise ein Reizwort wie "Völkermord" (soykirim), aber angesichts der Niederschlagung des Aufstands von Dersim von einem "Massaker" zu sprechen, dürfte in offiziellen Kreisen als "unwahre Unterstellung" betrachtet werden.

Parallel zu dem o.a. Verfahren gegen Akin Birdal (aber auch die Verfahren von Eren Keskin, Kiraz Bicici, Halil Dogan, Ibrahim Güclü und Atilla Kaya) könnte eine solche Äußerung (falls sie öffentlich gemacht wurde) durchaus ausreichen, um ein Verfahren wegen Verunglimpfung des Militärs einzuleiten.

Damit möchte ich zum zweiten Teil der Frage kommen, der sich auf das Risiko von Misshandlungen bezieht.

Im Falle von "Meinungsdelikten" erfolgt in der Regel eine Vorladung der zuständigen Staatsanwaltschaft, d.h. die "Verhöre" (hier wohl besser Anhörung) des Beschuldigten findet nicht durch die Polizei statt. Ich habe im Zusammenhang mit solchen Verfahren zwar gehört, dass Anklageschriften erstellt wurden, ohne dass Beschuldigte sich zum Tatvorwurf äußern konnten; ich habe aber noch keinen Fall erlebt, in dem Beschuldigte im Rahmen der Ermittlungen Vorwürfe von Folter oder Misshandlung erhoben hätten.

Schließlich sollte noch ein Wort zu der zu erwartenden Strafe gesagt werden. Im Verlaufe des Verfahrens (Ermittlungen eingeschlossen) wird normalerweise auf Untersuchungshaft verzichtet (die Ausnahmen in den kurdischen Gebieten, wo Politiker kurzfristig in Haft kamen, sind unter den Beispielen zu finden).

An vielen Beispielen kann gesehen werden, dass bei einem so genannten "Erstdelikt" die Haftstrafen in Geldstrafen umgewandelt und/oder zur Bewährung ausgesetzt werden. Dies ist in das Ermessen des Gerichts gestellt, d.h. weder die Umwandlung in eine Geldstrafe noch die Aussetzung zur Bewährung ist eine zwingende Vorschrift. So wurde z.B. die 20-monatige Haftstrafe gegen Mehmet Sevki Eygi nicht zur Bewährung ausgesetzt und vom Kassationshof bestätigt. Auch bei Hasan Bozkurt kann vermutet werden, dass seine Haftstrafen (insgesamt über 3 Jahre) nicht in eine Geldstrafe verwandelt oder zur Bewährung ausgesetzt wurden.

Im Regelfall sollten Haftstrafen, die nicht umgewandelt oder zur Bewährung ausgesetzt werden, nicht im unmittelbaren Anschluss auf die Verurteilung durch die 1. Instanz zur Inhaftierung führen. Es wird angesichts der Höhe der Strafe auf eine Entscheidung des Kassationshofs gewartet. Sollte dieser das Urteil bestätigen, muss die Haftstrafe verbüßt werden (beginnt der Strafvollzug).

Als "Ersttäter" wäre eine Inhaftierung des Klägers eher unwahrscheinlich, aber er würde im Falle einer Verurteilung als "vorbestraft" gelten.

Ich hoffe, Ihnen mit den Angaben gedient zu haben.
 

Hamburg, den 28.05.2007        Helmut Oberdiek

Fußnoten:

1  In Englisch unter http://www.bianet.org/2006/11/01_eng/news92115.htm
2 Die Beispiele sind vor allem den Tagesmeldungen der Menschenrechtsstiftung TIHV entnommen. Zum großen Teil wurden sie vom Demokratischen Türkeiforum DTF ins Deutsche übersetzt und sind auf deren Internetpräsenz unter www.tuerkeiforum.net zu finden.
3 Zu finden unter http://www.sodev.org.tr/Haberler/2006/kiraz_biciciye_hapis.htm
4  Zu finden unter http://yeniozgurpolitika.com/?bolum=haber&hid=11615
5  Es handelt sich hier um das "Verschwinden" von Serdar Tanis und Ebubekir Deniz (von der HADEP) in Silopi am 25.01.2001.
6  Eine ausführliche Darstellung des Falles befindet sich auf den Seiten des DTF (www.tuerkeiforum.net) unter den Hintergrundberichten.
7  Der komplette Text des 49 Seiten umfassenden Urteils kann in Türkisch unter http://www.yargitay.gov.tr/dmdocuments/guncel_kararlar/184.doc gefunden werden.
8  Am 24.05.1976 hatte die Kammerversammlung entschieden, dass Wörter wie "deren Kehle trocknet und denen nach Blut lüstet", sowie "wenn sie Tanks, Gewehre, Panzer und Faschismus haben" aus dem Zusammenhang gerissen noch keine Verletzung von Artikel 159 TStG a.F. darstellen.
9  Danach folgen die abweichenden Meinungen. Es gab insgesamt 6 Gegenstimmen gegen die Entscheidung der Kammerversammlung (4 Richter schlossen sich dem Staatsanwalt an). Die Zahl der Mitglieder der Kammerversammlung schwankt. Es müssen aus allen 11 Strafkammern des Kassationshofs mindestens 2 Richter (aus mehr als der Hälfte der Kammern jeweils der vorsitzende Richter) teilnehmen. Möglich ist auch die komplette Teilnahme aller Kammern (sie haben einen vorsitzenden Richter und 4 Beisitzer). Die Zahl kann also zwischen 22 und 55 liegen. Im vorliegenden Fall waren es 24 Richter. Das Urteil erging mit 18 gegen 6 Stimmen.
10  Genauer müsste es heißen: "Wer einen Teil des Volkes gegen einen anderen Teil der Bevölkerung, der sich aufgrund von sozialer Klasse, Rasse, Religion oder des Gebietes unterscheidet, zu Hass und Feindschaft aufstachelt…
11  Zu den Quellen, siehe Fußnote 2
12  Leider geht aus der Meldung in Bianet (http://www.bianet.org/2006/06/08/80134.htm) der exakte Wortlaut der inkriminierten Meinung nicht hervor.
13  Nachricht unter http://www.haberler.com/baydemir-tempo-davasindan-beraat-etti-haberi/
14  Fundstelle: http://www.bianet.org/2007/05/11/95864.htm
15  Die Fundstelle der folgenden Angaben (Zugriff am 25.05.2007) ist hier: http://www.haksoz.net/index.php?name=News&file=article&sid=1556
16  Fundstelle: http://www.antiimperialista.org/index.php?
option=com_content&task=view&id=4486&Itemid=82
17  Zu den Quellen, vgl. Fußnote 2
18  Eigentlich fällt eine Organisation, bzw. die Mitgliedschaft in einer Organisation wie der PKK unter den Artikel 314 TStG n.F. Hier bestimmt der Absatz 3 aber, dass auf diesen Artikel auch die Vorschriften des Artikels 220 TStG, der sich auf Mafia-Strukturen (Organisationen, die mit der Absicht gegründet werden, Straftaten zu begehen) anzuwenden sind.
19  Nachzulesen unter: http://www.yeniozgurpolitika.org/rojname/index.html?bolum=haber&hid=15488
20  Allerdings ist die Übersetzung korrekt. Ich habe den Originalbericht in Özgür Gündem im Internet unter http://www.gundemimiz.com/arsiv.asp?haberid=17643 gefunden.
21  Die Meldung ist unter http://www.ozgurgundem.net/haber.asp?haberid=12613 zu finden.
22  Die Informationen habe ich unter http://www.bianet.org/2006/11/15/87834.htm gefunden.
23  Den Tagesberichten der TIHV entnehme ich, dass der Jugendverein am 8. April eine Erklärung gegen die F-Typ Gefängnisse abgab und die Mitglieder von Rechtsextremen angegriffen wurden. Die Pressekonferenz am 9. April soll sowohl von Rechtsgerichteten als auch von der Polizei angegriffen worden sein.
24  Der konkrete Wortlaut war "selam ve sevgilerimi iletiyorum" (ich übermittle Grüße und meine Liebe). Fundstelle: http://www.gundemimiz.com/arsiv.asp?haberid=21413.
25  Hierzu die Tagesberichte der TIHV (auch beim DTF in Deutsch zu finden): im November fanden Anwälte aus Diyarbakir mit dem Staatsanwalt aus Savur an dem Ort, der ihnen von Dorfbewohnern genannt worden war, zwei Schädel und Kleidungsstücke (Radikal vom 28.11.2005). Die Meldung vom 23.12.2005 aus Özgür Gündem besagt:
Mittlerweile wurde bestätigt, dass in dem Massengrab, das in der Nähe des Kreises Savur (Mardin) im November gefunden wurde, PKK Militante begraben waren. Auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft hatte ein Mediziner der Gerichtsmedizin die gefundenen Knochen untersucht. Er kam zu dem Schluss, dass 6 Personen betroffen seien. Es könne aber auch sein, dass etliche Knochen von Tieren entfernt wurden, d.h. der Anfangsverdacht von 9 Leichen könne evtl. zutreffen. Der Unteroffizier T.K. hatte bei der Staatsanwaltschaft ausgesagt, dass bei einem Gefecht am 21. Juni 1995 sieben Militante getötet wurden, die zunächst in einem alten Brunnen "deponiert" und am nächsten Tag zur Autopsie zu einer Gendarmeriestation gebracht wurden. Der Vorsteher eines süryanischen Dorfes sei gefragt worden, ob die Leichen dort beigesetzt werden könnten, was dieser abgelehnt habe. Ein Dorfschützer sagte aus, dass er bei der "Bestattung" in einem Massengrab dabei gewesen sei. Bei den Militanten soll es sich um Mehmet Aktay, Seymus Akboga, Mehmet Akan, Serhat Özbahçivan, Hafsat Aslan und Sadik Akçakoca handeln. Zwei Tage nach dem Gefecht wurde die Leiche von Hatice Simsek gefunden. Nach offizieller Stellungnahme soll sie festgenommen und beim Zeigen eines Versteckes ihr Leben verloren haben, als sie am 1. August 1995 auf eine Mine trat.
26  Der Gesetzestext spricht zwar von einer (pauschalen) Verunglimpfung der Streitkräfte, aber in den Verfahren in denen es um die Verunglimpfung des Militärs ging, standen immer konkrete "Unterstellungen" im Hintergrund. Ridvan Kizgin hatte sich über Drohungen des Kommandanten der Gendarmerie in Bingöl beschwert, Kiraz Bicici hatte auf das "Verschwinden" von Politikern bei der Gendarmerie in Silopi hingewiesen und Eren Keskin wird auf der Veranstaltung in Köln nicht nur Zahlen über Soldaten, die der Vergewaltigung an kurdischen Frauen verdächtigt sind, genannt haben. Ich erinnere mich an mindestens zwei Verfahren, in denen es um solche Vorfälle in der Provinz Mardin ging. Dort war Eren Keskin als Vertreterin der Nebenklage aktiv (bei einer Verhandlung war ich als Prozessbeobachter zugegen) und es ging um eine ganz bestimmte Gendarmeriestation in der Provinz.
27  Zu den Ereignissen findet sich eine deutsche Zusammenfassung unter http://www.tuerkeiforum.net/wochen/2006/0614.html
28  Folgt man den Übersetzungen des DTF in der darauf folgenden Woche, so wurden bei den Vorfällen sogar 15 Menschen getötet
29  Weniger zum Thema Meinungsfreiheit, denn zum Thema Straffreiheit von Folterern gehört das Phänomen, dass bei Anzeigen wegen Folter häufig mit einer Gegenanzeige z.B. wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt reagiert wird und zu diesem Zweck sich einzelne Beamte dafür (auch nachträglich) Atteste besorgen.
30  Die staatlichen Statistikämter, u.a. beim Justizministerium, halten keine Statistiken bereit, in denen über das Ende 2005 hinaus Angaben zu Verstößen jeweils von Gruppen von Strafvorschriften gemacht werden. Ein kurzer Blick auf die Angaben des Vorsitzenden der Anwaltskammer Diyarbakir macht deutlich, dass die Statistiken von Bia² nicht komplett sein können. Sezgin Tanrikulu spricht von 60 Verfahren allein in Diyarbakir, die nach Artikel 220/8 TStG geführt werden. Bia² führt diese Kategorie gar nicht auf.
31  Zum "Aufstand von Dersim" steht unter http://anadoluyum.com/showthread.php?t=1596: Zwischen 60.000 und 100.000 Kurden Bumke, Peter J.; The Kurdish Alevis - Boundaries and Perceptions; in: Andrews, Peter Alford; Ethnic Groups in the Republic of Turkey; Wiesbaden 1989; Seite 514>, vor allem Zivilisten, die sich nicht an den Kämpfen beteiligt hatten, wurden im Zusammenhang mit dem Aufstand von Dersim ermordet; mehr als 100.000 Menschen wurden nach dem Aufstand aus der Region Dersim - hauptsächlich in die Mittelmeer-Regionen - deportiert.

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