Übersicht:
Bei der Untersuchung der
Frage, welche rechtlichen Schritte aufgrund von kritischen Äußerungen
im Fernsehsender Roj TV ergriffen werden können, geht es nicht nur
um "Beleidigung des Türkentums oder von staatlichen Institutionen"
(Artikel 301 TStG), sondern auch um das "Loben eines Straftäters oder
einer Straftat" (Artikel 215 TStG) oder aber "Aufstachelung zu Rassenhass"
(Artikel 216 TStG). Die Punkte im Einzelnen (nach Anklicken des "links"
geht es mit Strg+oben, bzw. Pos1 wieder an den Anfang dieser Seite):
Wortlaut des
Artikel 301
Beispiele
von Verurteilungen nach Artikel 301
1.
Fazit
Das Verfahren
gegen Hrant Dink
2. Fazit
Aufstachelung
zu Rassenhass
Grundsatzurteile
des Kassationshofs
3. Fazit
Verfahren
nach Teilnahme an Sendungen in Roj TV
4. Fazit
Erweitertes
Fazit zu Artikel 301
Anwendung
der gewonnenen Erkenntnisse auf den Kläger
Gefahr
von Misshandlung
Mit Schreiben vom 09.05.2007
wurde ich von Herr Pankalla, Richter am VG Magdeburg gebeten, eine Frage
im Zusammenhang mit der o.a. Verwaltungsrechtssache zu beantworten. Sie
lautete:
Sind die vom Kläger
in der Roj TV Sendung vom 19. Juni 2006 gemachten öffentlichen Äußerungen
geeignet, dass der Kläger von den türkischen Sicherheits- bzw.
Strafverfolgungskräften einem Ermittlungsverfahren (z.B. wegen "Verunglimpfung
des Türkentums" oder separatistischer Äußerungen) unterzogen
werden wird? Besteht das ernstzunehmende Risiko von Misshandlung in einem
solchen Verfahren oder den erforderlichen Verhören?
Der Anfrage waren zwei Seiten
mit übersetzten Teilen aus dem Interview in Roj TV und 3 Seiten aus
dem Protokoll vom 03.04.2007 beigefügt, in denen der Kläger und
sein gesetzlicher Vertreter auf die Passagen aufmerksam machten, die ihrer
Ansicht nach zu einer Strafverfolgung führen können.
Bevor ich zur Beantwortung
der Frage komme, möchte ich einige allgemeine Bemerkungen zur Meinungsfreiheit
in der Türkei vorausschicken.
Die rasanten Gesetzesänderungen
vor allem zwischen 2002 und 2005, die auf dem Hintergrund des angestrebten
EU-Beitrittes durchgeführt wurden, ließen den Eindruck entstehen,
als würde ein ernsthafter Versuch unternommen, Menschenrechtsverletzungen
einzudämmen und für mehr Rechte und Freiheiten der Bürger
zu sorgen. Schon im Vorfeld der Einführung einer ganzen Reihe von
Gesetzen, allem voran einem revidierten Strafgesetz, aber wurde klar, dass
gerade in Bezug auf die Meinungsfreiheit wenig oder keine Änderungen
vorgesehen waren. Daran hat auch die öffentliche Kritik von Menschenrechtlern
und Anwälten nichts geändert. Eine in Aussicht gestellte Änderung
des maßgeblich kritisierten Artikels 301 im neuen Strafgesetz (Verunglimpfung
des Türkentums oder der Staatsautoritäten) ist derzeit auf ein
unbestimmtes Datum vertagt worden.
Die meisten Vorschriften,
mit denen die Meinungsfreiheit eingeschränkt wurde, blieben erhalten
und erhielten höchstens kleine Umformulierungen sowie neue Standorte
(Nummern) im Gesetz.
Es hat in den letzten Jahren
zwar wiederholt Verfahren gegeben, in denen entweder Gerichte der ersten
Instanz, bzw. der mit der Revision dieser Fälle betraute Kassationshof
unter Berufung auf Artikel 10 der Europäischen Menschenrechts-Konvention
gegen eine Bestrafung plädierten und es gehen sehr viele Verfahren
mit Freispruch aus, aber seit 2006 scheinen die Gerichte wieder eine härtere
Gangart eingeschlagen zu haben, d.h. es kommt zu mehr Schuldsprüchen.
Das kann an einer Aufstellung
des unabhängigen Netzwerks Bia im Projekt "Bia²" gesehen werden.
Im Jahresbericht für 2006 Fußnote 01 wurden
folgende Zahlen präsentiert. Es wurden 293 Journalisten, Publizisten
und Aktivisten angeklagt (verglichen zu 157 im Jahr 2005). 72 Verfahren
wurden unter Artikel 301 Türkisches Strafgesetz, neue Fassung (TStG
n.F.) geführt, 35 Verfahren wurden unter Artikel 216 TStG n.F. (Aufstachelung
zu Rassenhass) geführt und 24 Mal stand Beeinflussung der Justiz (strafbar
nach Artikel 19 des Pressegesetzes und 288 TStG) im Hintergrund. Es kam
zu 7 Verurteilungen nach Artikel 301 TStG und es gab 13 Freisprüche.
Weitere 5 Verfahren wurden nicht durchgeführt, weil keine Genehmigung
vom Justizministerium vorlag. Unter Artikel 216 TStG erfolgten 3 Verurteilungen
und 4 Freisprüche.
Es folgen weitere Details,
auf die ich hier nicht näher eingehen möchte.
Der Klägervertreter
hält angesichts der Äußerungen seines Mandanten vor allem
eine Bestrafung nach Artikel 301 für möglich und nennt dazu einige
Absätze aus der Übersetzung des Interviews, aus denen ich die
in meinen Augen markantesten Stellen wie folgt zitieren könnte:
- Die Sicherheitskräfte
der Regierung haben mir und meiner Familie schlimme Sachen angetan.
- …wenn wir in unserer Heimat
Menschenrechte, Demokratie und Frieden gehabt hätten… wären wir
mit unserer Familie und Freunden dort geblieben.
- Jederzeit hätte mir
und meiner Familie etwas zustoßen können.
- …die Regierung erkennt
keine Minderheiten und deren Rechte an. Wer dies fordert, wird terrorisiert,
ermordet und gefoltert.
Diese und ähnliche Äußerungen
(ich habe nicht alle aufgeführt) sind in den Augen des Klagevertreters
geeignet, seinem Mandanten ein Verfahren wegen "Verunglimpfung des Türkentums"
nach Artikel 301 TStG n.F. einzubringen. Um einzuschätzen, wie realistisch
diese Befürchtung ist, sollte zunächst einmal der Gesetzestext
angeschaut werden.
Der Artikel
301 lautet:
1. Die Person, die das Türkentum,
die Republik und die Große Nationalversammlung der Türkei öffentlich
verunglimpft, wird mit Haft zwischen sechs Monaten und drei Jahren bestraft.
2. Die Person, die die Regierung
der Republik Türkei, die Justizorgane des Staates oder die Einrichtungen
des Militärs oder der Polizei öffentlich verunglimpft, wird mit
Haft zwischen sechs Monaten und zwei Jahren bestraft.
3. Wenn die Verunglimpfung
des Türkentums durch einen türkischen Staatsbürger im Ausland
begangen wurde, wird die Strafe um ein Drittel erhöht.
4. Meinungsäußerungen,
die der Kritik dienen, sind nicht als Straftat zu werten.
Es geht demnach nicht nur
um Äußerungen gegen das nicht näher definierte "Türkentum"
(wofür es z.B. im Englischen keine Entsprechung gibt), sondern es
können auch konkrete Institutionen wie die Regierung, die Justiz,
das Militär oder die Polizei gemeint sein.
Ich möchte auch darauf
verweisen, dass der 4. Absatz mit dem Gesetz 4771 vom 9. August 2002 zum
Artikel 159 TStG a.F. hinzugefügt wurde (das war der Vorgänger
von 301). Allerdings war es auch davor schon gängige Rechtspraxis,
d.h. es gab entsprechende Grundsatzurteile, die besagten, dass Äußerungen,
die vom Gericht als reine Kritik bewertet wurden, nicht zu einer Bestrafung
führten. Insofern hat die "neue" Gesetzgebung nicht für mehr
Toleranz gesorgt.
Der Begriff "Verunglimpfung"
ist sicherlich eine gute Übersetzung des türkischen Ausdrucks
"asagilamak", es sollte aber auch auf die Herkunft des Wortes verwiesen
werden. "Asagi" bedeutet "unten" und daher kann der Begriff auch als "Erniedrigen",
"Herabwürdigen" oder ganz allgemein als "Beleidigung" übersetzt
werden. Der Artikel 159 TStG a.F. verwandte die aus dem Osmanischen stammenden
Begriffe "tahkir" (Beleidigung) und "tezyif" (Verhöhnung).
Um zu sehen, was in den Augen
der Gerichte in der Türkei als Verunglimpfung (von Institutionen oder
dem "Türkentum") gesehen wird, möchte ich einige Beispiele aus
der jüngeren Vergangenheit aufführen. Fußnote
02
Urteil
Die 2. Kammer des Amtsgerichts
in Istanbul sprach am 13. September das Urteil im Verfahren gegen Emin
Karaca, Dogan Özgüden und Mehmet Emin Sert im Zusammenhang mit
Artikeln im April 2002 in der Zeitschrift "Sommer in Europa und der Türkei".
Emin Karaca wurde wegen des Artikels "Was uns der 30. Jahrestag in Erinnerung
bringt" (darin hatte er die Hinrichtungen an den Studentenführern
Deniz Gezmis, Yusuf Aslan und Hüseyin Inan kritisiert) zu einer Strafe
von 5 Monaten Haft nach Artikel 301/2 neues TStG (159 altes TStG) bestraft.
Die Haftstrafe wurde in eine Geldstrafe von 900 YTL (neue türkische
Pfund ca. 500 Euro) verwandelt und zur Bewährung ausgesetzt. Das Verfahren
gegen Dogan Özgüden, der im Ausland lebt, wurde abgetrennt. Der
Chefredakteur der Zeitschrift, Mehmet Emin Sert wurde freigesprochen. (Zaman
vom 15.09.2005)
Menschenrechtler und Journalist
vor Gericht
Gegen Ridvan Kizgin, Vorsitzender
des IHD in Bingöl, und gegen 3 Journalisten wurde ein Verfahren wegen
einer Presseerklärung vom 24. September 2004 zu Waldbränden eröffnet.
Ridvan Kizgin und Sami Tam, der Direktor der Nachrichtenagentur Dicle haben
sich wegen "Anzeige einer nicht vorhandenen Straftat" (ehemals Artikel
283 TStG) und die Journalisten Serdar Altan und Birol Duru, die als Überschrift
"Soldaten vernichten die Wälder" formulierten, müssen sich wegen
Beleidigung der Armee (ehemals Artikel 159 TStG) verantworten. Das Verfahren
wird am 13. Juli vor dem Amtsgericht in Bingöl beginnen. (Özgür
Gündem vom 26.06.2005)
Eren Keskin verurteilt
Die 3. Kammer des Amtsgerichts
Kartal hat die Vorsitzende des IHD Istanbul zu einer Haftstrafe von 10
Monaten nach Artikel 301 neues TStG verurteilt. Das Urteil wurde wegen
einer Rede auf einer Veranstaltung der Union alewitischer Frauen in Köln
am 16. März 2002 verhängt. Die Strafe wurde zur Bewährung
ausgesetzt. (Radikal vom 16.03.2006)
Politiker angeklagt
Der Vorsitzende der Partei
der demokratischen Gesellschaft (DTP) in ?stanbul-Eminönü Halil
Do?an wurde wegen einer Rede am 1. April 2006 angeklagt. Er soll den Sicherheitskräften
vorgeworfen haben, bei einem Einsatz in der Provinz Mus, bei dem 14 PKK
Militante ums Leben kamen, chemische Waffen eingesetzt zu haben. Bezogen
auf die Vorfälle, die sich danach in Diyarbakir abgespielt hatten,
soll er auch von Überfällen auf Büros der DTP im Westen
der Türkei gesprochen haben und dabei gesagt haben, dass die Sicherheitskräfte,
die für Ordnung sorgen sollten, die Angreifer ausgezeichnet hätten.
Die Anklage fordert eine Bestrafung nach Artikel 301 TStG, Absatz 1 und
2. (Yeni Safak vom 11.05.2006)
Autor Mustafa Balbal verurteilt
Die 2. Kammer des Amtsgerichts
Beyoglu hat Mustafa Balbal (von der Tageszeitung Cumhuriyet) zu einer Haftstrafe
von 10 Monaten wegen seines Buches "Blutblumen eines gefangenen Generals
am Ararat" verurteilt. In dem Buch soll sowohl die Republik als auch die
Armee beleidigt worden sein. Die Strafe wurde nach den Absätzen 1
und 2 des Artikels 301 neues TStG verhängt. Die Strafe wurde in eine
Geldstrafe von 1.800 YTL verwandelt und zur Bewährung ausgesetzt.
Der Verleger Ahmet Zeki Okcuoglu (Verlag Doz) wurde freigesprochen. (Radikal
vom 09.06.2006)
Politiker angeklagt
Vor der 2. Kammer des Amtsgerichts
Beyoglu musste sich Atilla Kaya, Vorsitzender der Partei der Sozialistischen
Demokratie (SDP) wegen eines Artikels in der Tageszeitung Özgür
Gündem unter verschiedenen Vorwürfen verantworten. Mit ihm angeklagt
sind Chefredakteur Hasan Bayar, Journalist Dogan Iyice und der Besitzer
der Zeitung, Ali Gürbüz. In dem Artikel hatte Atilla Kaya eine
Untersuchung des Vorwurfs gefordert, dass bei der Tötung von 14 Militanten
der PKK in der Provinz Mus chemische Waffen eingesetzt wurden. Der Hauptvorwurf
lautet auf Erniedrigung der Armee (Artikel 301). Die Anklage führt
aber auch den Vorwurf von Rassenhass (Artikel 216) und Propaganda für
eine terroristische Organisation (Artikel 7 des ATG) auf. Das Gericht vertagte
sich auf den 7. März, um dann zu verkünden, ob es sich für
alle Straftatbestände für zuständig hält. (Netzwerk
Bia vom 30.11.2006)
Freispruch wegen Verunglimpfung
Die Staatsanwaltschaft in
Mersin klagte den Vorsitzender der 78er Vereinigung, Ethem Dinçer
wegen einer Presseerklärung mit dem Titel "Die Akte zum Massaker vom
1. Mai 1977 muss geöffnet werden" wegen eines Verstoßes nach
den Artikeln 216/1 und 301/2 TStG an. Die 6. Kammer des Justizgerichts
sprach Ethem Dinçer am 15. Dezember 2006 frei, da der Straftatbestand
nicht erfüllt sei. (Evrensel vom 16.12.2006)
Menschenrechtler verurteilt
Die 1. Kammer des Amtsgerichts
Bingöl hat die Funktionäre des Menschenrechtsvereins IHD, Kiraz
Bicici und Ridvan Kizgin eines Vergehens nach Artikel 301 neues TStG für
schuldig befunden. Die verhängten Freiheitsstrafen von 6 Monaten wurden
in Geldstrafen umgewandelt. Es ging um eine Pressemitteilung vom 24.07.2003
zu Menschenrechtsverletzungen. Das Gericht befand, dass die Sicherheitskräfte
ohne konkrete Beweise beleidigt worden seien. Von der Zweigstelle Bingöl
des IHD wurde im letzten Oktober ein Bericht herausgegeben, der seit 2001
209 Ermittlungen und 51 Verfahren gegen die Filiale auflistete. Im gleichen
Zeitraum hatte die Zweigstelle von 2.354 Verletzungen der Menschenrechte
berichtet, wobei es nur in einem Fall zu einem Verfahren gegen Staatsbedienstete
gekommen war. (Bia vom 21.12.2006)
Erneut Verurteilung nach
Artikel 301
Am 24. Januar beendete
das Amtsgericht Nr. 5 in Diyarbakir das Verfahren gegen den Sprecher
von Kürt-Der in Diyarbakir, Ibrahim Güçlü. Das Verfahren
gegen ihn war wegen einer Rede im August 2005 eröffnet worden, bei
der er über die Tötung von 33 Dorfbewohnern im Kreis Özalp
der Provinz Van auf Befehl von General Mustafa Muglali gesprochen hatte.
Das Gericht verurteilte Ibrahim Güçlü wegen "Beleidigung
des Türkentums und der Türkischen Republik " nach Artikel
301 des TStG zu 18 Monaten Gefängnis. (Milliyet-Yeni Safak vom
25.01.2007)
Verurteilung eines Rechtsanwaltes
in Mersin
Am 27. März beendete
das Friedensgericht Nr. 2 das Verfahren gegen Rechtsanwalt Ali Bozan, ehemaliger
Vorsitzender der DTP in Mersin und ehemaliger Generalsekretär der
Zweigstelle des IHD in Mersin. Das Verfahren war im Zusammenhang mit einer
Presseerklärung von ihm über die Tötung von Ümit Gönültas
bei einer Demonstration am 15. Februar 2005 und Murat Demir am 22. November
2005 eingeleitet worden. Das Gericht verurteilte Ali Bozan wegen "Beleidigung
der Justiz und der Sicherheitskräfte" nach Artikel 301 TStG zu 6 Monaten
Haft. Die Haftstrafe wurde in eine Geldstrafe von 3.600 YTL umgewandelt.
(Güncel, 30.03.2007)
Gerichtsverfahren nach
Artikel 301
Gegen Oktay Avcu wurde ein
Gerichtsverfahren nach Artikel 301 TStG eingeleitet wegen eines Flugblattes,
in dem gegen die Aufnahmeprüfungen für die Universität protestiert
wurde. Der Titel des Flugblattes war "Verhinderung von Bildung ist Verrat
gegenüber dem Land". Das Gerichtsverfahren wird an der 5. Kammer des
Amtsgerichts in Mersin durchgeführt. (Hürriyet, 19.04.2007)
Angeklagter Journalist
Der Prozess gemäß
Artikel 301 TStG, der gegen den Chefredakteur der Zeitschrift "Idea Politika",
Erol Özkoray, wegen der Artikel "Wozu dient die Armee?" und "Die Taliban
- neue Barbaren mit Achselklappen" aus dem Jahr 2001 eröffnet worden
war, kam am 25. April zum Abschluss. Das 2. Landgericht in Sisli beschloss,
den Prozess wegen Verjährung einzustellen. (TIHV vom 26.04.07)
Angeklagter DTP-Funktionär
Der Prozess gegen den ehemaligen
Abgeordneten der Demokratie Partei (DEP) und jetzigen DTP-Kreisvorsitzenden
von Kars, Mahmut Alinak, wegen eines Interviews am 19. Januar 2006 mit
der Zeitung "Ülkede Özgür Gündem", wurde am 2. Mai
beendet. Das 2. Landgericht Beyoglu verurteilte Alinak aufgrund von
"Beleidigung der türkischen Streitkräfte" gemäß Artikel
301, Absatz 2 TStG zu sechs Monaten Haftstrafe. Die Strafe wurde in eine
Geldstrafe von 3000 YTL umgewandelt. (Gündem vom 03.05.07)
Verfahren gegen Staatsanwalt
Der Staatsanwalt in Ankara
eröffnete gegen den ehemaligen Staatsanwalt Mustafa Turhan ein Gerichtsverfahren
nach Artikel 301 TStG. Turhan war von der Höchsten Kommission der
Richter und Staatsanwälte auf Dauer von seinem Beruf ausgeschlossen
worden, nachdem er versucht hatte, eine Waffe zu tragen, die im Depot des
Gerichtes liegen sollte, und er war zu 4 Jahren Haft verurteilt worden.
Dieses weitere Verfahren soll gegen ihn eingeleitet worden sein, weil er
während des Gerichtsverfahrens sagte, er habe nie Vertrauen in die
türkische Gerichtsbarkeit gehabt. (Radikal vom 04.05.2007)
Verurteilung des DTP-Vorsitzenden
von Kars
Am 4. Mai beendete das Amtsgericht
in Ardahan das Verfahren gegen Mahmut Alinak, den DTP-Vorsitzenden von
Kars, das wegen einer Rede von ihm bei der Eröffnung des DTP-Büros
in Ardahan eingeleitet worden war. Das Gericht verurteilte Alinak nach
Artikel 301 TStG zu 10 Monaten Haft. Berichten zufolge wurde Alinak angeklagt,
weil er betonte, dass die Person, die den Anschlag in Semdinli organisiert
hatte, ein Mitglied der Konterguerilla sei, "wir in einem Land der Konterguerilla
leben", der ganze Generalstab, die Staatspräsidentschaft und das Parlament
sich an der Konterguerilla orientierten und der Attentäter vom Staat
geschützt würde. (Milliyet vom 07.05.2007)
Journalist angeklagt
Die Staatsanwaltschaft in
Bakirköy (Istanbul) hat den Journalisten Ahmet ??k zusammen mit Lale
Sar?ibrahimo?lu, mit der er ein Interview führte, das in der Zeitschrift
"Nokta" unter dem Titel "Das Militär muss sich aus der inneren Sicherheit
heraushalten" erschien, angeklagt, gegen Artikel 301 TStG verstoßen
zu haben. (Milliyet vom 23.05.2007)
Leider enthalten nur wenige
dieser Meldungen halbwegs nachvollziehbare Details über die inkriminierten
Äußerungen. Es dürfte z.B. nicht unwichtig sein, in welcher
Form die Hinrichtungen von 3 Studentenführern im Jahre 1972 kritisiert
wurde (siehe 1. Meldung). Wurde von einem "Justizirrtum" oder "Willkürjustiz"
gesprochen und die Justiz "beleidigt", oder wurde die seinerzeit an der
Macht befindliche Militärjunta mit vermeintlich beleidigenden Worten
für die Hinrichtungen verantwortlich gemacht? Klar ist nur, dass nicht
nach Artikel 301/1 TStG n.F. (Verunglimpfung des Türkentums), sondern
nach Artikel 301/2 TStG n.F. (Beleidigung von Institutionen) vorgegangen
wurde.
Etwas konkreter ist das Verfahren
gegen die Journalisten, die in einer Überschrift "Soldaten" beschuldigten,
"Wälder in Brand zu setzen". Dies wird als Verunglimpfung des Militärs
angesehen worden sein. Parallel dazu kann vom Verfahren gegen Eren Keskin
gesagt werden, dass sie die Armee verunglimpft haben soll, weil sie auf
der Veranstaltung in Köln von Soldaten als Vergewaltigern gesprochen
hatte. Dazu die Meldung von der Prozesseröffnung:
Das Staatssicherheitsgericht
Istanbul befasste sich am 20. September zum ersten Mal mit dem Verfahren
gegen die Anwältin Eren Keskin, Vorsitzende des IHD Istanbul im Zusammenhang
mit einer Rede, die sie am 16. März in Köln auf einer Veranstaltung
von alewitischen Frauen hielt. Eren Keskin sagte, dass auf der Veranstaltung
auch die Abgeordnete Sema Piskinsüt und Prof. Dr. Nejla Arat sprachen
und sie angezeigt hätten. Sie hätte nicht gesagt, dass alle Soldaten
Vergewaltiger seien, aber unter den von ihr betreuten Fällen seien
die Täter in 115 Fällen Polizisten und in 34 Fällen Gendarmeriesoldaten
gewesen. Sie habe das Wort "Kurdistan" als geographischen Begriff benutzt,
wie es schon Mustafa Kemal Atatürk getan habe. Das Verfahren unter
dem Vorwurf der Anstiftung zu Hass und Feindschaft (Artikel 312 TStG a.F.)
wurde auf den 27. November vertagt. (Özgür Politika vom 21.09.2002)
Es sollte nicht verwirren,
dass dieses Verfahren zunächst nach einer anderen Strafvorschrift
und vor einem anderen Gericht geführt wurde. Im Endeffekt aber wurde
die Äußerung über Soldaten (der türkischen Streitkräfte),
die kurdische Frauen vergewaltigten, als Verunglimpfung des Militärs
angesehen und Frau Keskin verurteilt, wobei die Strafe zur Bewährung
ausgesetzt wurde.
Erinnert werden sollte auch
an das Verfahren gegen Akin Birdal, den ehemaligen Vorsitzenden des IHD.
Özgür Gündem vom 06.03.2003 berichtete seinerzeit: "Der
Ehrenvorsitzende des IHD und st. Vorsitzende von FIDH Akin Birdal wurde
von der 2. Strafkammer des Landgerichts Ankara vom Vorwurf eines Vergehens
nach Artikel 159 TStG a.F. freigesprochen. Das Verfahren war wegen einer
Rede am 20. Oktober 2000 in Deutschland eröffnet worden, wo Birdal
gesagt haben soll, dass die Türkei sich wegen des Völkermords
an den Armeniern entschuldigen soll. Nachdem lange Zeit ergebnislos nach
dem Reporter der Zeitung Gözcü, der den Artikel verfasst hatte,
gesucht worden war, hat das Gericht nun das Verfahren aus Mangeln an Beweisen
eingestellt."
Mit anderen Worten, Akin
Birdal hätte mit Bestrafung rechnen müssen, wenn der Journalist,
der über die Veranstaltung berichtet hatte, aufgetaucht wäre
und vor Gericht seine Behauptungen bekräftigt hätte.
Unter den Beispielen gibt
es zwei Verfahren, in denen auch der Absatz 1 des Artikels 301 TStG (Verunglimpfung
des Türkentums) zum Tragen gekommen sein soll. Es handelt sich dabei
um das Verfahren von Halil Dogan und das von Ibrahim Güclü. Letzterer
soll dieses Delikt bei einer Rede über ein historisches Ereignis begangen
haben (Strafmaß 18 Monate) und Halil Dogan soll der Armee vorgeworfen
haben, chemische Waffen im Kampf gegen die PKK einzusetzen. In beiden Fällen
kann ich zwar Kritik an den Sicherheitskräften entdecken, aber keine
"Verhöhnung" der Türken allgemein. Ich habe also Zweifel an der
Korrektheit der jeweiligen Nachrichten.
Auffallend an den Meldungen
ist, dass immer wieder Menschenrechtler angeklagt werden, wenn sie
auf Verstöße gegen die Menschenrechte aufmerksam machen. Da
bei den o.a. Beispielen wichtige Details fehlen, habe ich mich im Internet
umgesehen (die sinngemäßen Übersetzungen der gefundenen
Meldungen habe ich angefertigt und verbürge mich als vereidigter Übersetzer
für die Korrektheit). Laut einer Meldung in NTV vom 21.12.2006 Fußnote
03 wurden Kiraz Bicici (seinerzeit Vorsitzende des IHD in Istanbul)
und Ridvan Kizgin (seinerzeit Vorsitzender des IHD in Bingöl) beschuldigt,
auf einer Pressekonferenz in Mus im Jahre 2003 (nachdem der dortige Vorsitzende
des IHD verhaftet worden war, weil er an der Beerdigung eines PKK Militanten
teilnahm), das Militär kritisiert zu haben.
"Yeni Özgür Politika"
beschreibt am gleichen Tag den Hintergrund etwas anders. Fußnote
04 Demnach soll sich Ridvan Kizgin im Jahre 2003 über einen Drohanruf
von jemandem beschwert haben, der sich als Kommandant des Gendarmerieregiments
vorstellte und ihn auf die Kommandantur in Bingöl bestellte. Der IHD
habe daher darauf aufmerksam gemacht, dass in Silopi Personen verschwanden,
nachdem sie zur Gendarmerie gingen. Fußnote 05
Kiraz Bicici war am 27.11.2003 nach Bingöl gegangen und hatte gesagt:
"Wir wissen, was im Hauptquartier der Gendarmerie passiert. Wir wissen,
von wo der 'tiefe Staat' (Staat im Staat) die Morde der Contra-Guerilla
anleitet."
Ich halte die letzte Meldung
für korrekt, d.h. eine Verurteilung erfolgte, weil die Gendarmerie
(als Teil des Militärs) wegen Morden ("Verschwindenlassen") an Zivilisten
beschuldigt wurde.
Die Vorwürfe gegen Mamut
Alinak, wegen der er in Ardahan verurteilt wurde, beziehen sich auf die
Unterordnung des Staatspräsidenten, des Parlaments und des Generalstabs
unter die "Contra-Guerilla" (den so genannten "tiefen Staat").
Somit
bliebe an diesem Punkt festzuhalten, dass es Gerichte als "Verunglimpfung
der Armee" ansehen, wenn von Soldaten oder der Gendarmerie im Zusammenhang
mit Gesetzesübertretungen wie politischen Morden oder Vergewaltigungen
gesprochen wird. Schon der als unwahr eingestufte Vorwurf, dass chemische
Waffen eingesetzt wurden, kann zu einer Anklage führen. Darüber
hinaus ist eine Beleidigung der Justiz, wenn von "Misstrauen in die Gerichtsbarkeit"
gesprochen wird. Ebenso kann das Parlament verunglimpft worden sein, wenn
unterstellt wird, dass es unter "Befehl" der "Contra-Guerilla" steht.
Es sollte aber auch erwähnt
werden, dass nicht jede Art der "Unterstellung" bestraft wird. Ethem Dincer
wurde vom Vorwurf unter Artikel 301 TStG (gleichzeitig noch Art. 216 TStG
n.F. - Aufstachelung zu Rassenhass) freigesprochen, obwohl er die Vorkommnisse
auf dem Taksim-Platz in Istanbul am Tag der Arbeit, dem 1. Mai 1977, ein
"Massaker" genannt hatte. Er wird aber nicht das Militär oder die
Polizei beschuldigt haben, durch Schüsse in die Menge der demonstrierenden
Gewerkschafter (ca. eine halbe Million) den Tod von mehr als 30 Menschen
verursacht zu haben. Die bis heute unbestraften Täter werden allgemein
dem "Staat im Staate" zugerechnet.
Auf den
umstrittenen Straftatbestand der "Verunglimpfung des Türkentums" möchte
ich anhand des ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink eingehen.
Fußnote 06 Der inkriminierte Artikel von Hrant
Dink in dem von ihm herausgegebenen Journal "Agos" wurde in Radikal vom
20.01.2007 wiedergegeben. Der für die Verurteilung wichtige Satz steht
am Anfang: "Das giftige Blut, das einem Türken entströmt, wird
durch reines Blut ersetzt, das in der eigentlichen Ader, die die Armenier
mit Armenien herstellen werden, existiert."
Was Hrant Dink mit dem "giftigen
Blut" meinte, geht aus dem Gutachten zu seiner Artikelserie hervor. Aus
dem Gutachten zitierte Radikal vom 10.10.2005: "Zwischen dem 7. November
2003 und dem 13. Februar 2004 erschienen 8 Schriften des Angeklagten zur
armenischen Identität… Aus ihnen folgt, dass die Ereignisse von 1915
in den Augen des Angeklagten ein Völkermord waren… Die Armenier müssen
sich von dem türkischen Element in ihrer Identität befreien…
Um eine Straftat zu sein, hätte die Aussage des giftigen Blutes auf
die Türken bezogen sein müssen und nicht das türkische Element
in der armenischen Identität… Mit dem 'giftigen Blut' meint der Angeklagte,
dass die Armenier sich von dem falschen Verständnis befreien müssen,
die gemeinsame Existenz stets von einer Einschätzung der Ereignisse
von 1915 abhängig zu machen. Es ist keine Aussage gegen die Türken
oder das Türkentum."
Die Gutachter waren zu dem
Schluss gekommen, dass kein Verstoß gegen den Artikel 159 TStG a.F.
(bzw. 301 TStG n.F.) vorliege. Dennoch wurde der Schuldspruch des Gerichts
in Istanbul gegen Hrant Dink vom Kassationshof bestätigt. Genauer
gesagt, bestätigte die 9. Kammer des Kassationshofs das Urteil des
Amtsgerichts Sisli (Istanbul) vom 07.10.2005 mit Urteil vom 01.05.2006
(es wurden lediglich ein paar Formfehler bemängelt). Dagegen legte
der oberste Staatsanwalt am Kassationshof Einspruch ein, so dass die Kammerversammlung
(Hauptversammlung aller Strafkammern) zusammentreten musste. Hier erging
das Urteil am 11.07.2006. Fußnote 07
Das Urteil der Kammerversammlung
des Kassationshofs ist deswegen so lang, weil neben dem Urteil der 9. Kammer
auch die recht lange, aber sehr aufschlussreichen Begründungen von
Richtern mit abweichender Meinung und die des Staatsanwaltes zur Aufhebung
des Urteils zitiert wird (sie datiert vom 01.05.2006).
Dabei machte der Staatsanwalt
auf die Artikel 25 und 26 der Verfassung zur Meinungsfreiheit und Artikel
28 zur Pressefreiheit aufmerksam. Unter Hinweis auf Artikel 90 der Verfassung,
der (gültigen) internationalen Normen Vorrang vor nationalem Recht
einräumt, wurde neben Artikel 19 des Internationalen Pakts über
bürgerliche und politische Rechte auch Artikel 10 der Europäischen
Menschenrechtskonvention zitiert. Wichtig sind die vom Staatsanwalt genannten
Normen, die sich sowohl aus dem Gesetzestext (Kritik ist nicht strafbar)
als auch einer Reihe von Grundsatzurteilen ergeben.
Daraus ergibt sich u.a. das
Prinzip: Beiträge (Artikel) müssen immer im Zusammenhang betrachtet
werden. Fußnote 08 Allerdings sollten Worte,
die in einem Gespräch als Beschimpfung gelten, nicht als Kritik gelten,
wenn sie in einer Kolumne verwandt werden (Urteil der Kammerversammlung
vom 15.06.1999).
Der Staatsanwalt hatte auch
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
(EGfMR) zitiert, wonach z.B. mehr Toleranz bei Kritik einer Regierung im
Unterschied zu einer Privatperson gefordert wird. Der Staatsanwalt räumte
ein, dass die inkriminierte Äußerung von Hrant Dink eine polemische
Verfremdung des von Atatürk bekannten (geflügelten) Wortes "die
Energie, die du brauchst, wirst du in dem echten Blut deiner Adern finden"
sei und verwies auf 2 mögliche Auslegungen: a) es seien die Adern
und das Blut der Türken gemeint oder b) es sei das türkische
Element in der Persönlichkeit der Armenier (türkische Staatsbürger
armenischer Abstammung) gemeint.
Sodann hatte er ausführlich
dargelegt, warum nicht nur in den Worten des Angeklagten sondern auch objektiv
nur die 2. Interpretation möglich sei.
Das begründete Urteil
der Kammerversammlung beginnt auf Seite 13 und geht bis Seite 22. Fußnote
09 Ähnlich wie der Staatsanwalt zitiert auch das Urteil zuerst
die nationalen und internationalen Normen, ohne allerdings auf Grundsatzurteile
oder Entscheidungen des EGfMR einzugehen. Ein Schwerpunkt wurde auf die
Grenzen der Meinungsfreiheit gelegt.
Das Urteil präsentiert
eine Zusammenfassung der Artikelserie, um darzulegen, dass die Äußerung
nicht aus dem Zusammenhang gerissen und beurteilt wurde. Dann aber wurde
festgestellt, dass man sich der Ansicht, dass sich das "vergiftete Blut"
auf das türkische Element der Armenier beziehe und eine "Abart" sei,
die eine vernünftige armenische Persönlichkeit verhindere, nicht
anschließen könne, zumal der Autor bei den Türken von "Paranoia"
und bei den Armeniern von einem "Trauma" spreche.
Es sei klar, dass das "giftige
Blut" aus niederen Gründen zur Verhöhnung der Türken benutzt
wurde. Zu diesem Schluss komme man, wenn man die Zeitschrift, in der der
Artikel erschien, den Autor, die angesprochene Leserschaft und deren Auffassung
dieser Wörter betrachte. Die armenische Gemeinschaft sei glorifiziert
und die türkische Gemeinschaft sei erniedrigt worden und das könne
nicht im Rahmen der Meinungsfreiheit und als Kritik ausgelegt werden.
Ich bin auf diesen Fall ausführlicher
eingegangen, weil an der obersten Rechtssprechung deutlich werden dürfte,
inwieweit abweichende Meinungen in der Türkei geduldet werden.
An
dieser Stelle bliebe (ungeachtet dessen, was Hrant Dink wirklich meinte)
festzuhalten, dass eine pauschale Herabwürdigung der Türken mit
einer Feststellung wie "sie haben falsches oder giftiges Blut in den Adern"
zu einer Verteilung nach Artikel 301/1 TStG n.F. führen kann.
Wie
an den Beispielen von Eren Keskin und Atilla Kaya gesehen werden konnte,
gibt es nach dem Fortfall des Artikel 8 ATG (Separatismuspropaganda) auch
die Möglichkeit, unliebsame Äußerungen zur Kurdenfrage
nach Artikel 216 TStG n.F. (Artikel 312/2 TStG a.F.), d.h. wegen Aufstachelung
zum Rassenhass Fußnote10 zu bestrafen. Das Strafmaß
liegt zwischen 1 und drei Jahren Haft. Beispiele für solche Verfahren
aus der letzten Zeit sind: Fußnote 11
Zaman vom 03.03.2005
Journalist inhaftiert
Sami Cebeci von der Zeitung
"Yeni Asya" wurde am 2. März in Ankara verhaftet. Gegen ihn soll eine
20-monatige Strafe, die er aufgrund eines Artikels nach dem Erdbeben vom
17. August 1999 erhalten hatte, bestätigt worden sein, obwohl er nach
den Änderungen des Artikel 312 TStG das Recht auf eine erneute Verhandlung
gehabt hätte.
Am Folgetage meldete Milliyet
seine Freilassung. Ihm war anscheinend weder das Urteil zugestellt worden,
noch hatte er eine Aufforderung erhalten, seine Haftstrafe anzutreten.
Bia (Netzwerk) vom 16.02.2006
Journalist verurteilt
Das Urteil der 11. Kammer
des Landgerichts Istanbul vom 9. Dezember 2005 wurde der Zeitung jetzt
erst zugestellt. In dem Revisionsverfahren verurteilte das Gericht den
Journalisten Sami Cebeci zu 15 Monaten Haft. Er soll mit seinem Kommentar
zum Erdbeben vom 17.09.1999 als "heilige Warnung" die Bevölkerung
zu Hass und Feindschaft aufgestachelt haben. Das Verfahren war unter Artikel
312 altes TStG eröffnet worden und ging unter Artikel 216 neues TStG
weiter. Zuvor war der Journalist wegen der Artikel zu 20 Monaten Haft verurteilt
worden. Bis zum Ende seiner Strafhaft wurden dem Journalisten auch seine
bürgerlichen Rechte entzogen. In einem ähnlich gelagerten Fall
hatte die 2. Kammer des Amtsgerichts den Journalisten Cemil Tokpinar im
Revisionsverfahren zu einer Geldstrafe von 7.300 YTL verurteilt.
Cumhuriyet vom 14.06.2005
Journalist vor Gericht
Die 14. Kammer des Landgerichts
in Istanbul verurteilte den Journalisten Selahattin Aydar von der Tageszeitung
"Milli Gazete" zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten. In seinem Artikel
"Wir sollten uns der Kinder annehmen", der am 11. September 2001 erschienen
war, sah das Gericht einen Verstoß gegen den alten Artikel
312 TStG. Dieses Verfahren hatte zu einer Entscheidung der Kammerversammlung
des Kassationshofes mit 14:13 Stimmen gegen eine Verurteilung geführt.
Nun hat sich die Kammerversammlung erneut mit dem Urteil auseinander zu
setzen.
Bia (Netzwerk) vom 18.10.2005
Journalist verurteilt
Die 2. Kammer des Amtsgerichts
Bagcilar hat Cemil Tokpinar, Journalist in der Zeitung Yeni Asya zu einer
Strafe von einem Jahr Haft nach Artikel 216 neues TStG (312 altes TStG)
verurteilt. In einem Artikel hatte er das Erdbeben vom 17. August 1999
als Warnung Gottes bezeichnet. Sein Anwalt Ömer Faruk Ünsal sagte,
dass Cemil Tokpinar wegen dieses Artikels im Jahre 2001 vom SSG Istanbul
zu 20 Monaten Haft verurteilt worden war, die 8. Kammer des Kassationsgerichtshof
am 29. April 2004 das Urteil aber aufgehoben habe, weil sich der Artikel
im Bereich von Kritik bewegt habe. Die Haftstrafe wurde in eine Geldstrafe
von 7.300 YTL verwandelt.
Özgür Gündem
vom 31.12.2005
Anwalt angeklagt
Die Staatsanwaltschaft in
Beyoglu hat den Anwalt Hasip Kaplan wegen Aufstachelung zu Rassenhass nach
Artikel 216/1 und 218 neues TStG angeklagt. Grund ist sein Auftritt im
Fernsehsender Flash TV am 30. Mai.
Yeni Safak vom 17.03.2006
Besitzer von Yeni Asya
verurteilt
Die 11. Kammer des Landgerichts
Ankara hat den Besitzer der Tageszeitung "Yeni Asya", Mehmet Kutlular zu
18 Monaten Haft verurteilt. Das Verfahren war im Zusammenhang mit einer
Rede angestrengt worden, in der Mehmet Kutlular das Erdbeben vom 17.08.1999
als Strafe für die Ungläubigen bezeichnet hatte. Das SSG Ankara
hatte ihn deshalb am 9. Mai 2000 zu 2 Jahren Haft verurteilt. Die 8. Kammer
des Kassationsgerichtshofs hatte die Strafe am 16.01.2001 bestätigt.
Aufgrund von Veränderungen am Artikel 312 altes TStG kam es zu einer
erneuten Verhandlung, in der das SSG Ankara ihn erneut zu gleicher Strafe
verurteilte. Danach verbrachte Kutlular 276 Tage im Gefängnis. Nachdem
der Artikel 312 altes TStG durch den Artikel 216 neues TStG ersetzt wurde,
war das jetzt beendete Verfahren eingeleitet worden.
Radikal vom 11.05.2006
Journalist verurteilt
Die 2. Kammer des Amtsgerichts
Bakirköy hat den Journalisten Mehmet Sevket Eygi von der "Milli Gazete"
zu einer Strafe von 1 Jahr Haft verurteilt. In einem Artikel vom 20.03.2005
mit dem Titel "Es gibt keine Anstrengung und kein Ehrgefühl mehr"
soll er die Bevölkerung zu Hass und Feindschaft aufgestachelt haben
(Artikel 216 neues TStG). Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
Özgür Gündem
vom 24.06.2006
Bürgermeister und
Journalist angeklagt
Die Staatsanwaltschaft in
Diyarbakir hat den Bürgermeister Osman Baydemir und den Journalisten
Cemal Subasi von der Zeitschrift Tempo wegen eines Artikels vom 14. Januar
angeklagt. In diesem Artikel hatte Osman Baydemir sich gegen die Isolationshaft
von Abdullah Öcalan gewandt und darauf hingewiesen, dass er in bestimmten
Kreisen einen großen Einfluss habe. Die Anklage fußt auf Artikel
216/2 TStG (öffentliche Verunglimpfung eines Teils der Bevölkerung)
und Artikel 218 TStG (höhere Strafe, wenn Straftat durch die Medien
begangen wird).
Cumhuriyet vom 29.08.2006
Historikerin vor Gericht
Die Staatsanwaltschaft von
Beyoglu hat Muazzez Ilmiye Cig, eine führende Historikerin zur Erforschung
der Sumerer, und den Verleger Ismet Ögütücü vom Verlag
"Zeitalter und Analyse" wegen des Buches "Meine Reaktionen als Bürgerin"
unter Artikel 216/2 neues TStG (öffentliche Verunglimpfung eines Teils
der Bevölkerung) angeklagt. In dem Buch sind Briefe abgedruckt, die
sie an den damaligen Bürgermeister von Istanbul, Recep Tayyip Erdogan
geschrieben hat, und Artikel, die sie 1997 veröffentlichte. Frau Cig
sagte u.a., dass bei den Sumerern die Prostituierten ihr Angesicht verhüllten,
während es im Islam eingeführt wurde, als die vielen Frauen und
Töchter des Propheten bemerkt wurden.
Cumhuriyet vom 01.11.2006
Historikerin freigesprochen
Am 1. November sprach das
Amtsgericht Beyoglu die Expertin der Sumerologie, Muazzez Ilmiye Cig (93)
wegen ihres Buchs "Reaktionen als Bürgerin" frei.
TIHV vom 05.03.2007
Verleger verurteilt
Am 28. Februar verurteilte
die 2. Kammer des Amtsgerichtes Beyoglu (Istanbul) Ahmet Önal, den
Besitzer des Verlages Peri, im Zusammenhang mit dem Buch "Ein kurdischer
Geschäftsmann: Hüseyin Baybasin"" von Murat Baksi nach Artikel
312 des früheren TStG zu 1 Jahr und 8 Monaten Haft.
Gündem-Milliyet vom
08.05.2007
Gerichtsverfahren gegen
DTP-Bürgermeister
Gegen Aydin Budak, den Bürgermeister
von Cizre (Sirnak) von der DTP, wurde im Zusammenhang mit seinen Reden
und Verlautbarungen zwei Verfahren eingeleitet. Der Staatsanwalt in Cizre
leitete Verfahren gegen ihn ein im Zusammenhang mit seinen Verlautbarungen
nach der Festnahme von 31 Frauen nach den Demonstrationen am Frauentag
am 8. März und den Newroz-Feiern am 21. März. Die Anklage fordert
eine Verurteilung zu 7 Jahren und 6 Monaten nach Artikel 215 TStG wegen
"Lobens einer Straftat und eines Straftäters" und nach Artikel 216/1
wegen "Aufstachelung zu Hass und Feindschaft". Der Staatsanwalt in
Diyarbakir leitete wegen der gleichen Äußerungen nach Artikel
7/2 Anti-Terror-Gesetz wegen "Propaganda für eine illegale Organisation"
ein Verfahren ein. Das erste Verfahren beginnt am 8. Mai am Amtsgericht
Cizre, das zweite am 17. Mai am Landgericht Nr. 5 in Diyarbakir.
Gündem vom 09.05.2007
Bei der Gerichtsverhandlung
am 8. Mai am Amtsgericht in Cizre beschloss das Gericht die Freilassung
von Bürgermeister Aydin Budak. Da Budak im Zusammenhang mit dem Verfahren
am Landgericht in Diyarbakir (wegen der gleichen Rede) in Untersuchungshaft
ist, wurde er nicht freigelassen.
Atilim vom 24.05.2007
Schriftsteller verurteilt
Die 2. Kammer des Amtsgerichts
Fatih (Istanbul) hat am 23. Mai den Schriftsteller Mehmet Pamak für
sein Buch "Kemalismus, Laizismus und Märtyrerwesen" zu einer Haftstrafe
von 15 Monaten verurteilt. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
Gegen den Verleger Hamza Türkmen wurde keine Strafe verhängt.
Zunächst einmal sollte
erwähnt werden, dass der Artikel 312 TStG mit dem Reformpaket Nr.
1 (dem Gesetz 4744) vom 06.02.2002 verändert wurde. Strafbar sollen
seitdem nur noch öffentliche Äußerungen sein, die eine
Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen. Der Artikel 216
TStG vom 01.06.2005 formuliert diese Bedingung als "offene und nahe Gefahr
für die öffentliche Sicherheit". Dies kann durchaus als Schritt
in Richtung auf mehr Meinungsfreiheit bewertet werden. Hoffnungen in diese
Richtung keimten nach Urteilen des Kassationshofs im Jahre 2004 und Anfang
2005 auf.
Nach
einem "westlichen" Verständnis könnten die aus religiösen
Beweggründen gemachten "Feststellungen" vielleicht als "geistige Verwirrung"
ausgelegt werden, aber die herrschende Elite (zu der auch die obersten
Richter zu zählen sind) sieht darin eine Gefährdung der Errungenschaften
von Mustafa Kemal Atatürk. Die Entscheidung für Straffreiheit
von Selahattin Aydar war mit 14:13 Stimmen sehr knapp. Ihr folgte ca. einen
Monat später ein deutliches Votum für die Bestrafung von Mehmet
Sevki Eygi. Hierzu die folgenden Meldungen:
Radikal vom 05.02.2005
Kassationsgerichtshof
zur Meinungsfreiheit
Die Kammerversammlung des
Kassationsgerichtshofs hat mit einer Mehrheit von 14 gegen 13 Stimmen ein
Urteil der 8. Kammer aufgehoben. Die 8. Kammer hatte die Verurteilung des
Journalisten Selahattin Aydar von der "Milli" Zeitung über 20 Monate
Haft nach Artikel 312 TStG bestätigt. Hier Auszüge aus der Begründung
der Kammerversammlung:
"Die Grenzen der Meinungsfreiheit
können mit nationalen oder internationalen Normen gezogen werden.
Meinungsfreiheit gehört zu den Bedingungen für die Entwicklung
des Einzelnen und der Gesellschaft. Der Artikel 312 TStG dient der Abwehr
einer Gefahr, wobei die objektiven Kriterien für die Schaffung von
Feindschaft und Hass nicht aufgeführt sind. Als Mindestbedingung sollten
verschiedene Bevölkerungskreise gegeneinander aufgehetzt werden. Mit
dem Artikel 216 im neuen Strafgesetz wurde die Bedingung der "offensichtlichen"
und "nahen" Gefahr hinzugefügt. Die Inhaftierung von Personen, die
eine Ansicht äußern, hat in der Geschichte nicht dazu geführt,
dass von diesen Ansichten Abstand genommen wird. Im Gegenteil gereichte
dies zu mehr Interesse für die Gedanken und auch aus Mitleid mit dem
Betroffenen zur Zunahme der Personen, die solche Meinungen teilten. Es
sollte eine öffentliche Ordnung gebildet werden, die mehr Toleranz
entwickelt und gewaltfreie Gedanken fördert. Sekularismus (Laizismus)
ist nicht ungeschützt, obwohl der entsprechende Artikel 163 TStG abgeschafft
wurde. Dazu ist Bestrafung nicht die Voraussetzung.
Der Journalist Selahattin
Aydar hatte in seinem Artikel mit der Überschrift "Nehmen wir uns
der Kinder an" von ideeller Folter an Gläubigen und Behinderung der
Koranschulen gesprochen. Die Ungläubigen hätten die Jugend an
den Schulen und Universitäten vom Glauben entfernt und das Tragen
des Kopftuches unterbunden. Es gebe aber einen Tag nach jeder Nacht und
die Nation werde einen Frühling nach dem Winter erleben. Dann würden
diejenigen, die Kinder und Jugendlichen vom Koran und Islam fernhielten,
in Schande fallen.
Milliyet vom 16.03.2005
Strafe gegen Journalisten
bestätigt
Die Kammerversammlung des
Kassationsgerichtshofes hat die Strafe gegen den Journalisten Mehmet Sevki
Eygi und den Chefredakteur der "Milli Gazete", Selami Caliskan wegen des
Artikels "Terror von Religionsfeindschaft" vom 15.11.2000 mit einer Mehrheit
von 24:4 Stimmen bestätigt. Das Staatssicherheitsgericht Istanbul
hatte einen Verstoß gegen Artikel 312 gesehen und am 9. Oktober 2002
eine Strafe von 20 Monaten gegen Mehmet Sevki Eygi verhängt. Die Strafe
war nicht in eine Geldstrafe verwandelt worden, da das Gericht davon ausging,
dass der Angeklagte wieder straffällig werden könne. Die Strafe
des Chefredakteurs war in eine Geldstrafe von 1,8 Milliarden TL verwandelt
worden. Im September 2004 war das Urteil von der 8. Kammer des Kassationsgerichtshofes
aufgehoben worden, weil der Text des Artikels nicht zur Gewalt aufrief
und daher keine konkrete Gefahr bestehe.
Dieses Urteil wurde in der
türkischen Presse diskutiert. Adnan Keskin von der Tageszeitung "Radikal"
griff das Thema (vermutlich anhand von Protokollen der Sitzung) auf. Das
begründete Urteil wird erst nach einiger Zeit veröffentlicht.
Am 17.03. schrieb Adnan Keskin u.a.:
Im letzten Monat hob die
Kammerversammlung des Kassationsgerichtshofes das Urteil gegen den Journalisten
Selahattin Aydar von der Zeitung "Milli Gazete", der nach Artikel 312 TStG
verurteilt worden war, auf. Nun wurde vorgestern ein Urteil gegen einen
anderen Journalisten von der gleichen Zeitung bestätigt. Osman Arslan,
der Vorsitzende des Kassationsgerichtshofes, wollte sich nicht dazu äußern,
welches dieser Urteile richtungweisend sein wird. An beiden Urteilen wirkten
insgesamt 12 Mitglieder mit. 8 von ihnen votierten beide Male gleich (jeweils
vier für eine Verurteilung und 4 für Freispruch). Vier Mitglieder
aber entschieden sich dieses Mal anders, d.h. für eine Bestrafung.
Bei der Urteilsfindung soll auch die Rolle, die Eygi beim "Blutigen Sonntag"
im Jahre 1969 spielte, berücksichtigt worden sein. Damals fanden anti-amerikanische
Demonstrationen statt und er schrieb in der Zeitung "Bugün" gegen
Kommunismus und rief zum heiligen Krieg auf.
Am 18.03.2005 schrieb Adnan
Keskin u.a.: Das jüngste Urteil der Kammerversammlung des Kassationsgerichtshofes
bringt neue Dimensionen zur Meinungsfreiheit. Im letzten Monat hatten die
Richter entschieden, dass Gedanken nicht bestraft werden können, wenn
sie nicht zur Gewalt anstacheln oder aufrufen. Nun aber wurden neue Kriterien
geschaffen, die z.B. besagen: "Kein Gedanke ist verboten, nur die Art und
Methode, wie er geäußert wird. Verbotene Formen der Meinungsäußerung
sind in der Konvention zu Menschenrechten erläutert. In den Urteilen
des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes sind dies Hass, Beleidigungen,
Rassismus und Terrorismus… Laizismus ist unser Staatssystem, d.h. es ist
unsere offizielle Ideologie. Aufgrund der gesellschaftlichen Struktur und
Geschichte unseres Landes können Anhänger auch ohne Druck und
Gewalt gefunden werden. Sollte man bei der Äußerung von undemokratischen
Meinungen das Element von Gewalt oder Aufruf zur Gewalt suchen, so würde
das bedeuten, das System ungeschützt zu lassen und Gedanken, die das
verfassungsmäßige System und Existenz beseitigen, in die Arme
schließt… Gedanken, die leicht Anhänger finden und Funken in
die Gesellschaft werfen, sind eine offene und nahe Gefahr."
Fast "folgerichtig" nach
dem Urteil vom März 2005 ist es weiterhin zu Bestrafungen unter Artikel
312/2 TStG a.F. (Artikel 216 TStG n.F.) gekommen, ohne dass (zumindest
für mich) eine "offene und unmittelbare Gefährdung der öffentlichen
Sicherheit" erkennbar wäre. Die erneute Verurteilung von Selahattin
Aydar durch die 14. Kammer des Landgerichts Istanbul (vormals die 4. Kammer
des SSG Istanbul) wurde im März 2007 durch die Kammerversammlung wohl
aufgehoben, aber nur, weil hierfür nicht mehr die Sondergerichte zuständig
sind, und nicht weil erneut die Meinung vertreten wurde, dass Herr Aydar
freizusprechen sei.
Etwas Positives gibt es zu
dem Verfahren gegen den Anwalt Hasip Kaplan (er vertritt viele Kurden vor
dem EGfMR) zu vermelden. Er wurde am 8. Juni 2006 von der 2. Kammer des
Amtsgerichts Beyoglu freigesprochen, nachdem auch der Staatsanwalt die
Meinung vertreten hatte, dass die Äußerungen von Herrn Kaplan
im Fernsehen nach der EMRK kein Vergehen darstellten. Fußnote
12
Vom Verfahren gegen Osman
Baydemir, Bürgermeister von Diyarbakir, ist ebenfalls positiv zu vermelden,
dass er im April dieses Jahres freigesprochen wurde. Fußnote
13
Zum Verleger Ahmet Önal
haben seine Anwälte eine Übersicht über seine Verfahren
angefertigt. Sie ist auf den Internet Seiten des kurdischen Instituts in
Brüssel zu finden. Zu dem unter den Beispielen aufgeführten Verfahren
steht aber keine aktualisierte Information zur Verfügung (lediglich
der Verlauf bis zum Urteil). Auch sonst habe ich neben weiteren Stellen,
an denen die Verfahren aufgelistet sind (26, von denen 8 noch andauern)
keine Einzelheiten zu diesem spezifischen Verfahren gefunden.
Nach einer Meldung bei Bianet
soll Aydin Budak, der Bürgermeister von Cizre, bei der Newroz-Veranstaltung
in Kurdisch "Lang lebe Newroz" und "Gruß nach Imrali" (wo Abdullah
Öcalan inhaftiert ist) gesagt haben. Fußnote
14
Über das Verfahren gegen
den Schriftsteller Mehmet Pamak verrät uns die Internetseite "haksoz.net"
etwas mehr. Fußnote 15 Hier wird von der Verhandlung
am 26.04.2006 berichtet, in denen der Angeklagte mit 21 Seiten seine Argumente
gegen die Anklage vorbrachte und 11 Seiten Anhang dem Gericht übergab.
In seiner Verteidigung beschuldigte
der Angeklagte den Staatsanwalt, keine Beweise für die Vorwürfe
gegen ihn aufgeführt zu haben. Es seien lediglich ein paar Sätze
mit 57 Worten aus dem Buch zitiert worden. Dennoch könne er (der Angeklagte)
angesichts der unzähligen Hinrichtungen ohne Urteil und Ungerechtigkeiten
froh sein, dass gegen ihn immerhin eine Anklageschrift verfasst wurde.
In seinem Buch habe er den
Despotismus der kemalistischen Ideologie und das System kritisiert, dass
Freiheiten einschränkt, sich in die Justiz einmischt, die Rechtssprechung
zur Willkür mache und islamische Begriffe missbrauche. Er wies den
Tatvorwurf von sich und sagte, dass seine Aussagen keine Gewalt oder bevorstehende
Gefahr darstellten.
Der Staatsanwalt wiederum
vertrat die Meinung, dass in dem Buch gesagt werde, dass der Kemalismus
mit Blut aufgebaut wurde, sich mit Blut seit 80 Jahren aufrecht halte und
in dieser Zeit die Kurden, die Gläubigen und Armen unterdrückt
habe. Deshalb beantragte er eine Verurteilung, von der im Falle des Verlegers
abgesehen werden könne, weil der Autor bekannt sei. Das Gericht beschloss,
die Akte an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten, um zu prüfen, ob
der Angeklagte die Grenzen der Verteidigung überschritten und gegen
andere Strafvorschriften verstoßen haben könnte. Das Verfahren
wurde auf den 20. September 2006 vertagt.
Ende Mai des letzten Jahres
wurde Mehmet Pamak in Essen festgenommen. Die Organisation für Würde
und Rechte des Menschen e.V. schrieb dazu u.a.:
"Der zu unserer Podiumsveranstaltung
'Islamfeindlichkeit im Westen und die Verantwortung der Muslime'? am 04.06.06
aus der Türkei eingeladene Mehmet Pamak wurde am 31.05.06 mit dem
Gründungsmitglied unseres Vereins, Herrn Yalcin Icyer, im Rahmen eines
Polizeieinsatzes gemeinsam auf das Polizeipräsidium in Essen abgeführt.
Der Durchsuchungsbeschluss
des Amtsgerichts Essen vom 13.4.2006 erlaubte die Durchsuchung der Wohnräume
einschließlich Keller und Dachboden… Auch in den Raum, in dem unser
Gastredner Herr Pamak schlief und überhaupt nicht vom Durchsuchungsbefehl
erfasst war, seien Polizisten eingedrungen, hätten ihn sehr erniedrigend
behandelt (und) seine privaten Sachen… sichergestellt.
Als Vorwand für diese
brutale Vorgehensweise habe man Volksverhetzung durch die Veröffentlichung
eines Textes auf der Internetseite des Vereins angegeben, wonach Gott darum
gebeten worden sei, die Amerikaner, Russen und Juden, die gegen den Islam
Krieg führen, zu vernichten." Fußnote 16
Mir ist nicht bekannt, ob
Mehmet Pamak auch in Deutschland strafrechtlich belangt worden ist, aber
schließlich ist der Artikel 130 StGB in seinem Wortlaut dem Artikel
126 TStG sehr ähnlich. Der Unterschied der Strafvorschriften liegt
vermutlich in der Zielsetzung. War (und ist) der Artikel 130 StGB vor allem
gegen NS-Propaganda gerichtet, so soll der Artikel 126 TStG n.F. vor allem
die als "reaktionär" (irtica) beschriebenen extrem religiösen
Strömungen und den "Separatismus" (bölücülük)
"bekämpfen". Vor allem die militärische Führung in der Türkei
hält beide Elemente für gefährlich, bzw. wird die "Reaktion"
häufig als noch gefährlicher eingeschätzt, als die einen
bewaffneten Kampf führenden "Separatisten".
An
dieser Stelle bliebe festzuhalten, dass der Artikel 312/2 TStG a.F. (216
TStG n.F.) vorwiegend gegen missliebige Äußerungen von Personen
eingesetzt wird, die offiziell als "religiöse Fanatiker" angesehen
werden. In gewisser Weise auch als "Ersatz" zum Vorwurf der Separatismuspropaganda
wurde (und wird) der Artikel auch gegen kurdische Aktivisten eingesetzt.
Nach der Gesetzesänderung vom Februar 2002 scheinen diese Verfahren
vorwiegend mit Freispruch zu enden.
Gespannt darf man dabei auf
den Ausgang eines Verfahrens in Diyarbakir sein. Vor der 7. Kammer des
Amtsgerichts Diyarbakir sind Ibrahim Güçlü, Seyhmus Aykol
und Halis Nezan angeklagt. Sie hatten am 3. April 2005 auf einer Veranstaltung
des inzwischen verbotenen Kurdischen Vereins Kürt-Der von Diyarbakir
zum Andenken an die kurdischen Führer der Republik Mahabad, die am
31. März 1947 hingerichtet wurden, gesprochen. Die Anklage beruht
auf Artikel 216 TStG. Der Prozess begann im Jahre 2006 und wurde 2007 mit
Verhandlungen im Februar und April fortgeführt. Der Angeklagte Ibrahim
Güclü hat mehrfach deutlich gemacht, dass er seine Verteidigung
nur in Kurdisch vorbringen werde.
Vor
einer näheren Betrachtung der Äußerungen des Klägers
im Lichte der hier aufgeführten Beispiele sollte ich noch auf die
"Gefährlichkeit" von Auftritten bei Roj TV eingehen. Fußnote
17
Özgür Gündem
vom 03.12.2005
Strafe wegen Interview
mit Roj TV
Das Amtsgericht von Siirt
hat am 27. November den ehemaligen Vorsitzenden der Demokratischen Volkspartei
(DEHAP) für den Zentralkreis in Siirt, Sükrü Oguz zu einer
Geldstrafe von 740 YTL verurteilt. Grund war eine Rede im Fernsehsender
Roj TV, wo er sich mit den Worten "es sollen weder die Mütter der
Soldaten noch die der Guerillas weinen" gegen den Krieg gewandt hatte.
Darin sah das Gericht das "Loben eines Schuldigen und einer Straftat mittels
der Presse". Die Strafe wurde nach den Artikeln 215 und 218 TStG verhängt.
ANF (Nachrichtenagentur Firat)
vom 13.12.2005
Politiker verhaftet
Sabahattin Suvagci, bis
zu ihrer Auflösung Vorsitzender der DEHAP in der Provinz Hakkari,
wurde am 12. Dezember verhaftet. Grund soll ein Interview im Fernsehsender
Roj TV sein.
ANF vom 14.12.2005
Nach Widerspruch der Anwälte
wurde S. Suvagci noch am gleichen Tag aus der Haft entlassen.
Hürriyet-Milliyet-Radikal-Özgür
Gündem vom 01.-05.04.2006
Politiker verhaftet
In Batman wurde Ayhan Karabulut,
der Provinzvorsitzende der DTP am 1. April in U-Haft genommen. Die Verhaftung
erfolgte wegen einer Rede im Fernsehsender Roj TV. Karabulut wurde noch
am gleichen Tag wieder freigelassen, aber nach einem Widerspruch erging
gegen ihn Haftbefehl in Abwesenheit.
Özgür Gündem,
07/08.04.2006
Politiker verhaftet
Hasan Bozkurt, Vorsitzender
der aufgelösten Partei Volksdemokratie Partei (HADEP) im Kreis Nusaybin
(Mardin) wurde am 7. April im Zusammenhang mit einer Rede, die er in ROJ-TV
gehalten hatte, verhaftet.
Yeni Özgür Politika
vom 07.12.2006
Anfang Dezember 2006 wurde
der Kreisvorsitzende der mittlerweile verbotenen HADEP in Nusaybin (Mardin)
Hasan Bozkurt von der 4. Kammer des Landgerichts Diyarbakir zu 3 Jahren
und 4 Monaten Haft verurteilt. Nachdem die Ereignisse in Diyarbakir Ende
März 2006 nach Nusaybin übergesprungen waren, hatte Bozkurt dazu
telefonisch in Roj TV berichtet. Das Gericht bezeichnete die Proteste als
Machtdemonstration der PKK und den Auftritt in der Nachrichtensendung von
Roj TV als PKK Propaganda. Dafür erging eine Haftstrafe von 20 Monaten.
Die 2. (identische) Strafe erfolgte wegen der Benutzung des Wortes Guerilla,
das in den Augen des Gerichtes (nur) für Personen verwendet wird,
die im bewaffneten Kampf ihr Land von Besatzern befreien wollen.
Özgür Politika
vom 29.04.2006
Verhaftung nach Äußerungen
in Roj TV
Taner Bektas, der im Jahre
2005 als Vertreter von der Konföderation der Demokratischen Jugend
(Dem-Genc) telefonisch an einen Programm in ROJ TV teilgenommen hatte,
wurde von der Anti-Terror Abteilung der Polizei in Ankara festgenommen.
Die 11. Kammer des Landgerichts Ankara stellte Haftbefehl wegen Mitgliedschaft
in Kongra-Gel aus.
Radikal vom 10.06.2006
Bürgermeister verurteilt
Das Amtsgericht in Cizre
hat den Bürgermeister Aydin Bucak (DTP) zu einer Freiheitsstrafe von
15 Monaten verurteilt. Seine Botschaft zum Opferfest war in Roj TV ausgestrahlt
worden. Darin hatte er davon gesprochen, dass die Isolation von Abdullah
Öcalan eine Provokation sei. Die Strafe wurde nach Artikel 220 TStG
verhängt.
Cumhuriyet vom 04.07.2006
Bürgermeister angeklagt
Hüseyin Kalkan, Bürgermeister
von Batman (DTP) wurde angeklagt, weil er in Interviews mit Roj TV und
lokalen Zeitungen die PKK gelobt und die Kampagne, Abdullah Öcalan
als politischen Willen anzuerkennen, unterstützt habe.
Özgür Gündem
vom 29.08.2006
Bürgermeister vor
Gericht
Der stellvertretende Bürgermeister
von Semdinli, Emin Sari, wird sich vor einem Amtsgericht wegen eines Telefonats
mit Roj TV verantworten müssen. Er hatte nach der Verhandlung gegen
den Unteroffizier Tanju Cavus am 20. Januar einen Kommentar abgeben wollen,
aber schon nach den Worten "Wenn das Verfahren unabhängig in Angriff
genommen worden wäre, hätte heute Tanju Cavus..." war die Telefonleitung
unterbrochen worden. Die Anklage fordert eine Bestrafung nach Artikel 301
TStG (Beleidigung).
Bia (Netzwerk) vom 25.09.2006
Menschenrechtler angeklagt
Die 5. Kammer des Landgerichts
in Diyarbakir verhandelte am 19. September in zwei Verfahren gegen den
Rechtsanwalt Selahattin Demirtas, den Vorsitzenden des IHD in Diyarbakir.
In einem Verfahren geht es um ein Interview mit dem Fernsehsender ROJ-TV
am 7. Februar 2003 und im anderen Verfahren um eine Rede im lokalen Fernsehsender
Gün-TV am 24. Juni 2005. In beiden Fällen lautet die Anklage
auf Propaganda für eine illegale Organisation (Artikel 220/8 des neuen
TStG). Die Verfahren wurden auf den 14. November vertagt.
Özgür Gündem
vom 04.10.2006
Gewerkschafter angeklagt
Der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft
Egitim-Sen in Tunceli Hanefi Bekmezci wurde angeklagt, weil er die Nähe
von militärischen Einheiten zu den Schulen kritisiert hatte. Die Presseerklärung
wurde in Roj TV am 28. Mai 2006 aufgegriffen und Herr Bekmezci wegen Verunglimpfung
des Militärs angeklagt.
Anm.: Am 14. November sprach
ihn das Friedensgericht in Tunceli frei.
Özgür Gündem
vom 13.10.2006
Politiker verurteilt
Das Amtsgericht in Erzincan
hat den Vorsitzenden der DTP für die Provinz, Hüseyin Bektasoglu,
zu einer Haftstrafe von 2 Jahren verurteilt. In einem Programm bei Roj-TV
soll er Propaganda für eine illegale Organisation gemacht haben (Artikel
220/8 neues TStG) und gegen den Artikel 301 verstoßen haben. Der
Anwalt Necati Güven sagte, dass die Strafe zur Bewährung ausgesetzt
wurde.
Özgür Gündem
vom 16.11.2006
Menschenrechtler verurteilt
Die 5. Kammer des Landgerichts
Diyarbakir hat den Vorsitzenden des IHD in Diyarbakir, Selahattin Demirtas,
wegen einer Rede in ROJ-TV im Juli 2005 zu einer Strafe von 15 Monaten
wegen Propaganda für eine illegale Organisation verurteilt. Die Strafe
wurde zur Bewährung ausgesetzt. Wegen einer Rede beim lokalen Fernsehsender
Gün-TV am 24. Juni 2005 erteilte die 4. Kammer des Landgerichts Diyarbakir
die gleiche Strafe.
ANF- Milliyet-Gündem
vom 08.03.2007
Politiker verurteilt
Am 7. März verurteilte
das Amtsgericht Diyarbakir Sedat Yurttas, ein ehemaliger Parlamentsabgeordneter
der geschlossenen Demokratie-Partei (DEP) und Mitglied der DTP-Partei-Versammlung,
wegen Benutzung der Anrede "Verehrter" (in der Anwendung fast so selbstverständlich
wie "Herr" in Deutsch, HO) in Bezug auf Abdullah Öcalan bei einer
Sendung von Roj TV am 11. Januar 2006. Das Gericht verurteilte ihn wegen
"Lobens einer Straftat und eines Straftäters" nach Artikel 215/1 TStG
zu einer Haftstrafe von 6 Monaten.
Anm.: Radikal vom 27.01.2006
meldete, dass auch der ehemalige Abgeordnete der DEP, Hatip Dicle, in gleicher
Weise angeklagt wurde.
Radikal, 12.04.2007
Verfahren gegen Anwalt
Gegen Muharrem Sahin, Mitglied
der Anwaltskammer Diyarbakir, wurde im Zusammenhang mit einer Äußerung
von ihm in ROJ-TV über 9 PKK-Militante, die nach einer Kampfhandlung
in einem Massengrab beerdigt worden waren, ein Gerichtsverfahren eröffnet.
Die Anklage fordert eine Bestrafung von Sahin nach Artikel 301 TStG.
Wie schon in den Beispielen
zur Anwendung des Artikels 301 TStG (unter den hier aufgelisteten Verfahren
befinden sich weitere Beispiele für die Anwendung des Artikels) fehlen
vielen Meldungen wertvolle Details, bzw. können in ihrer Korrektheit
angezweifelt werden.
Einigermaßen konkret
ist der Vorwurf in der ersten Meldung, wo ein Politiker in Roj TV davon
sprach, dass "weder die Mütter der Soldaten noch der Guerilla weinen
sollen". Ausschlaggebend ist hier wohl das Wort Guerilla. Hätte der
Politiker "Terroristen" gesagt oder zumindest nicht ein Synonym für
Freiheitskämpfer benutzt, wäre es vermutlich nicht zur Anklage
gekommen. Falls mit den Guerillas die Kämpfer/innen der PKK gemeint
sind, sind sie in den Augen des türkischen Staates "Straftäter".
Daher kann eine Verurteilung wegen "Lobens von Strafen oder Straftäter"
(Artikel 215 TStG) erfolgt sein. Artikel 218 TStG sieht eine Anhebung der
Strafe um die Hälfte vor, wenn (zuvor genannte) Artikel mittels der
Medien verletzt werden.
Das Wort "Guerilla" hat auch
im Verfahren gegen Hasan Bozkurt eine Rolle gespielt. Neben der eigenwilligen
Definition des Gerichts wurde hier anscheinend auf Haftstrafe entschieden
(18 Monate). Die Nachricht in Yeni Özgür Politika suggeriert,
dass der falsche Gebrauch des Wortes bestraft wurde, wofür allerdings
keine Strafvorschrift genannt wird. Ich würde vermuten, dass die Strafe
entweder nach Artikel 215 TStG wegen Lobens von Straftätern oder nach
Artikel 7/2 ATG wegen Propaganda für eine terroristische Organisation
erging.
Die 4. Kammer des Landgerichts
Diyarbakir (zuvor die 1. Kammer des Staatssicherheitsgerichts) hat zudem
eine andere Neuerung der Gesetzgebung vom 1. Juni 2005 angewandt. Demnach
müssen bei Delikten, in denen verschiedene Strafvorschriften verletzt
wurden (so würde z.B. ein Bankraub im Namen einer Organisation zur
Bestrafung für Raub und Mitgliedschaft in der Organisation führen),
gesondert abgeurteilt werden. Die "Propaganda für die PKK", die der
Zeitungsartikel als weiteren Grund nennt (das wäre Artikel 220/8 TStG),
könnte der bloße Auftritt in Roj TV gewesen sein. Es kann aber
auch sein, dass die Art der Berichterstattung über eine Machtdemonstration
der PKK als "Propaganda" bewertet wurde. In jedem Fall hat es dafür
eine gesonderte Strafe von 20 Monaten Haft festgelegt. Ich vermute, dass
die Gesamtstrafe von 3 Jahren, 4 Monaten Haft weder in eine Geldstrafe
verwandelt, noch zur Bewährung ausgesetzt wurde. Der Artikel macht
dazu keine Angaben.
Die Strafe gegen den Bürgermeister
von Cizre (Aydin Bucak) wurde nach Artikel 220 TStG verhängt. Hier
sieht der Absatz 8 eine Strafe zwischen 1 und 3 Jahren Haft vor, wenn Propaganda
für eine (kriminelle, bzw. illegale) Organisation gemacht wird. Fußnote
18 Neben seiner Äußerung "die Isolation von Öcalan
ist eine Provokation" könnte er auch gesagt haben, dass er Abdullah
Öcalan als den Ausdruck seines politischen Willens anerkennt. Fußnote
19
Die Anklage gegen den Bürgermeister
von Batman (Hüseyin Kalkan) wird einen entsprechenden Tatvorwurf zum
Hintergrund haben.
An dem Verfahren gegen den
stellvertretenden Bürgermeister von Semdinli ist mir nicht ganz klar,
ob allein der angefangene Satz zur Anklage führte. Fußnote
20 Das Thema betraf die Vorfälle in Semdinli im November 2005.
Dafür wurden 2 Unteroffiziere zu je 39 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt
(allerdings hat der Kassationshof im Mai 2007 die Urteile wieder aufgehoben).
Der Unteroffizier Tansu Cavus
ist gesondert angeklagt, da er bei einer Demonstration nach den Vorfällen
in die Menge geschossen und mindestens eine Person getötet haben soll.
Die letzte Meldung über diesen Prozess, der aus Sicherheitsgründen
von Hakkari nach Malatya verlegt wurde, hat mir aus Oktober 2006 vorgelegen.
Meine Internetrecherche
ergab, dass sich Emin Sari zu anderen Zeitpunkten ebenfalls zu den Vorfällen
in Semdinli geäußert hat. In einer Meldung von Özgür
Gündem vom 18.05.2006 beschwerte er sich, dass die Angeklagten von
"Einigen" geschützt werden und dies eine Bedrohung für sie sei.
Fußnote 21 Weitere (relevante) Meldungen habe
ich nicht gefunden, aber es dürfte klar geworden sein, dass Emin Sari
weitere (kritische) Äußerungen zum Verfahren gegen Tanju Cavus
gemacht haben kann und die in die Ermittlungen, bzw. das Verfahren gegen
ihn eingeflossen sein können.
Zu den Verfahren gegen den
Vorsitzenden des IHD in Diyarbakir, Selahattin Demirtas sollte angemerkt
werden, dass der Auftritt in Roj TV in Verbindung mit einer Presseerklärung
vom 7. Februar 2003 stand, die als Titel hatte "Die Spannungen, die durch
den Krieg und die Isolation hervor gerufen wurden, haben zu einer Zunahme
von Verletzungen (der Menschenrechte) geführt". Der Auftritt im lokalen
Fernsehsender Gün TV (mit Sitz in Diyarbakir) war am 24. Juni 2004
und hier hatte die Staatsanwaltschaft in der Ansicht, dass "Öcalan
nicht aus dem Friedensprojekt in der Türkei heraus gehalten werden
soll" eine Gesetzeswidrigkeit gesehen. Fußnote 22
Den Meldungen zufolge war
der Hinweis auf die Isolation (von Abdullah Öcalan) und die Fürsprache,
ihn nicht aus dem Friedensprojekt heraus zu halten, Grund für die
Gerichte, dies als "Propaganda für eine illegale Organisation" zu
betrachten.
Zum Verfahren gegen den DTP
Vorsitzenden in Erzincan, Hüseyin Bektasoglu habe ich im Internet
folgende Ergänzung gefunden. Am 8. April 2006 war es in Erzincan zu
einem Lynchversuch an Mitgliedern des Jugendvereins gekommen. Aus Protest
dagegen wurde von verschiedenen Organisationen am nächsten Tag eine
Pressekonferenz (vermutlich im Freien) abgehalten und es kam erneut zu
Ausschreitungen. Fußnote 23 Darüber hatte
Herr Bektasoglu in Roj TV berichtet. Nach der Nachricht in Özgür
Gündem vom 13.10.2006 soll Hüseyin Bektasoglu gesagt haben, dass
er wegen Propaganda für eine (illegale) Organisation allein deswegen
verurteilt wurde, weil er die Mitarbeiter/innen des Senders gegrüßt
und ihnen Glück gewünscht hatte. Fußnote
24
Die Meldung zum Verfahren
gegen den Anwalt Muharrem Sahin erschien am 11.04.2007 in Radikal (nicht
12.04.). Es ging bei dem Tod von 9 PKK Militanten um einen Vorfall in der
Provinz Mardin (Kreis Savur) vom Mai und Juni 1995. Damals sollen 9 Militante
in einem Massengrab "verscharrt" worden sein. Fußnote
25 In der Meldung in Radikal vom 11.04.2007 beschwerte sich der Anwalt,
dass allein seine Äußerung, "es sei möglich, dass ein PKK'ler
(genauer: eine PKK'lerin) nach der Festnahme getötet wurde" zur Eröffnung
des Verfahrens geführt habe.
Verfahren wie das gegen Sedat
Yurttas (und Hatip Dicle) gibt es sehr viele, die aber nicht auf Auftritte
bei Roj TV beschränkt sind. Zum Hintergrund sollte gesagt werden,
dass das Attribut "verehrter" gerade von Politiker auch vor dem Namen ihres
ärgsten "Feindes" (z.B. Führer der Opposition) verwendet wird.
An
diesem Punkt sollte festgehalten werden: die Sendungen in Roj TV werden
anscheinend "peinlich" genau überwacht und sehr häufig werden
dort gemachte Äußerungen juristisch auf die "Goldwaage" gelegt.
In einem Fall soll es sogar zur Unterbrechung eines Telefonats geführt
haben, was nur durch enge Koordination der Sicherheitskräfte (Geheimdienst?)
mit der türkischen Telekom möglich gewesen sein könnte.
Besonders "gefährlich"
sind Äußerungen, die als Sympathie für den PKK-Führer
Abdullah Öcalan bzw. die Organisation ausgelegt werden können.
Dies kann sowohl als "Loben eines Straftäters" als auch als "Propaganda
für eine illegale Organisation" ausgelegt werden. Das Verfahren in
Erzincan scheint dabei etwas aus dem üblichen Rahmen zu fallen. Wenn
es zutrifft, was der Angeklagte Hüseyin Bektasoglu sagte, so muss
das Gericht den Sender Roj TV als Teil der PKK eingestuft haben, da aufmunternde
Worte an die Mitarbeiter/innen des Senders als "Propaganda für eine
illegale Organisation" bewertet wurden. Gegen die Korrektheit der Angaben
des Angeklagten spricht, dass das Urteil nicht nur wegen "Propaganda" sondern
auch wegen "Verunglimpfung" erfolgt sein soll. Nach dem Hergang der Sache
könnte damit eine "Beleidigung der Polizei" gemeint sein, wenn Hüseyin
Bektasoglu beispielsweise von einseitigem Eingreifen der Polizei gesprochen
hat.
Für die Möglichkeit
einer Bestrafung wegen eines Auftritts in Roj TV spricht das Verfahren
gegen Hasan Bozkurt. Demnach könnte sowohl ein Gericht in Erzincan
als auch ein Gericht in Diyarbakir einen Auftritt bei Roj TV (in beiden
Fällen als ehrenamtliche Reporter) als Propaganda für eine illegale
Organisation bewertet haben.
Aus dem üblichen Rahmen
fällt auch das Verfahren in Ankara, wo den Presseberichten zufolge
Taner Bektas unter der Beschuldigung, Mitglied in einer illegalen (bewaffneten)
Organisation zu sein, in Untersuchungshaft kam, (nur) weil er in Roj TV
lobende Worte zur PKK äußerte. Hinzufügen sollte ich, dass
Taner Bektas schon einmal im November 2004 in Ankara festgenommen wurde,
weil er bei einer Demonstration gegen das Hochschulgesetz Poster von Abdullah
Öcalan getragen haben soll.
Auf den dramatischen Anstieg
von Verfahren unter dem Vorwurf der "Propaganda (für eine illegale
Organisation)" hat Ende letzten Jahres der Vorsitzende der Anwaltskammer
Diyarbakir Sezgin Tanrikulu, hingewiesen. Die Bestimmungen im neuen Strafrecht,
die die Meinungsfreiheit einschränken, würden langsam deutlich,
meinte er. So seien allein in Diyarbakir 150 Personen in 60 Verfahren nach
dem Artikel 220/8 des neuen Strafgesetzes angeklagt worden. Dieser Artikel
verbietet die Propaganda für eine illegale Organisation. Von den Verfahren
seien 26 abgeschlossen worden und es erhielten 46 Personen Haftstrafen
(die Meldung erschien beim unabhängigen Kommunikations-Netzwerk Bia
am 21.11.2006).
Es
werden auch Ermittlungen geführt und Verfahren eröffnet, wenn
innerhalb der Auftritte bei Roj TV Kritik an den Streitkräften geübt,
bzw. kritisiert wird, dass Gesetzesüberschreitungen von Angehörigen
der Streitkräfte nicht in ausreichendem Maße geahndet werden.
Diese werden in der Regel nach Artikel 301/2 TStG n.F. (Verunglimpfung
der Streitkräfte) verfolgt. Unter Hinzunahme der Beispiele zu Verfahren
nach Artikel 301 TStG könnte ergänzend gefolgert werden, dass
Erklärungen über konkrete Ereignisse, bei denen den Sicherheitskräften
ein in den Augen der Behörden nicht vorhandenes Fehlverhalten unterstellt
wird, zu Strafverfolgung führen kann. Auf die Beispiele angewendet
wäre die offizielle Haltung also: Soldaten vergewaltigen nicht; sie
stecken keine Wälder in Brand; sie lassen niemanden "verschwinden";
sie verüben keine Morde im Auftrag des "verborgenen" Staates; sie
töten niemand nach Festnahme und (auf Emin Sari bezogen) sie genießen
keinen besonderen (Rechts)schutz. Auf das Verfahren von Akin Birdal bezogen,
wäre ein Grund für ein Verfahren nach Artikel 301/2 TStG, wenn
jemand behauptet, dass die Regierung der Republik der Türkei oder
des osmanischen Reiches einen Völkermord an den Armeniern begangen
(angeordnet) hat und sich deshalb entschuldigen müsse.
Wenn
ich nun die bis hierher gewonnenen Erkenntnisse mit den Äußerungen
des Klägers in Roj TV in Relation setze, kann ich feststellen:
1. Sein Auftritt in Roj
TV wird nicht unbemerkt geblieben sein und es muss davon ausgegangen werden,
dass er auch in "juristischer" Hinsicht ausgewertet wurde.
2. Es kann nicht mit Sicherheit
gesagt werden, ob allein der Auftritt als solcher schon strafrechtliche
Konsequenzen haben könnte. Die Verfahren gegen Hüseyin Bektasoglu
und Hasan Bozkurt machen eine solche Annahme möglich. Jedoch haben
beide quasi als "Reporter" fungiert und waren nicht einfach Interviewpartner.
3. Unter den aufgeführten
Beispielen war kein Verfahren, dass sich auf einen Studioauftritt bezog
(vielleicht "trauen" sich das nur Personen, die permanent im Ausland sind).
Insofern kann keine Angabe dazu gemacht werden, ob die Gerichte in der
Türkei einen solchen Auftritt allein schon als "Propaganda für
die PKK" bewerten würden. Das Verfahren gegen Hüsnü Cemal
Aslan, die im Februar 2001 als Sprecherin des Vorläufers von Roj TV
(MED TV) vom Staatssicherheitsgericht in Erzurum zu 12,5 Jahren Haft wegen
"Mitgliedschaft in der PKK" verurteilt wurde, kann kaum als Vergleich herangezogen
werden. (vgl. die Nachricht in Milliyet vom 07.02.2001)
4. Separatistische Äußerungen
sind kein Straftatbestand mehr. Der Artikel 8 des Gesetzes 3713 zur Bekämpfung
des Terrorismus (kurz: Anti-Terror-Gesetz, ATG) wurde mit dem Gesetz 4928
vom 19. Juli 2003 (das so genannte Anpassungspaket 6) abgeschafft. An den
Beispielen aber wird deutlich, dass es genügend andere Vorschriften
gibt, um ursprünglich als separatistisch eingestufte Meinungen nun
als "Propaganda für illegale Organisationen", als "Loben einer Straftat
oder eines Straftäters", als "Aufstachelung zu Rassenhass" oder auch
als "Verunglimpfung von Staatsautoritäten" zu bestrafen.
5. In dem (übersetzten
Teil des) Interviews des Klägers in Roj TV sind keine separatistischen
Äußerungen im Sinne des abgeschafften Artikel 8 ATG (oder der
hilfsweise an dessen Stelle verwandten Artikel) zu entdecken. Der Kläger
spricht nicht von "Kurdistan" oder "den Kurden". Er erwähnt "kurdische
Gebiete", aber scheint "kirmanc" als Synonym für "kurdisch" verwendet
zu haben. Die Übersetzung führt "kirmancische/s Volk" und "kirmancische
Menschen" auf. "Kirmanc" ist ein Dialekt der kurdischen Sprache und wird
als Hauptdialekt auch als Synonym für Kurden verwandt. Im Falle des
Klägers verwundert dies jedoch, weil er aus der Provinz Tunceli (Dersim)
kommt, wo vorwiegend "Zaza" gesprochen wird.
6. In dem Interview wurde
anscheinend nicht auf die Situation des PKK-Führers Abdullah Öcalan
eingegangen. Ich konnte zumindest keine positiven (oder auch negativen)
Äußerungen über ihn oder die Organisation als solche finden.
Ein Vorwurf nach Artikel 215 TStG n.F. (Loben einer Straftat oder eines
Straftäters) dürfte demnach entfallen.
7. In ähnlicher Form
bieten mir (die übersetzten Teile) des Interviews keinen Anhaltspunkt
dafür, dass hier (neben der Tatsache aktiv an einem Programm des als
Sender der PKK bezeichneten Fernsehstation teilgenommen zu haben) "Propaganda
für eine illegale Organisation" (Artikel 220/8 TStG n.F.) betrieben
worden sein könnte.
8. Eine Bestrafung (Ermittlung)
nach Artikel 216 TStG (Aufstachelung zu Rassenhass) scheint zwar möglich,
weil von der Benachteiligung der kurdischen Bevölkerung gesprochen
wird. Angesichts der Tatsache, dass kurdische Aktivisten kaum noch nach
dieser Vorschrift verurteilt werden, dürfte dies auch für den
Kläger unwahrscheinlich sein.
9. In Bezug auf den Artikel
301 TStG kann ich auch keinen (im Sinne der Rechtssprechung in der Türkei)
vorhandenen Verstoß gegen den Absatz 1 (Verunglimpfung des Türkentums)
feststellen, da an keiner Stelle "die Türken" pauschal als "minderwertig"
oder sonst wie "verabscheuungswürdig" dargestellt werden (oder es
Formulierungen gibt, die ein Gericht in der Türkei als derartige Äußerung
bewerten würde).
10. Möglich ist jedoch,
dass in den Bemerkungen des Klägers ein Verstoß gegen Artikel
301/2 TStG n.F. gesehen wird. Dies könnte in den Sätzen "die
Sicherheitskräfte der Regierung haben mir und meiner Familie schlimme
Sachen angetan" und "die Regierung erkennt keine Minderheiten und deren
Rechte an. Wer dies fordert, wird terrorisiert, ermordet und gefoltert."
gesehen werden.
Gegen diese Annahme sprechen
zwei Gesichtspunkte. Auf der einen Seite sind die Vorwürfe ("Unterstellungen")
des Klägers gegen die Staatsautoritäten nicht konkret. Fußnote
26 Im ersten Satz ist die Rede von "schlimmen Sache", die die Streitkräfte
verübt haben sollen (die allerdings immer noch nicht der Regierung
der Türkei unterstellt sind). Der "schlimmen Sachen" werden im Folgesatz
mit "Druck, Verfolgung und Inhaftierung" ansatzweise konkretisiert, sind
aber immer noch sehr allgemein gehalten. Im zweiten Satz ist unklar, wer
oder welche Institution für welche Art von Terror, Mord oder Folter
verantwortlich gemacht werden soll. Der Satz in der zweitletzten Zeile
auf der Setie 1 der Übersetzung: "Stattdessen verbrennen unsere Wälder
und Häuser, wir werden ins Gefängnis gesteckt und gefoltert"
nennt ebenfalls keine Täter, bzw. Zeit und Ort und bleibt daher allgemein.
Lediglich am Schluss der
Übersetzung wird ein konkretes Ereignis in den Worten: "Ich habe gelesen,
dass letzten (hier fehlt wohl das Wort "März") 14 Guerillas getötet
wurden. Als die Angehörigen die Leichname holen wollten, hat eine
kleine Demonstration stattgefunden. Die Sicherheitskräfte haben noch
14 Menschen getötet." Im Zusammenhang mit Äußerungen
über diese Vorkommnisse sind mindestens 3 Personen angeklagt worden.
Fußnote 27 Atilla Kaya wurde unter verschiedenen
Vorschriften angeklagt, weil er in einem Zeitungsartikel eine Untersuchung
des Vorwurfs, dass bei dem Einsatz gegen die Militanten der PKK chemische
Waffen eingesetzt wurden, gefordert hatte. Der ebenfalls in Istanbul lebende
Halil Dogan wurde nach Artikel 301 TStG angeklagt, weil er vom Einsatz
chemischer Waffen gesprochen und in Bezug auf Übergriffe gegen Büros
der DTP der Polizei vorgeworfen habe, die Angreifer belohnt zu haben. Hasan
Bozkurt hatte in Roj TV von Demonstrationen in Nusaybin (Mardin) berichtet
und soll 2 Mal zu je 18 Monaten Haft verurteilt worden sein, weil er in
seiner Schilderung das Wort "Guerilla" verwandte und aus seiner Darstellung
einer in den Augen des Gerichts "Machtdemonstration der PKK" Propaganda
für diese Organisation gemacht haben soll.
Auch der Kläger verwendet
das Wort "Guerilla", allerdings nicht als seine eigene Wortwahl, sondern
in der Form "ich habe gelesen". Er spricht nicht von Massendemonstrationen
als Zeichen des starken Rückhalts der PKK in der Bevölkerung,
sondern nennt es "kleine Demonstrationen", bei denen die Sicherheitskräfte
14 Menschen erschossen.
Demonstrationen fanden seinerzeit
nicht nur in Diyarbakir statt und die Todesopfer waren nicht nur dort,
sondern auch in anderen Orten zu beklagen. Ansonsten entspricht aber die
Darstellung des Klägers den Zeitungsberichten. Fußnote
28 Auch aufgrund des zeitlichen Abstands zu den Vorkommnissen und der
indirekten Schilderung in der Form von "ich habe gelesen" ist es jedoch
fraglich, ob ein Staatsanwalt diese Äußerung zum Grund nimmt,
Anklage zu erheben. Dennoch sehe ich in dieser Äußerung am ehesten
eine Gefahr der Strafverfolgung.
In Bezug auf die sonstigen
Bemerkungen stellt sich allgemein die Frage nach den in offizieller Darstellung
"unwahren" Behauptungen über "Missetaten" der Armee. Die Tatsache,
dass "schlimme Sachen" mit den Bürgern und Bürgerinnen der Türkei
(vor allem im Osten und Südosten des Landes) passierten, hat die Türkei
sogar vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGfMR)
mehrfach eingestanden (als Teil von "gütlichen Einigungen"). Es wird
auch nicht abgestritten, dass es Morde und Folter gegeben hat, aber es
wurden nie "die Schuldigen" (als Angehörige bestimmter Einrichtungen)
benannt.
Jedoch ist die Taktik, die
von offizieller Seite der Türkei bei Verfahren vor dem EGfMR eingeschlagen
wird, eine andere Sache als die Strafgerichtsbarkeit im Lande. Ansonsten
wären wohl die Äußerungen von Eren Keskin (in Köln)
und Kiraz Bicici (in Bingöl) anders bewertet worden. Allerdings sollte
auch festgehalten werden, dass nicht jede öffentliche Beschwerde über
erlittenes Unrecht zwangsläufig zu einer Anklage führt. Immer
wieder treten Opfer (z.B. von Folter) u.a. beim IHD in Istanbul vor die
Presse, ohne dass deswegen gleich Strafverfahren gegen sie eröffnet
werden. Fußnote 29
Der zweite Einwand gegen
die Annahme, dass ein Verfahren gegen den Kläger eröffnet wird,
stammt von dem Eindruck, den die Beispiele dahin gehend hinterlassen, dass
nur gegen "wichtige" Personen (mit einer gewissen Position im öffentlichen
Leben) vorgegangen wird, da vor allem Politiker und Menschenrechtler von
den Maßnahmen betroffen zu sein scheinen. Es kann aber genauso gut
sein, dass nur Verfahren gegen diesen Personenkreis einen Niederschlag
in den Medien finden und weitere Verfahren keinen "Nachrichtenwert" haben.
Unter den Beispielen sind
12 Verfahren aufgelistet, die unter dem Artikel 301 TStG n.F. geführt
wurden. Zwei dieser Verfahren gingen vor dem Jahre 2006 zu Ende. Verglichen
mit den 72 Verfahren, die vom Projekt "Bia²" für 2006 gezählt
wurden, machen 10 Verfahren gerade mal ein Sechstel (16,7%) aus, so dass
hier von der Spitze eines Eisbergs gesprochen werden kann.
Unabhängig von der Möglichkeit,
dass "Bia²" nicht über eine komplette Liste der Verfahren verfügt,
Fußnote 30 besteht die Möglichkeit, dass
unter der hier nicht betrachteten Mindestanzahl von 60 Fällen etliche
Verfahren sind, die sich nicht auf "prominente" Personen beziehen. Da mir
hierzu wesentliche Erkenntnisse fehlen, möchte ich mich an diesem
Punkt aber nicht festlegen. Insbesondere kann ich keine Angaben dazu machen,
ob unter den Verfahren gegen weniger oder gar nicht bekannte Personen auch
solche sind, die als Hintergrund ein pauschal als negativ zu bezeichnendes
Bild von der Lage der Menschenrechte in der Türkei abgeben.
Abschließend möchte
ich noch auf eine Sache hinweisen, die mich zu der Vermutung führte,
dass evtl. nicht alle Teile des Interviews übersetzt wurden. Der Kläger
spricht in dem Protokoll vom 03.04.2007 davon, dass er ein Massaker aus
dem Jahre 1938 kritisiert habe, bei dem 40.000 bis 60.000 Menschen ums
Leben kamen.
Sicherlich ist das Wort
"Massaker" (katliam) nicht in gleicher Weise ein Reizwort wie "Völkermord"
(soykirim), aber angesichts der Niederschlagung des Aufstands von Dersim
von einem "Massaker" zu sprechen, dürfte in offiziellen Kreisen als
"unwahre Unterstellung" betrachtet werden.
Parallel zu dem o.a. Verfahren
gegen Akin Birdal (aber auch die Verfahren von Eren Keskin, Kiraz Bicici,
Halil Dogan, Ibrahim Güclü und Atilla Kaya) könnte eine
solche Äußerung (falls sie öffentlich gemacht wurde) durchaus
ausreichen, um ein Verfahren wegen Verunglimpfung des Militärs einzuleiten.
Damit möchte ich zum
zweiten Teil der Frage kommen, der sich auf das Risiko von Misshandlungen
bezieht.
Im
Falle von "Meinungsdelikten" erfolgt in der Regel eine Vorladung der zuständigen
Staatsanwaltschaft, d.h. die "Verhöre" (hier wohl besser Anhörung)
des Beschuldigten findet nicht durch die Polizei statt. Ich habe im Zusammenhang
mit solchen Verfahren zwar gehört, dass Anklageschriften erstellt
wurden, ohne dass Beschuldigte sich zum Tatvorwurf äußern konnten;
ich habe aber noch keinen Fall erlebt, in dem Beschuldigte im Rahmen der
Ermittlungen Vorwürfe von Folter oder Misshandlung erhoben hätten.
Schließlich sollte
noch ein Wort zu der zu erwartenden Strafe gesagt werden. Im Verlaufe des
Verfahrens (Ermittlungen eingeschlossen) wird normalerweise auf Untersuchungshaft
verzichtet (die Ausnahmen in den kurdischen Gebieten, wo Politiker kurzfristig
in Haft kamen, sind unter den Beispielen zu finden).
An vielen Beispielen kann
gesehen werden, dass bei einem so genannten "Erstdelikt" die Haftstrafen
in Geldstrafen umgewandelt und/oder zur Bewährung ausgesetzt werden.
Dies ist in das Ermessen des Gerichts gestellt, d.h. weder die Umwandlung
in eine Geldstrafe noch die Aussetzung zur Bewährung ist eine zwingende
Vorschrift. So wurde z.B. die 20-monatige Haftstrafe gegen Mehmet Sevki
Eygi nicht zur Bewährung ausgesetzt und vom Kassationshof bestätigt.
Auch bei Hasan Bozkurt kann vermutet werden, dass seine Haftstrafen (insgesamt
über 3 Jahre) nicht in eine Geldstrafe verwandelt oder zur Bewährung
ausgesetzt wurden.
Im Regelfall sollten Haftstrafen,
die nicht umgewandelt oder zur Bewährung ausgesetzt werden, nicht
im unmittelbaren Anschluss auf die Verurteilung durch die 1. Instanz zur
Inhaftierung führen. Es wird angesichts der Höhe der Strafe auf
eine Entscheidung des Kassationshofs gewartet. Sollte dieser das Urteil
bestätigen, muss die Haftstrafe verbüßt werden (beginnt
der Strafvollzug).
Als "Ersttäter" wäre
eine Inhaftierung des Klägers eher unwahrscheinlich, aber er würde
im Falle einer Verurteilung als "vorbestraft" gelten.
Ich hoffe, Ihnen mit den
Angaben gedient zu haben.
Hamburg, den 28.05.2007
Helmut Oberdiek
Fußnoten:
1
In Englisch unter http://www.bianet.org/2006/11/01_eng/news92115.htm
2 Die Beispiele sind vor
allem den Tagesmeldungen der Menschenrechtsstiftung TIHV entnommen. Zum
großen Teil wurden sie vom Demokratischen Türkeiforum DTF ins
Deutsche übersetzt und sind auf deren Internetpräsenz unter www.tuerkeiforum.net
zu finden.
3 Zu finden unter http://www.sodev.org.tr/Haberler/2006/kiraz_biciciye_hapis.htm
4 Zu finden unter
http://yeniozgurpolitika.com/?bolum=haber&hid=11615
5 Es handelt sich
hier um das "Verschwinden" von Serdar Tanis und Ebubekir Deniz (von der
HADEP) in Silopi am 25.01.2001.
6 Eine ausführliche
Darstellung des Falles befindet sich auf den Seiten des DTF (www.tuerkeiforum.net)
unter den Hintergrundberichten.
7 Der komplette Text
des 49 Seiten umfassenden Urteils kann in Türkisch unter http://www.yargitay.gov.tr/dmdocuments/guncel_kararlar/184.doc
gefunden werden.
8 Am 24.05.1976 hatte
die Kammerversammlung entschieden, dass Wörter wie "deren Kehle trocknet
und denen nach Blut lüstet", sowie "wenn sie Tanks, Gewehre, Panzer
und Faschismus haben" aus dem Zusammenhang gerissen noch keine Verletzung
von Artikel 159 TStG a.F. darstellen.
9 Danach folgen die
abweichenden Meinungen. Es gab insgesamt 6 Gegenstimmen gegen die Entscheidung
der Kammerversammlung (4 Richter schlossen sich dem Staatsanwalt an). Die
Zahl der Mitglieder der Kammerversammlung schwankt. Es müssen aus
allen 11 Strafkammern des Kassationshofs mindestens 2 Richter (aus mehr
als der Hälfte der Kammern jeweils der vorsitzende Richter) teilnehmen.
Möglich ist auch die komplette Teilnahme aller Kammern (sie haben
einen vorsitzenden Richter und 4 Beisitzer). Die Zahl kann also zwischen
22 und 55 liegen. Im vorliegenden Fall waren es 24 Richter. Das Urteil
erging mit 18 gegen 6 Stimmen.
10
Genauer müsste es heißen: "Wer einen Teil des Volkes gegen einen
anderen Teil der Bevölkerung, der sich aufgrund von sozialer Klasse,
Rasse, Religion oder des Gebietes unterscheidet, zu Hass und Feindschaft
aufstachelt…
11 Zu den Quellen,
siehe Fußnote 2
12 Leider geht aus
der Meldung in Bianet (http://www.bianet.org/2006/06/08/80134.htm) der
exakte Wortlaut der inkriminierten Meinung nicht hervor.
13 Nachricht unter
http://www.haberler.com/baydemir-tempo-davasindan-beraat-etti-haberi/
14 Fundstelle: http://www.bianet.org/2007/05/11/95864.htm
15 Die Fundstelle
der folgenden Angaben (Zugriff am 25.05.2007) ist hier: http://www.haksoz.net/index.php?name=News&file=article&sid=1556
16 Fundstelle: http://www.antiimperialista.org/index.php?
option=com_content&task=view&id=4486&Itemid=82
17 Zu den Quellen,
vgl. Fußnote 2
18 Eigentlich fällt
eine Organisation, bzw. die Mitgliedschaft in einer Organisation wie der
PKK unter den Artikel 314 TStG n.F. Hier bestimmt der Absatz 3 aber, dass
auf diesen Artikel auch die Vorschriften des Artikels 220 TStG, der sich
auf Mafia-Strukturen (Organisationen, die mit der Absicht gegründet
werden, Straftaten zu begehen) anzuwenden sind.
19 Nachzulesen unter:
http://www.yeniozgurpolitika.org/rojname/index.html?bolum=haber&hid=15488
20
Allerdings ist die Übersetzung korrekt. Ich habe den Originalbericht
in Özgür Gündem im Internet unter http://www.gundemimiz.com/arsiv.asp?haberid=17643
gefunden.
21 Die Meldung ist
unter http://www.ozgurgundem.net/haber.asp?haberid=12613 zu finden.
22 Die Informationen
habe ich unter http://www.bianet.org/2006/11/15/87834.htm gefunden.
23 Den Tagesberichten
der TIHV entnehme ich, dass der Jugendverein am 8. April eine Erklärung
gegen die F-Typ Gefängnisse abgab und die Mitglieder von Rechtsextremen
angegriffen wurden. Die Pressekonferenz am 9. April soll sowohl von Rechtsgerichteten
als auch von der Polizei angegriffen worden sein.
24 Der konkrete Wortlaut
war "selam ve sevgilerimi iletiyorum" (ich übermittle Grüße
und meine Liebe). Fundstelle: http://www.gundemimiz.com/arsiv.asp?haberid=21413.
25 Hierzu die Tagesberichte
der TIHV (auch beim DTF in Deutsch zu finden): im November fanden Anwälte
aus Diyarbakir mit dem Staatsanwalt aus Savur an dem Ort, der ihnen von
Dorfbewohnern genannt worden war, zwei Schädel und Kleidungsstücke
(Radikal vom 28.11.2005). Die Meldung vom 23.12.2005 aus Özgür
Gündem besagt:
Mittlerweile wurde bestätigt,
dass in dem Massengrab, das in der Nähe des Kreises Savur (Mardin)
im November gefunden wurde, PKK Militante begraben waren. Auf Veranlassung
der Staatsanwaltschaft hatte ein Mediziner der Gerichtsmedizin die gefundenen
Knochen untersucht. Er kam zu dem Schluss, dass 6 Personen betroffen seien.
Es könne aber auch sein, dass etliche Knochen von Tieren entfernt
wurden, d.h. der Anfangsverdacht von 9 Leichen könne evtl. zutreffen.
Der Unteroffizier T.K. hatte bei der Staatsanwaltschaft ausgesagt, dass
bei einem Gefecht am 21. Juni 1995 sieben Militante getötet wurden,
die zunächst in einem alten Brunnen "deponiert" und am nächsten
Tag zur Autopsie zu einer Gendarmeriestation gebracht wurden. Der Vorsteher
eines süryanischen Dorfes sei gefragt worden, ob die Leichen dort
beigesetzt werden könnten, was dieser abgelehnt habe. Ein Dorfschützer
sagte aus, dass er bei der "Bestattung" in einem Massengrab dabei gewesen
sei. Bei den Militanten soll es sich um Mehmet Aktay, Seymus Akboga, Mehmet
Akan, Serhat Özbahçivan, Hafsat Aslan und Sadik Akçakoca
handeln. Zwei Tage nach dem Gefecht wurde die Leiche von Hatice Simsek
gefunden. Nach offizieller Stellungnahme soll sie festgenommen und beim
Zeigen eines Versteckes ihr Leben verloren haben, als sie am 1. August
1995 auf eine Mine trat.
26 Der Gesetzestext
spricht zwar von einer (pauschalen) Verunglimpfung der Streitkräfte,
aber in den Verfahren in denen es um die Verunglimpfung des Militärs
ging, standen immer konkrete "Unterstellungen" im Hintergrund. Ridvan Kizgin
hatte sich über Drohungen des Kommandanten der Gendarmerie in Bingöl
beschwert, Kiraz Bicici hatte auf das "Verschwinden" von Politikern bei
der Gendarmerie in Silopi hingewiesen und Eren Keskin wird auf der Veranstaltung
in Köln nicht nur Zahlen über Soldaten, die der Vergewaltigung
an kurdischen Frauen verdächtigt sind, genannt haben. Ich erinnere
mich an mindestens zwei Verfahren, in denen es um solche Vorfälle
in der Provinz Mardin ging. Dort war Eren Keskin als Vertreterin der Nebenklage
aktiv (bei einer Verhandlung war ich als Prozessbeobachter zugegen) und
es ging um eine ganz bestimmte Gendarmeriestation in der Provinz.
27 Zu den Ereignissen
findet sich eine deutsche Zusammenfassung unter http://www.tuerkeiforum.net/wochen/2006/0614.html
28 Folgt man den Übersetzungen
des DTF in der darauf folgenden Woche, so wurden bei den Vorfällen
sogar 15 Menschen getötet
29 Weniger zum Thema
Meinungsfreiheit, denn zum Thema Straffreiheit von Folterern gehört
das Phänomen, dass bei Anzeigen wegen Folter häufig mit einer
Gegenanzeige z.B. wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt reagiert wird
und zu diesem Zweck sich einzelne Beamte dafür (auch nachträglich)
Atteste besorgen.
30 Die staatlichen
Statistikämter, u.a. beim Justizministerium, halten keine Statistiken
bereit, in denen über das Ende 2005 hinaus Angaben zu Verstößen
jeweils von Gruppen von Strafvorschriften gemacht werden. Ein kurzer Blick
auf die Angaben des Vorsitzenden der Anwaltskammer Diyarbakir macht deutlich,
dass die Statistiken von Bia² nicht komplett sein können. Sezgin
Tanrikulu spricht von 60 Verfahren allein in Diyarbakir, die nach Artikel
220/8 TStG geführt werden. Bia² führt diese Kategorie gar
nicht auf.
31 Zum "Aufstand von
Dersim" steht unter http://anadoluyum.com/showthread.php?t=1596: Zwischen
60.000 und 100.000 Kurden Bumke, Peter J.; The Kurdish Alevis - Boundaries
and Perceptions; in: Andrews, Peter Alford; Ethnic Groups in the Republic
of Turkey; Wiesbaden 1989; Seite 514>, vor allem Zivilisten, die sich nicht
an den Kämpfen beteiligt hatten, wurden im Zusammenhang mit dem Aufstand
von Dersim ermordet; mehr als 100.000 Menschen wurden nach dem Aufstand
aus der Region Dersim - hauptsächlich in die Mittelmeer-Regionen -
deportiert.