Anm.: Wieviel an diesem Text
von mir stammt, weiß ich nicht mehr. Er ist im Jahr 1998 als Teil
einer Broschüre zur Lösung des Kurdenkonfliktes entstanden.
Inhalt:
Vorgeschichte
Die Anfangszeit
der Türkischen Republik
Der Reformplan
für den Osten
Der Neubeginn
kurdischer Opposition
Die Militärputsche
(1971 und 1980)
Der Beginn
des bewaffneten Konfliktes 1984
Der Versuch
der legalen Politik: Die HEP und DEP
Eine Bilanz
der vergangenen Jahre
Teil 2:
Die menschlichen,
sozialen und ökonomischen Kosten des Krieges
Die kurdischen
Dorfschützer
Spezialteams
und Überläufer
Die Entvölkerung
der kurdischen Dörfer
Die soziale
Dimension
Die Kosten
des Krieges
Zu den ersten offiziellen
Beziehungen zwischen Kurden und dem osmanischen Reich kam es im Jahre 1514.
Am Krieg von Caldiran zwischen dem Safewiten-Reich im Iran und den Osmanen
hatten die Kurden auf Seiten der Osmanen teilgenommen. Dadurch erlangten
sie die Möglichkeit, ihre autonomen Herrschaftsformen im osmanischen
Reich fortzuführen. Die autonome Struktur der kurdischen Fürstentümer
dauerte bis ins 19. Jahrhundert, ohne zu großen Problemen zu führen.
Anfang des 19. Jahrunderts begannen die Osmanen, die Reichsstruktur zu
zentralisieren und versuchten dabei auch, die autonome Struktur der kurdischen
Fürstentümer einzuschränken. Dies führte zu Aufständen
seitens der Kurden.
Diese Phase, die mit dem
Aufstand des Herrschers von Revanduz, Abdurrahman Pascha 1806 begann, erreichte
mit dem Aufstand des Herrschers von Botan, Serafhan, im Jahre 1839 ihren
Höhepunkt. Bis zum Jahre 1880 gab es zahlreiche Aufstände, in
deren Folge die kurdischen Fürsten ausgeschaltet wurden und die autonomen
Herrschaftstrukturen ein Ende fanden. In der Zeit, die mit dem Aufstand
des Scheichs Ubeydullah 1880 begann und durch Scheich Mahmud Berzenci fortgeführt
wurde, wandelten sich die politischen Forderungen der Kurden: es ging immer
deutlicher um Unabhängigkeit. Bis zum 1. Weltkrieg gab es eine ganze
Reihe von Aufständen. Teile der kurdischen Eliten waren nun entschlossen,
einen unabhängigen Staat zu gründen.
Der Vertrag von Sevres,
der nach dem 1. Weltkrieg von den Siegermächten und der osmanischen
Regierung unterschrieben wurde, enthielt Artikel über die Unabhängigkeit
der Kurden. Allerdings wurde in den Vertrag nur ein Teil der kurdischen
Gebiete einbezogen und die später avisierte Gründung eines unabhängigen
kurdischen Staates durch zahlreiche Auflagen deutlich erschwert, bzw. fast
unmöglich gemacht.
In dem Übereinkommen
zwischen den alliierten Siegermächten des Weltkrieges unter der Federführung
der Engländer und dem in Anatolien neu gegründeten türkischen
Staat unter Mustafa Kemal, dem Vertrag von Lausanne von 1923 spielten die
Überlegungen des obsolet gewordenen Sevres-Abkommens keine Rolle mehr.
Der britischen Regierung ging es nun vornehmlich um ihre Ölinteressen
und die Region Kurdistan wurde mitsamt ihrer Bevölkerung auf vier
(z.T. spätere) Staaten aufgeteilt. Die Kurdenfrage verschwand von
der internationalen Tagesordnung.
Die Anfangszeit der Türkischen Republik
Die türkische Republik,
die aus den Ruinen des osmanischen Reiches aufgebaut wurde, hatte viele
Probleme von den Osmanen übernommen. Eines davon war und ist die Kurdenfrage.
Als Mustafa Kemal 1919 nach Anatolien kam, versprach er, daß die
Kurden einen gleichberechtigten Platz im neu zu gründenden Staat einnehmen
würden. Seine Praktiken und Organisationsformen in Anatolien aber
zeigten, daß dies nicht seine wahre Absicht war. Führende kurdische
Kreise riefen im Gegenzug die ersten oppositionellen Bewegungen ins Leben.
1920 begann in der Region des westlichen Dersim der kurdische Aufstand
von Kocgiri. Die politischen Ziele und die Strategie dieses Aufstandes
sind für die heutige Forschung nicht eindeutig. Die führenden
Kader der Bewegungen stellten unterschiedliche Forderungen auf, die von
einem unabhängigen Staat bis zur Autonomie reichten. Die Bewegung
war zudem auf allen Gebieten schlecht vorbereitet. Ein großer Teil
der Kurden versagte dieser Bewegung schließlich ihre Unterstützung
und nahm lediglich eine beobachtende Position ein. So wurde die Bewegung
mit der neu formierten Armee von Mustafa Kemal und ad hoc gebildeten paramilitärischen
Gruppen blutig zerschlagen.
Mit der Niederschlagung
dieser Bewegung verloren die Kurden allerdings auch die Möglichkeit,
Politik auf legaler Ebene zu betreiben. Sie gründeten eine geheime
politische Partei mit dem Namen "Azadi" (Freiheit) und begannen Aktivitäten
mit dem Ziel der Unabhängigkeit.
Nach der Gründung der
Türkischen Republik wurde mit der Verfassung von 1924 ein türkischer
Staat ausgerufen, in dem (mit Ausnahme der christlichen und jüdischen
Minderheiten) alle Nationen und ethnischen Gruppe auf dem Staatsterritorium
als nicht existent betrachtet und als "Türken" bezeichnet wurden.
Weite Teile der kurdischen
Bevölkerung sahen erneut den bewaffneten Widerstand als unausweichlich
an, da man ja ihre ethnische Identität verleugnen wollte. Als Ende
1924 die Führer von "Azadi" verhaftet wurden und die für Kurdistan
zentralen Bildungsinstitute, die Medressen, geschlossen wurden, war dies
der Auslöser für den kurdischen Aufstand von 1925. Die Aufständischen
nahmen innerhalb kurzer Zeit wesentliche Teile Kurdistans ein. Die türkische
Staatsführung schlug nach einem anfänglichen Schock den Aufstand
jedoch schnell nieder. Die am Aufstand Beteiligten wurden vor den neu gebildeten
"Gerichten der Unabhängigkeit" (istiklal mahkemeleri) angeklagt und
zum Tode verurteilt. In dieser Zeit wurden mehr als 15.000 Kurden getötet
und an die 900 Dörfer vernichtet.
"Der Reformplan für den Osten" - gültig für mehr als 70 Jahre
Für die türkische
Republik war dieser Aufstand ein zentraler Punkt für die Bestimmung
iher weiteren Kurdenpolitik. Es wurde ein 'Reformplan für den Osten'
(sark islahat plani) entwickelt, in dem die offizielle Position und
die Handlungsprinzipien für das Kurdenpoblem festgelegt wurden.
Es handelte sich um ein
breit gefächertes Programm, nach dem seit nunmehr über 70 Jahren
verfahren wird. Während türkische Politiker von einem "Reformplan"
sprechen, sind kurdische Historiker der Meinung, daß die Grundpfeiler
dieses Planes mit den Begriffen Assimilation, Deportation-Umsiedlung und
Massenmord bezeichnet werden können und diese drei Aspekte seit mehr
als 70 Jahren mehr oder weniger intensiv angewendet werden. Fest steht
jedoch: Dieser Plan hat bis heute nicht das von seinen Initiatoren gewünschte
Resultat erzielt.
Obwohl der Aufstand von
1925 zu einer militärischen Niederlage führte, verzichtete die
kurdische Bevölkerung nicht auf die während des Aufstandes propagierten
Forderungen. 1927 wurde in Beirut eine neue kurdische Partei unter dem
Namen 'Hoybun-Verein'gegründet. Zwischen 1927 und 1930 kam es zum
Aufstand von Agri. Auch diese Bewegung, der es sowohl an in- wie ausländischer
Unterstützung mangelte, endete in einer Niederlage.
In dieser Zeit wurde in
der türkischen Republik der Staatsgedanke zum tragenden politischen
Element. "Auf allen Ebenen muß alles für den Staat geschehen"
war nun die offizielle Parole. Die Durchsetzung dieser offiziellen Ideologie,
die auf dem Gedanken der Identität von türkischem Staat und
türkischer Nation fußte, wirkte sich auch auf die Kurden aus.
Auf der geistigen Grundlage
des sich ab 1930 herausbildenden, geradezu chauvenistischen Nationalismus
wurden unter der kemalistischen Ein-Parteien-Herrschaft zunehmend antidemokratische
Praktiken angewandt, zu denen auch neue Gesetze bezüglich der Kurden
zählten. Eine Reihe gesetzlicher Vorschriften wurde unter dem Titel
"Tunceli-Gesetze" verabschiedet. Als dann auch noch das staatliche Siedlungsgesetz
mit der Nummer 2510 erlassen wurde, auf dessen Grundlage die kurdische
Bevölkerung im Westen angesiedelt werden sollte, kam es zu einem erneuten
Aufstand. Auch dieser, Dersim-Aufstand genannte, wurde 1937/38 blutig niedergeschlagen.
40.000 Kurden wurden ermordet und 500.000 Kurden deportiert.
Der Beginn des 2. Weltkrieges
führte in der Türkei zu großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten.
Die daraus resultierende Verarmung und vor allem der Massenmord von 1938
führte auf kurdischer Seite zu einer langen Zeit des Schweigens.
Der Neubeginn kurdischer Opposition Ende der fünfziger Jahre
Nachdem die Türkei 1949
zu einem Mehrparteiensystem übergegangen war, glaubten auch zahlreiche
Kurden, daß sie ihre Probleme im bestehenden Parlament lösen
könnten. Sie betätigten sich in den etablierten politischen Parteien.
Eine eigentliche kurdische
Opposition trat erst später zutage, als die in der Politik Engagierten
feststellen mußten, daß ihre Hoffnungen in den etablierten
Parlamentsbetrieb vergeblich gewesen waren. Die Verhaftung und das Gerichtsverfahren
von den "neunundvierzig" (tatsächlich waren es 51 Angeklagte) kurdischen
Intellektuellen im Jahre 1959 brachte die Kurdenfrage wieder auf die Tagesordnung.
Der Aufbruch in den sechziger Jahren
Nach dem Militärputsch
vom 27. Mai 1960 wurde mit der Verfassung von 1961 erneut ein Mehrparteiensystem
eingeführt. Damit konnte sich in der Türkei auch linkes Gedankengut
organisieren. Ein großer Teil der geistigen Führungsschicht
der kurdischen Bevölkerung war nun in linken Parteien und Vereinen
aktiv. Von besonderer Anziehungskraft für sie war die "Arbeiterpartei
der Türkei" (TIP). Sie hatte ein sozialistisches Programm und war
mit 15 Abgeordneten im Parlament vertreten - allerdings wurde diese Partei
1971 vom Verfassungericht verboten, da sie die Kurden als eigenes, gesondertes
Volk ansah. Die übrigen linken Organisationen, die als "türkische
Linke" bezeichnet wurden, beschäftigten sich mit der Kurdenfrage nur
hinsichtlich wirtschaftlicher Dimensionen. Sie behaupteten, daß die
Kurdenfrage sich von selber löse, wenn in der Türkei eine sozialistische
Herrschaft errichtet worden sei. Das konnte naturgemäß die an
der Lösung ihrer Probleme interessierten Kurden nicht zufriedenstellen.
Deshalb begannen die Kurden,
sich eigenständig auf legaler und illegaler Ebene zu organisieren.
Der kurdische Aufstand im Irak unter der Führung von Mustafa Barzani
hatte einen großen Einfluß auf die Vorstellung der "getrennten
Organisierung". Auf der illegalen Ebene hatten die "Demokratische Partei
Kurdistans" (KDP) und die "Demokratische Partei von Türkei-Kurdistan"
(TKDP), auf legaler Ebene die "Revolutionären Kulturvereine des Ostens"
(DDKO) großen Anteil daran, daß sich das kurdische Volk organisierte
und sich zu seiner Identität bekannte.
Ahmet Hamdi Basar, der persönlicher
Sekretär von Atatürk gewesen war, brachte 1962 eine Zeitschrift
unter dem Namen 'Welt des Friedens' heraus. In dieser Zeitschrift wurden
Themen wie freie Marktwirtschaft und die Anerkennung von kulturellen Rechten
der Kurden behandelt. Wichtig an dem Erscheinen dieser Artikel war vor
allem, daß solche Thesen nun von Kreisen vertreten wurden, die dem
Staatsapparat nahestanden. Allerdings wurde diese Initiative nach kurzer
Zeit zum Schweigen gebracht.
Nach dem Militärputsch
vom 12. März 1971 richtete sich die Repression sowohl gegen die türkische
Linke, als auch gegen Angehöriger kurdischer Organisationen.
Hunderte von Kurden wurden
verhaftet und viele von ihnen verurteilt. Nach der Amnestie von 1974 begannen
die Kurden, sich auf der Basis linker Programmatik und teilweise mit dem
Ziel eines unabhängigen Kurdistans erneut zu organisieren. Während
auf der einen Seite die Revolutionären Kulturvereine des Ostens (DDKD)
in vielen Provinzen und Kreisen großen Zulauf hatten, wurden auf
der anderen Seite illegale Organisation wie die "Kurdische Arbeiterpartei"
(KIP), die "Sozialistische Partei von Türkei-Kurdistan" (TKSP), die
"Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), KAWA und Rizgari gegründet. Die
illegalen Parteien gründeten ihnen nahestehende Vereine, die legal
operierten und Zeitungen und Zeitschriften herausgaben. Allerdings waren
die kurdischen und linken türkischen Organisationen stark zersplittert
und bekämpften sich untereinander.
Der Militärputsch 1980
Das Militär übernahm
am 12. September 1980 noch einmal die Macht. Die Zielsetzung war - im Gegensatz
zu dem vorausgegangenen Putsch von 1971 - eine grundsätzliche Weichenstellung
für die politische Zukunft des Landes. Die Putschisten ließen
u.a. eine neue Verfassung erarbeiten, die die politischen Freiheiten erheblich
einschränkte.
Das Militärregime ging
erbarmungslos gegen alle demokratischen Einrichtungen vor. Allein zehntausende
von Kurden wurde verhaftet und brutaler Folter unterworfen. Dieses staatliche
Vorgehen kam allerdings denjenigen kurdischen politischen Gruppen entgegen,
die die Ansicht vertraten, daß die kurdische Frage nur mit Waffengewalt
zu lösen sei.
Der Beginn des bewaffneten Konfliktes 1984
Der bis heute andauernde
bewaffnete Konflikt begann, als die "Arbeiterpartei von Kurdistan "(PKK)
am 15. August 1984 den bewaffneten Kampf aufnahm. Teile der staatstragenden
kemalistischen Eliten sahen damit die Chance gegeben, nach dem Scheitern
des "Reformplanes für den Osten" nun die Kurdenfrage militärisch
zu lösen.
Allen militärischen
Einsatzmöglichkeiten und auch allen Prognosen zum Trotz nahm jedoch
die ARGK, der militärische Arm der PKK, im Laufe des nächsten
Jahrzehnts stetig zu - an Guerillakriegern, materiellen Ressourcen und
auch an Unterstützung in der Bevölkerung. Waren es anfänglich
nur ein paar Hundert Guerillakämpfer gewesen, sprach eine Natozeitschrift
1994 von mindestens 20.000 Kämpfern, welche die unwegigen Bergregionen
völlig, andere Regionen der kurdischen Provinzen zumindest nachts
unter Kontrolle hatten. Unterdessen scheint sich dieses militärische
Szenario jedoch zuungunsten der ARGK verändert zu haben.
Der Versuch der legalen Politik: Die HEP und DEP
Während ein Teil der
Kurden den bewaffneten Kampf als Strategie wählte, zogen andere es
vor zu versuchen, auf politischer Ebene Änderungen herbeizuführen.
Die "Arbeitspartei des Volkes" (HEP) gelang es bei den Parlamentswahlen
von 1991 über eine gemeinsame Listen mit der "Sozialdemokratischen
Volkspartei" (SHP) 22 kurdische Abgeordneten ins Parlament zu entsenden.
Die Abgeordneten waren jedoch von Anfang an scharfen Angriffen ausgesetzt.
1993 wurde die HEP durch
das Verfassungsgericht verboten. Ein großer Teil der Abgeordneten
trat daraufhin der neu gegründeten "Demokratiepartei" (DEP) bei. Aber
auch diese Partei hatte kein langes Leben. Am 3. März 1994 wurde den
DEP-Abgeordneten die Immunität entzogen, sie wurden verhaftet und
später zu langen Haftstrafen verurteilt. Die DEP wurde verboten. Auch
gegen die Nachfolgepartei HADEP läuft derzeit ein Verbotsverfahren.
Ein ähnliches Schicksal erlitten zahlreiche andere kurdische Parteigründungen.
Eine Bilanz der vergangenen Jahre
Nach 1990, als sich der Krieg
zwischen türkischer Armee und ARGK/PKK immer mehr intensivierte und
auch räumlich ausdehnte, wurde die kurdische Bevölkerung grenzenlosen
Repressalien durch die Armee und andere Sicherheitskräfte des Staates
unterworfen.
Vom einfachen Bürger
bis hin zum Abgeordneten wurden mehr als 1.500 Menschen Opfer von "Morden
durch unerkannte Täter". Zehntausende von Menschen wurden verhaftet,
gefoltert und zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die kurdische Presse wurde
einem großen Druck ausgesetzt. Der Krieg wurde von der Armee, den
Spezialeinheiten und den Dorfschützern ohne Rücksicht auf irgendwelche
Konventionen geführt.
Die Natur in Kurdistan wurde
zerstört; die Wälder wurden aus militärtaktischen Zwecken
in Brand gesteckt, die landwirtschaftlichen Anbauflächen und vor allem
die in Kurdistan wichtigen Almwiesen gesperrt und vermint.
Mehr als 3.000 Dörfer
und Weiler wurden entvölkert. Mehr als 3 Millionen Menschen wurden
gezwungen, ihren Siedlungsraum zu verlassen. Weit über 30.000 Menschen
verloren ihr Leben.
Die menschlichen, sozialen und ökonomischen Kosten des Krieges
Der "Krieg ohne Namen"
Seit mehr als 13 Jahren tobt
eine Art von Bürgerkrieg zwischen den türkischen Sicherheitskräften
und der kurdischen Guerilla, der offiziell keinen Namen hat, und von einer
Seite als "Auseinandersetzung minderer Intensität" und der anderen
Seite als "schmutziger Krieg" bezeichnet wird.
Die Zahl der Toten wird
von beiden Seiten mit weit über 30.000 angegeben, wobei jeweils der
Gegenseite die größten Verluste unterstellt werden. Es ist davon
auszugehen, daß jede Seite über 10.000 Tote zu beklagen hat.
Zusätzlich sind türkische Zeitungsberichte vom Winter 1996 ernst
zu nehmen, die von Armeestudien berichten, denen zufolge jeder fünfte
aus dem kurdischen Kriegsgebiet zurückgekehrte Soldat unter dem "Vietnam-Syndrom"
leide, d.h. schwer traumatisiert ist.
Anfänglich wurde die
Zahl der Guerillakämpfer auf 300 geschätzt. Nachdem 1993 von
20.000 bewaffneten Kämpfern gesprochen wurde und als Ziel die Truppenstärke
der "kurdischen Armee" auf 50.000 erhöht werden sollte, liegen Ende
1997 die Schätzungen zwischen 5.000 und 20.000 Guerillas. Auch die
Angaben über die Stärke der türkischen Armee in den kurdischen
Gebieten schwanken: Inklusive der zahlreichen Sondereinheiten dürfte
die Personenstärke wohl bei 250.000 liegen.
Allerdings kämpfen
in diesem "Krieg ohne Namen" neben der türkischen Armee weitere Organe
im Namen des türkischen Staates gegen die kurdische Guerilla der ARGK.
Staatliche Kombattanten: Die kurdischen Dorfschützer
Kurz nachdem die PKK den
Kampf im August 1984 mit Angriffen auf die Gendarmeriestationen in Eruh
und Semdinli eröffnet hatte, holte die Regierung des späteren
Staatspräsidenten Turgut Özal ein Gesetz aus dem Jahre 1924 hervor
und bewaffnete Dorfbewohner in der Region als Milizen, sogenannte Dorfschützer,
die gegen die Guerillaeinheiten kämpfen sollten. Es handelte sich
um das Gesetz Nr. 442 vom 17.03.1924. Es wurde durch die Gesetze Nr. 3175
vom 26.03.1985 und Nr. 3612 vom 07.02.1990 erweitert. Es wird demnach nach
regulären "Schützern" (korucular), "temporären Dorfschützern"
(gecici köy korucular) und "freiwilligen Dorfschützern" (gönüllü
korucular) unterschieden. Diese Konstruktion führte dazu, daß
der bewaffnete Konflikt auch eine innerkurdische Dimension erhielt.
In der Anfangszeit fanden
sich einige staatsloyale Stämme bereit, für einen annehmbaren
Monatslohn Waffen gegen die Kämpfer der PKK zu richten. Später
wurde die Akzeptanz von Waffen als Maßstab für Staatstreue bzw.
Staatsfeindschaft genommen. Dorfbewohner, die keine Waffen akzeptieren,
müssen seither damit rechnen, von den türkischen Sicherheitskräften
als PKK-Sympathisanten verfolgt zu werden, auf der anderen Seite sind Dorfschützer
und ihre Familien ein bevorzugtes Ziel bei Strafexpeditionen der PKK.
Im Mai 1997 gab die damalige
Innenministerin Meral Aksener die Zahl der "temporären" Dorfschützer
mit 62.654 (in dieser Zahl sind die unbewaffneten (freiwilligen) Dorfschützer
nicht enthalten) an, für deren Bezahlung im Haushalt 1997 eine Summe
von 11,5 Billionen türkische Pfund TL (ca. 1,6 Millionen DM) vorgesehen
seien.
Wichtiger als die finanzielle
Belastung durch das Dorfschützerwesen ist jedoch die Zwietracht, die
damit unter den KurdInnen gesät wurde. Die vom Staat bewaffneten Stämme
tragen mit der neu gewonnenen Macht alte Fehden aus und bereichern sich
in krimineller Weise durch Waffen- und Rauschgiftschmuggel.
Im Auftrage des Staates: Spezialteams und Überläufer
Unterstützt werden die
Machenschaften der Dorfschützer sowohl durch lokale Militärkommandanten
(meistens aus der Reihe der "ländlichen Polizei", der Gendarmerie),
aber auch durch Angehörige von Spezialeinheiten und/oder "Überläufern"
aus den Reihen der PKK.
Die Spezialteams (özel
tim) wurden in den 90er Jahren für den Nahkampf mit den Guerillas
ausgebildet, werden häufig aber auch als bis an die Zähne bewaffnete
"Rambos" als Ordnungskräfte in den Städten eingesetzt. Die formell
dem Innenministerium unterstellte Sondertruppe arbeitet mit Ausnahmekompetenzen
und vielfach entsteht der Eindruck, daß sie keiner Kontrolle unterstehen,
denn sowohl Gouverneure als auch Landräte bekunden immer wieder, daß
sie keinen Einfluß auf die Willkür dieser gut verdienenden "Rambos"
haben.
Zu Killern wurden auch viele
Überläufer der PKK gemacht. Durch extreme Folter und "Kronzeugenregelungen",
mit denen "geständigen" oder "reumütigen" PKK-Mitgliedern Strafmilderung
zugesagt wurde, hat sich der Staat willfährige Werkzeuge geschaffen,
die zu jedem Verbrechen einsetzbar sind, da sie nur mit dem "Schutz" des
Staates ihr Leben retten können. Nach einer Meldung in der Zeitung
Emek vom 13.07.97 sollen bei Operationen im Gebiet von Kulp-Lice und Bingöl
85 "Geständige" zum Einsatz gekommen sein. Obwohl sich eigentlich
443 "Geständige" der PKK im Gefängnis von Diyarbakir befinden,
werde ihre Zahl mit 358 angegeben.
Kurz darauf gab das Innenministerium
an, daß 2.992 Personen einen Antrag auf Anwendung des Reuegesetzes
gestellt haben (d.h. als "Geständige" behandelt werden wollten) und
in 680 Fällen positiv entschieden wurde. Neben den Einsätzen
bei militärischen Operationen haben sich die "Überläufer",
von denen führende Köpfe in Polizeiwohnungen in Diyarbakir untergebracht
sind, vor allem bei Morden an kurdischen Politikern und "Patrioten" hervorgetan.
Im Zusammenhang mit den
durch den Unfall von Susurluk aufgedeckten Verbindungen zwischen Politikern,
führenden Personen aus dem Polizeiapparat und Killern aus rechtsextremen
Kreisen wurde wiederholt auf die Sonderstellung einiger besonders brutaler
Überläufer hingewiesen. Gleichzeitig sind etliche von ihnen aber
auch in illegale Waffen- und Drogengeschäfte verwickelt, ein mafia-artiger
Sektor, der sich gerade im Kriegsgebiet zu einer Art von "Schattenwirtschaft"
entwickelt hat.
Die Entvölkerung der kurdischen Dörfer
Die Zeitung "Hürriyet"
vom 25.09.96 zitierte Innenminister Mehmet Agar, der die Zahl der ganz
oder teilweise entvölkerten Dörfer und Weiler mit 2.754 angab.
Aus der parlamentarischen Kommission zur Untersuchung der "Flucht" verlautete
Anfang November 1997, daß ingesamt 3.380 Dörfer und Weiler entvölkert
seien. Mitte November gab der Gouverneur für das Gebiet unter Ausnahmezustand,
Aydin Aslan, bekannt, daß zwischen 1992 und 1994 ingesamt 3.165 Siedlungsorte,
darunter 820 Dörfer entvölkert (worden) seien.
Ziel der Vertreibungen war
es, der PKK die Versorgungsbasis in den Dörfern zu entziehen. Die
Dorfbewohner wurden vor die Wahl gestellt, "entweder Dorfschützer,
PKKler oder Flüchtling" (ya korucu, ya Apocu ya yolcu) zu werden.
In einer Stadt wie Cizre wurden 1994 alteingesessene Familien unter dieser
Devise gespalten. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung überließ
die Stadt einigen hundert Dorfschützern, mit denen sie nichts zu tun
haben wollten, obwohl sie miteinander verwandt sind.
Bewohner von Dörfern,
die nicht bereit waren, Dorfschützer zu stellen und damit zur Partei
in dem Konflikt zu werden, wurden gewaltsam vertrieben und ihre Dörfer
häufig zerstört. Auf der anderen Seite wurden Dorfbewohner von
den PKK-Kämpfern unter Druck gesetzt, sie zu unterstützen. Gegen
Familien von Dorfschützern wurde quasi die Tradition der "Blutrache"
angewandt: sie wurden mit Frauen, Kindern und Tieren umgebracht.
Die kurdische Bevölkerung auf der Flucht
Erhebliche Schwankungen gibt
es bei den Schätzungen zur Zahl der Flüchtlinge. Aydin Aslan
gab die Zahl der Flüchtlinge mit 367.000 Personen an.
Der Bericht des U.S. Department
of State "Turkey Country Report on Human Rights Practices for 1996" vom
Januar 1997 spricht von Schätzungen zwischen 330.000 and 2 Millionen
Menschen, um dann zu folgern: "A credible estimate given by a former Member
of Parliament from the region is around 560,000." Dabei hatte schon 1994
der ehemalige Ministerpräsident Necmettin Erbakan die Zahl der Flüchtlinge
mit 3,5 Millionen angegeben (Hürriyet vom 31.10.1994).
Unabhängig davon, wieviele
Hunderttausende von Menschen betroffen waren und ob diese Politik als "Entkurdisierung
von Kurdistan" oder als "Trockenlegen des Meeres, um an die Fische (Guerillas)
heranzukommen" interpretiert wird, an der Fluchtbewegung des letzten Jahrzehntes
wird eines der schlimmsten menschlichen Dramen deutlich, die dieser "Krieg
ohne Namen" mit sich gebracht hat.
Die Verschleppung von Dorfbewohnern,
Morde von "unbekannten Tätern", die den "Überläufern", der
"Konterguerilla" oder der türkischen Variante der "Hizbullah" zugerechnet
werden und Massenverhaftungen aus dem sogenannten Unterstützerumfeld
haben die Einschüchterung der Bevölkerung zum Ziel und trugen
damit zur Entvölkerung des Kriegsgebietes bei.
Es kann mit Fug und Recht
behauptet werden, daß das Bildungssystem im Südosten des Landes
unter den Kriegsbedingungen zusammengebrochen ist. Die Zahl der Analphabeten
ist in den kurdischen Provinzen bereits überdurchschnittlich hoch.
Heute sind nach Angaben der Zeitung "Emek" vom 30.10.97 im Gebiet unter
Ausnahmezustand von 5331 Schulen mehr als 40%, nämlich 2203, geschlossen.
Es sind kaum noch Lehrer
bereit, in den kurdischen Provinzen ihren Dienst auszuführen. Dies
liegt einerseits an der allgemein unsicheren Lage, andererseits an der
Politik der PKK, die Anfang der 90er Jahren zahlreiche Lehrer ermordete,
weil sie in ihren Augen mit dem türkischen Staat kollaborierten. Nach
einer Aufstellung der Menschenrechtsstiftung der Türkei vom November
1995 gingen von den 142 Morden an Lehrern, die zwischen dem 15.08.84 und
dem 20.11.95 im Gebiet unter Ausnahmezustand verübt wurden, 91 auf
das Konto der PKK. 46 wurden den bekannten "unbekannten Tätern" zugerechnet.
Das Gesundheitswesen leidet
ebenfalls unter der Kriegssituation. Neben einer Zunahme an Krankheiten,
mangelnder Versorgung mit Personal und Medikamten, kommt für Mediziner
und Krankenschwestern erschwerend hinzu, daß sie auf vielfältige
Art und Weise "unter die Räder der Kriegsmaschinerie" geraten können,
wenn sie z.B. verwundete Guerillakämpfer behandeln oder dessen verdächtigt
werden. Dies kann Inhaftierung, Folter und Mord zur Folge haben. Allein
im Jahre 1993 wurden 20 Bedienstete im Gesundheitswesen (darunter 5 Ärzte)
im Gebiet unter Ausnahmezustand ermordet; zwischen 1992 und 1994 wurden
60 Beschäftigte im Gesundheitsdienst (darunter 11 Ärzte) in Haft
genommen - laut einem Bericht der Ärztekammer der Türkei an ein
internationales Symposium zu "Menschenrechten und die Verantwortung von
Medizinern", das am 5. und 6. Januar 1995 in Istanbul abgehalten wurde.
In der Tageszeitung "Evrensel"
vom 20.04.1996 wurden verschiedene Quellen mit ihren Schätzungen zu
den Kosten des Krieges zitiert.
Sie lagen zwischen 6 bis
10 Milliarden Dollar jährlich, wovon die Ministerpräsidentin
Tansu Ciller mit geschätzten 7 Milliarden Dollar noch im unteren Bereich
lag.
Laut der Zeitung "Hürriyet"
vom 17.10.96 forderte die Armee für das Jahr 1997 einen zusätzlichen
Etat von 7 Milliarden Dollar, um damit ihren Haushalt um 100% aufzustocken.
An "Kriegskosten" waren in diesem Betrag z.B. die Löhne für das
Personal (u.a. auch Spezialeinheiten, Beamte mit Sonderprämien im
Gebiet unter Ausnahmezustand etc.) noch nicht enthalten.
Der "Krieg ohne Namen" verschlingt
nach allgemeinen Schätzungen ein Drittel des türkischen Staatshaushaltes.
Die Staatsverschuldung kletterte von 1992 bis 1997 von 55 Milliarden Dollar
auf 80 Milliarden Dollar, dazu kommen weitere 30 Milliarden Dollar sogenannter
innerstaatlicher Verschuldung.
Hinter den Kulissen: Die Profiteure des Krieges
Am Kriegsgeschäft profitiert
ein ganzer Sektor. Das Militär ist mit seinem Multiunternehmen OYAK
an verschiedenen Produktionen beteiligt. In den Aufsichtsräten der
überwiegend in Staatsbesitz befindlichen Betriebe KIT (kamu iktisadi
teseküller - öffentliche Wirtschaftseinrichtungen) sitzen
wiederum pensionierte Generäle. Jedoch: nicht alle diese Wirtschaftszweige
profitieren vom Krieg.
Im Kriegsgebiet selbst ist
der allgemeine Markt zusammengebrochen und ganz allgemein ist vor allem
die Kaufkraft gesunken, die Staatsverschuldung tut ein übriges, um
Investitionen etc. zu verhindern. Aber im Militärapparat und
seinen wirtschaftlichen Unternehmen scheinen dennoch die Nutznießer
des Krieges in der Mehrheit zu sein, nicht die durch den Marktzusammenbruch
Geschädigten. D.h. es gibt dort anscheinend keine wirtschaftlich motivierte
Haltung gegen den Krieg.
Neben den kurdischen Großgrundbesitzern,
die ihre Stämme als Dorfschützer arbeiten lassen und den größten
Verdienst selber einstreichen, haben "Banden" von Überläufern,
Spezialteams und Dorfschützern ihre Sonderrechte dazu genutzt, sich
in Mafia-Art durch Drogenhandel, Erpressungen und andere "Geschäfte"
zu bereichern. Diese zeichnen sich auch durch ihre Beziehungen bis auf
Regierungsebene aus. Es kann hier allgemein von einer florierenden "Schattenwirtschaft"
gesprochen werden.