Soziale und wirtschaftliche Lage von KurdInnen im Westen der Türkei

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Recherche für die Schweizerische Flüchtlingshilfe

Teil 4:

Soziale und wirtschaftliche Lage von KurdInnen im Westen der Türkei

Neben der Frage, ob KurdInnen im Westen der Türkei ausreichende Sicherheit vor politischer Verfolgung besitzen, war auch die Frage zu prüfen, ob ihnen dort keine anderen (sozialen, wirtschaftlichen oder ähnliche) Nachteile und Gefahren drohen, die zu einer asylerheblichen "existentiellen Gefährdung" werden könnten, sofern eine solche Situation in dieser Form am Herkunftsort nicht bestanden hätte.

Bei der Beantwortung dieser Frage muß ich vorwegschicken, daß sich viele meiner Gespräche mit den Betroffenen (zumindestens jeweils am Anfang) auf die Situation in der Heimat konzentrierten. Das rührt zum Einen daher, daß die Kontaktpersonen (insbesondere Journalisten) selber an Informationen aus dem Kriegsgebiet interessiert waren und ihre Kontakte (bislang) unter dem Gesichtspunkt erfolgt waren, möglichst dramatische Ereignisse aus dem umkämpften "Kurdistan" geschildert zu bekommen. Es fanden aber auch relativ zufällige Begegnungen mit Flüchtlingen statt (wie einem Frisör in Izmir). Selbst wenn in diesen und ähnichen Fällen behauptet wurde, daß die Flucht aus überwiegend ökonomischen Überlegungen heraus stattfand (siehe auch die Begegnungen im Viertel Demirkapi des Stadtteils Bagcilar in Istanbul), so stellte sich meist nach kurzer Zeit heraus, daß es zumindestens indirekt die Kriegssituation war (z.B. fehlende Kundschaft, bzw. eigene Verhaftung), die diese Personen zur Flucht bewegt hatte.

Da ich in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle mit Personen sprach, die innerhalb des letzten Jahres in den Westen der Türkei geflohen waren, nimmt es nicht Wunder, daß die teilweise sehr dramatischen Ereignisse im kurdischen Siedlungsgebiet für viele den zentralen Punkt darstellten, wenn sie zu ihrem Schicksal befragt wurden. () Bei allen Einschränkungen zur Auswahl der Betroffenen muß davon ausgegangen werden, daß die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge vor direkten oder indirekten Auswirkungen des Krieges geflohen sind.

Nach einer Aufstellung des Menschenrechtsvereins in der Türkei waren Ende 1993 insgesamt 874 Dörfer und Weiler ganz oder teilweise entvölkert. () Die "Frankfurter Rundschau" berichtete am 20.01.94, daß aufgrund dieser Praxis ca. 1,7 Millionen Menschen auf der Flucht seien. In Kreisen der HADEP wurde die Zahl von mittlerweile 2000 Dörfern genannt, die entvölkert worden sein sollen. Der Vorsitzende der Mutterlandspartei ANAP, rechtsnational eingestellte, stärkste Oppositionsfraktion im türkischen Parlament, nannte im September 1994 eine Zahl von 1.500 entvölkerten Dörfern. Bei seit Beginn des Jahres fast doppelt so viel entvölkerten Dörfern dürfte die Zahl der Flüchtlinge auf über 3 Millionen angestiegen sein. Die meisten von ihnen werden sich nach wie vor im Gebiet unter Ausnahmezustand (in nahegelegenen Kreis- oder Provinzhauptstädten) aufhalten, () obwohl größere Städte wie Sirnak, Lice oder Cizre nach Bombardierungen an Bevölkerung abgenommen haben.

Den 20 von mir in Istanbul durchgesehenen Fragebögen zur Situation der kurdischen Flüchtlinge kann sicherlich keine Repräsentativität bescheinigt werden. Allerdings fällt auf, daß obwohl 9 der Befragten angaben, wegen Arbeit oder Unterkunft nach Istanbul gekommen zu sein, immerhin 14 sagten, daß sie unter Druck gesetzt wurden, Dorfschützer zu werden. () Dies deutet darauf hin, daß die meisten Flüchtlinge vor staatlichem Druck fliehen. Unter meinen Gesprächspartnern traf ich allerdings auch auf Personen, die den Druck der PKK gleichermaßen für ihre Flucht verantwortlich machten (eine Person im Stadtteil Demirkapi in Istanbul und eine Person im Stadtteil Sakirpasa in Adana). Es mag zwar sein, daß diese Äußerungen getan wurden, um von offiziellen Stellen nicht für eine einseitige Stellungnahme kritisiert zu werden (wie mir meine Begleiter versicherten), es gibt jedoch auch staatstreue Kurden, die in den Westen fliehen (allerdings nicht immer aufgrund der von der PKK verübten Grausamkeiten, wie das Beispiel des Dorfschützers Kasim Kaptan aus Bitlis belegt, s. Presseberichte).

Insgesamt spielen allerdings die Fluchtgründe für diesen Bericht nur eine untergeordnete Rolle. Wichtiger sind in diesem Zusammenhang die Bedingungen, die die Flüchtlinge im Westen der Türkei vorfinden. Die meisten der Geflohenen hatten Unterkunft bei oder auf Vermittlung von Verwandten gefunden. Die schlimmsten Zustände waren bei Flüchtlingen zu beobachten, die gerade erst angekommen waren, obwohl ich die aus Erzählungen berühmt- berüchtigten "Zeltstädte" (wie sie in Sariyer (Istanbul) oder bei Ceyhan existieren sollten) nicht gesehen habe. Von den in der Nähe von Ceyhan in Zelten lebenden Menschen wurde mir gesagt, daß es sich um Saisonarbeiter handelt, die mit der ganzen Familie in der Landwirtschaft arbeiten. Zweifel habe ich dennoch nicht an einem Bericht von Cengiz Tas, daß in der Nähe von Selcuk (bei Izmir) drei kurdische Familie, denen vor Jahren ihre Häuser abgerissen worden waren, seitdem in Zelten vor der Stadt leben. Ebenso glaubwürdig ist ein Bericht des Menschenrechtsvereins Ankara, demzufolge in den letzten 4 Jahren insgesamt 50 kurdische Familien (mehr als 300 Personen) nach Beypazari gekommen sind und dort vor der Stadt in Zelten leben. ()

Gerade bei Neuangekommenen stellte ich fest, daß sie regelrechte Baustellen bezogen hatten (wie eine Gruppe von Frauen und Kindern in Asarlik bei Menemen, die leider nicht mit uns reden wollten). Die verallgemeinernde Bemerkung vieler ExpertInnen, daß sich 3 bis 4 Familien eine Wohnung teilen, konnte ich mehrfach auf ihre Richtigkeit hin überprüfen. Es gab aber auch andere, die anscheinend schon seit längerem auf die Flucht vorbereitet waren, und sich in den Jahren zuvor ein eigenes Haus zugelegt hatten (vor allem in Istanbul). In anderen Fällen hatten Flüchtlinge ihr Kapital gleich in einen Wohnungskauf angelegt (wie Hakki Yenitoz in Adana). Allerdings wird er sich den kleinen Bau mit 3 Zimmern mit 23 Personen teilen müssen, von denen 15 schon in Adana angekommen sind.

Allgemein kann gesagt werden, daß die Flüchtlinge im Westen der Türkei auf engerem Raum zusammenleben müssen, als in ihren Heimatdörfern, selbst wenn ihnen das Leben in der Großfamilie (mit mehreren Generationen) nicht fremd ist. Neben Klagen über relativ hohe Mieten je nach den örtlichen Gegebenheiten (von 800.000.- TL in Ceyhan bis 2,5 Millionen TL in Istanbul, zwischen 40.- und 120.- DM monatlich), richteten sich die Beschwerden hauptsächlich gegen mangelnde Versorgung mit Wasser. Obwohl nur einige der "Kurden-Viertel" nicht mit fließendem Wasser versorgt waren (wie Yamanlar in Izmir), waren gerade in Istanbul die "Kurden-Viertel" besonders vom "Haushalten" mit dem Wasser betroffen, so daß in einzelne Gegenden nur einmal pro Woche Wasser kam (in der Regel werden Haushalte in Istanbul aufgrund der allgemeinen Wasserknappheit in den Sommermonaten einmal pro Tag für eine oder mehrere Stunden mit Wasser versorgt).

Die mangelnde Versorgung mit Wasser und Überbelegung von Wohnungen bringt eine völlig mangelhafte Hygiene mit sich, die sich vor allem auf die Gesundheit der Kinder auswirkt. Ich sah etliche Kinder mit Hautausschlag und auf die Frage nach einer ärztlichen Versorgung wurde mir immer wieder versichert, daß das Geld für eine Behandlung fehlt. Es fällt mir dennoch schwer, einen Vergleich mit der Situation in den Heimatorten bzw. zur sonstigen Bevölkerung der Türkei zu ziehen. Auf der einen Seite ist die medizinische Versorgung in den kurdischen Gebieten bekanntlich sehr schlecht, so daß ein Arztbesuch nicht nur aufgrund von Geldmangel, sondern schon wegen der Entfernung zum Arzt nur in äußersten Notfällen geschieht. Auch mittellose Türken haben es schwer, eine ordentliche Behandlung zu erhalten. In einigen Fällen wurde mir berichtet, daß mangelnde Türkisch- Kenntnisse dazu führten, keine, ungenügende oder verzögerte Behandlung zu bekommen. Demgegenüber wiederum standen Äußerungen, daß es in der Nähe der Kurdenviertel (oder aber in Mersin generell) kurdisch-sprachige Mediziner und medizinisches Personal gibt, wodurch eine sachgerechte Betreuung möglich wird.

Eines der Hauptprobleme im sozialen Bereich ist sicherlich der Schulbesuch von kurdischen Kindern. Bei meinen Gesprächspartnern schien dies ein Problem von weit untergeordneter Bedeutung zu sein. Sicherlich gab es auch Familien, die einen sozialen Aufstieg über die Schulbildung ihrer Kinder verwirklichen wollten und dazu keine Kosten scheuten (wie eine Frau aus Bismil, die ihren Sohn auf Internate in Erzincan und Izmir geschickt hatte), aber für den überwiegenden Teil der Betroffenen schien die Schulbildung der Kinder ohne große Bedeutung zu sein.

Der Grund dafür mag einmal in der Tatsache liegen, daß auch in der Heimat für viele Kinder ein geregelter Schulbesuch nicht möglich war (sehr viele Schulen in den -teilweise nicht mehr existierenden- Dörfern sind aufgrund der Kriegssituation geschlossen), auf der anderen Seite mögen die Eltern nicht an den Erfolg ihrer Kinder auf Schulen, an denen in einer "Fremdsprache" (Türkisch) unterrichtet wird, glauben und schließlich sind viele Familien auf den "Broterwerb" der Kinder angewiesen, die z.B. beim Verkauf von Zigaretten (mit einer Kiste in der Hand) oder dem Angebot für Passanten, ihr Gewicht zu überprüfen (eine Waage kann schnell unter den Arm genommen werden) noch am ehesten den Operationen der Stadtverwaltung und Polizei entgehen können. In etlichen Familien wurde mir berichtet, daß die Kinder bei der Landarbeit eingesetzt werden oder mit den Eltern zusammen Müll (Papier und Eisen z.B.) sammeln, damit wenigstens ein kleines Einkommen zum Überleben erzielt wird.

Insgesamt kann ich aber unabhängig von den Schwierigkeiten für die Gesamtfamilie, ausschließlich in Bezug auf die Lage der Kinder in den Metropolen der Türkei nicht behaupten, daß sie im Vergleich zu ihren Heimatorten Nachteilen und Gefahren ausgesetzt sind, die am Herkunftsort so nicht bestanden hätten. Die Feststellungen von Aynur Yaman aus Adana (s. Dokumente) zu den Gefahren der Großstädte für Kinder und Jugendliche in Form von Verwahrlosung und Kriminalität sind sicherlich zutreffend, aber im Kontext der Türkei nicht nur auf kurdische Kinder und Jugendliche zu beschränken.

Die grundsätzlichere Frage ist die Möglichkeit für die Flüchtlinge, mit oder ohne die in mehrerer Hinsicht problematische Kinderarbeit, ihren Unterhalt in den Städten des Westens zu bestreiten. Bei der in der gesamten Türkei sehr hohen Arbeitslosigkeit (ca. 20-30%) gelingt es den Geflohenen kaum, Arbeit zu finden und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. So treffen wir die meisten Kurden mit Arbeit als Straßenhändler oder Tagelöhner (vorwiegend im Baugewerbe), die neben dem Konkurrenzkampf mit Alteingesessenen immer häufiger mit Drangsalierungen durch die Behörden rechnen müssen (Beispiele dazu weiter unten).

Unter meinen Gesprächspartnern fand ich einige, die ihre Söhne oder Töchter in einer Art Werkstatt (für Textilien oder Schuhe) untergebracht hatten oder in Form von Hausarbeit für geringen Lohn (1 Pullover in 2 Tagen für 40.000.- TL = 2.- DM) arbeiteten. Die überwiegende Anzahl der Flüchtlinge aber gab an, als Tagelöhner (im Baugewerbe) hin und wieder eine Arbeit und Entlohnung zu finden. Einige Kurden, die schon vor längerer Zeit (10 Jahre oder früher) in den Westen gekommen waren, hatten sich entweder ein kleines Geschäft eingerichtet oder waren als Straßenhändler zu etwas "Wohlstand" gekommen (hatten sich ein Haus gebaut wie Sadik Bayar in Adana). Selbst Sadik Bayar aber beklagte sich, daß er bei seiner Tätigkeit in letzter Zeit behindert werde und nur noch in bestimm-ten Gegenden von Adana seine Waren verkaufen könne.

Bei Neuangekommenen war die Not erwartungsgemäß am Schlimmsten. In Asarlik bei Menemen war Herr Altinmakas vor einem Monat mit 2 Söhnen eingetroffen. Während einer der Söhne (im wehrpflichtigen und arbeitsfähigem Alter) gerade erst eine Krankheit auskuriert hatte, sagte der andere etwa 30-jährige Sohn, daß sich die Familie nicht einmal eine Konserve kaufen könne. Im Augenblick befände er sich in so etwas wie einem "Hungerstreik", meinte er. Seit einem Monat sei er vergeblich auf Arbeitssuche. Jedes Mal, wenn sich herausstelle, daß er aus dem Osten, ein Kurde sei, sei die Antwort "keine Arbeit". Somit sind die 11 Personen, deren Wohnung mtl. 1 Million TL an Miete kostet, (noch) ohne Einkommen.

Fast alle Familien, die ich sprach, gaben an, ein unregelmäßiges Einkommen durch die Arbeit von ein oder zwei Familienmitgliedern zu haben. Allerdings waren im Stadtteil Hürriyet von Adana durchaus Familien, die praktisch kein Einkommen hatten. Eine Frau, deren Mann und Sohn getötet worden war, lebte dort in einer Hütte mit 7 Kindern und konnte nur durch die Unterstützung der Nachbarn überleben. Kezban Hozat aus einem Dorf bei Lice, Provinz Diyarbakir gab an, mit 6 Personen in einer Art Baustelle zur Miete zu wohnen. Arbeit habe bisher niemand gefunden. Ihr Mann sei vor 3 Tagen nach Turkmenistan aufgebrochen, in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden. Die Familie Hozat war im Oktober 1993 nach Adana gekommen.

In allen Orten berichteten die ExpertInnen von Behinderungen der Stadtverwaltungen (in Istanbul hauptsächlich in Aksaray, Fatih und Eminönü) und Polizeiaktionen gegen kurdische Straßenhändler. Ich selber traf nur auf wenige Familien, in denen ein Einkommen durch Straßenverkauf erzielt wurde. In der Frauengruppe der HADEP in Adana berichtete eine Frau aus dem Stadtteil Daglioglu, daß ihr Mann Strassenhändler sei. Er komme aber aus Angst vor Polizeioperationen nur selten nach Hause. Im HADEP-Büro in Gaziosmanpasa (Istanbul) berichtete eine Frau aus Bismil in der Provinz Diyarbakir, daß einer ihrer Söhne als Straßenhändler arbeite. Dabei würde er und andere, die von einem Wochenmarkt zum anderen ziehen, immer wieder behindert. Einmal sei er verhaftet worden, habe sich nackt ausziehen müssen und sei mit Stromstößen und Wasser unter Hochdruck gefoltert worden. In den 3 Tagen habe man ihn auch häufig geschlagen. Man habe ihm versichert, daß man die Kurden nicht in Ruhe lassen werde.

Sait Eren von der HADEP in Adana war zu jener Zeit als die Straßenhändler aus Adana vertrieben wurden, () Mitglied des Stadtrates gewesen sei. Er hatte sich damals an den Bürgermeister Selahattin Colak gewandt. Dieser sagte ihm, daß die Angelegenheit seine Kompetenzen übersteige und es sich um eine Anweisung des Gouverneurs handele. Die Intervention von Sait Eren beim stellvertretenden Ministerpräsidenten Erdal Inönü, der Abhilfe versprach, war erfolglos. Sait Eren meinte, daß dies ein klarer Hinweis darauf sei, daß die zivile Regierung nicht die Macht im Staate innehabe.

Behinderungen der kurdischen Straßenhändler

In der Presse war immer wieder von Behinderungen der kurdischen Straßenhändler zu lesen. Hier eine kleine Auswahl von Beispielen:

Im Mai 1993 sagte der türkische Vorsitzende des Vereins der Straßenhändler in Mersin, Metin Özbulduk, daß der Gouverneur Cetin Birmek auf einer Versammlung 80% der Straßenhändler als Terroristen bezeichnet habe.

Im Stadtteil Denizli (Adana) folgten im August 1993 die kurdischen Straßenhändler dem Aufruf der PKK zum Jahrestag des 15. August die Arbeit niederzulegen. Daraufhin sollen ihre Wagen durch die Polizei zerstört worden sein.

Am 12.09.93 überfielen Polizeibeamte 7 kurdische Straßenverkäufer, die vor einer Garnfabrik im Stadtteil Denizli (Adana) auf den Feierabend der Arbeiter warteten. Der 18-jährige Sahabettin Bal und sein 10-jähriger Bruder I.B. wurden durch die Schläge erheblich verletzt und mußten drei Tage lang das Bett hüten. Sie sagten: "Die Polizei von Adana sieht in den Kurden Feinde. Es gibt hunderte von Straßenverkäufer, aber die Polizei geht nur gegen die Kurden vor. Es heißt, 'euer Kapital kommt von der PKK und ihr müßt die Hälfte an sie abgeben. Wir werden eure Arbeit behindern, solange bis ihr vor Hunger sterbt'."

In Mersin beschwerten sich im September 1993 Kinder, die Zigaretten verkaufen, über die Willkür der Polizei. Der 13- jährige A.Y. sagte: "Vor 2 Tagen kamen 3 Polizisten und fragten nach meinem Geburtsort. Als ich sagte, daß ich aus Diyarbakýr bin, wurde ich be-schimpft und geschlagen. Alle Zigaretten, die ich hatte, wurden zerstört."

Im August 1993 wurde der Straßenhändler Sükrü Aslan vor einer Moschee im Stadtteil Gündogdu (Mersin) von der Polizei angegriffen und durch Knüppel- und andere Schläge verletzt. Sein gebrochenes Bein war 27 Tage in Gips. Er war im Jahr zuvor nach Mersin gekommen.

Die Straßenhändler Ibrahim Koza und Izzettin Cetin sagten, daß sie am 18.08.93 im Stadtteil Beyazit (Istanbul) von der Polizei angegriffen wurden. Sie habe ihre Wagen und Melonen zerstört. Am gleichen Tag wurde der Wagen und die Muscheln, die der 19-jährige Kava Dirilan an der gleichen Stelle verkaufen wollte, zerstört.

Am 01.10.93 berichtete "Özgür Gündem", daß in Eminönü-Kücükpazar (Istanbul) die Stadtverwaltung 60 Wagen von Straßenhändlern beschlagnahmt hat. Der Straßenhändler Mahmut Kaya, sagte, daß man sie aufgefordert habe, fortzugehen: "Haben wir euch etwa eingeladen? Geht in die Heimat, schließt euch der PKK an, wir werden nicht erlauben, daß ihr euch hier niederlaßt."

"Özgür Gündem" vom 28.02.94 berichtete, daß in der Provinz Aydýn durch das Polizeidirektorat eine Vorschrift eingeführt wurde, daß alle fliegenden Händler ihren Personalausweis am Kragen festmachen müssen. Als Begründung wurde angegeben, daß dies zum Schutz gegen Terror notwendig sei. Damit können die Kurden unter ihnen leichter identifiziert werden.

Im Istanbuler Stadtteil Eminönü wurde im Juni 1994 von Aktionen der Stadtverwaltung gegen die Straßenhändler berichtet. Sie sagten, daß seit Amtsantritt des Bürgermeisters Ahmet Cetinsaya von der Mutterlandspartei ANAP insgesamt 2000 Verkaufswagen und Stände zerstört worden seien. Ende des Monats beschwerten sich die Straßenhändler erneut. Dieses Mal sagten sie, daß sie das Dreifache an Strafe für Sauberkeit zahlen müßten, wie in anderen Stadtteilen von Istanbul.

In Ankara beschwerten sich kurdische Händler Mitte Juli 1994 darüber, daß die Stadtverwaltung im Stadtteil Cebeci ihre Stände auf dem Markt zerstört hätte. Zuvor sollen im Stadtteil Keciören, wo im März Turgut Altinok für die MHP zum Bürgermeister gewählt worden war, dieser mit 40 Anhängern der MHP auf dem Markt erschienen sein und gedroht haben, "ich werde alle Stände vernichten, die Kurden hier nicht dulden." Die MHP'ler hätten von den Händlern je 250.000.- TL "Strafe" kassiert.

In der Kreisstadt Tarsus in der Provinz Mersin hatte ebenfalls die MHP die Wahlen im März gewonnen. Die Stadtverwaltung verbot im August 1994 den Straßenhändlern, die Parks zu betreten. In Tarsus sollen von den 1500 Straßenhändlern 400 ihre Arbeit aufgegeben haben. Einer von ihnen, der seinen Namen nicht angeben wollte, sagte, daß unter den türkischen Straßenhändlern Losungsowrte ausgegeben wurden. Sobald Beamte der Stadtverwaltung kämen, blieben sie bei Nennung der Losungen unbehelligt, die kurdischen Straßenhändler aber würden beleidigt, man steche ihnen in die Reifen ihrer Wagen und manchmal würden ihnen ihre Waagen fortgenommen.

Im Stadtteil Fatih von Istanbul dauerten im August 1994 die Auseinandersetzung zwischen der Stadtverwaltung und den Straßenhändlern an. Die Straßenhändler führten die starke Beteiligung der Polizei bei den Vertreibungsmaßnahmen der Stadtverwaltung darauf zurück, daß der neue Bürgermeister von Fatih, Saadettin Tantan, ein ehemaliger Polizeichef ist.

In Istanbul berichteten Anfang September 1994 Straßenhändler aus dem Stadtteil Eminönü, daß 35 von ihnen verhaftet und auf die Polizeidirektion in Gayrettepe gebracht wurden. Sie seien der Bastonade unterworfen worden. Man haben ihnen empfohlen, Diebstahl zu begehen und sich das Diebesgut mit der Polizei zu teilen.

Es hat den Anschein, daß hinter vielen dieser Aktionen der Versuch steht, Kurden durch die Fortnahme ihrer Existenzgrundlage zum Verlassen der Städte im Westen der Türkei zu bewegen. () Unter den Verboten, die die Stadtverwaltung in Tarsus im August 1994 erließ, war auch ein Verbot der Viehzucht, mit der sich viele Kurden in den Randbezirken der Stadt ihren Unterhalt verdienen. Drastisch wird dieses Bestreben an den immer wieder berichteten Zerstörungen von Häusern in den Elendsvierteln deutlich. Sicherlich sind viele dieser Gebäude ohne Baugenehmigung errichtet worden ("gecekondus"), wie sehr viele Häuser in den Großstädten. Im September diesen Jahres berichtete Cumhuriyet, daß in Istanbul fast 60% aller Häuser "gecekondus" seien. Von den Zerstörungen sind wiederum vor allem KurdInnen betroffen. Hier einige Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit:

Zerstörungen von Häusern in den Elendsvierteln

Am 7. Juni 1994 wurden in Izmir im Stadtteil Yesildere vier Häuser (gecekondus) von der Stadtverwaltung zerstört. Einer der Hausbesitzer, Mehmet Demir, sagte, daß der Staat zuvor ihre Häuser im Dorf Hasantepe, bei Nusaybin, Provinz Mardin zerstört hatte. Mit 13 Personen, die er zu ernähren habe, könne er sich keine Miete leisten. In Ankara riß die Stadtverwaltung des Viertels Keciören am gleichen Tag 30 "gecekondus" nieder. Der Bürgermeister Turgut Altinok von der MHP hatte vor den Wahlen im März des Jahres noch Versprechungen gemacht, daß er keine Häuser abreissen werde.

Ende Mai, Anfang Juni 1994 wurden auf Anordnung des Bürgermeisters Cengiz Tunc, der der MHP angehört, 30 Unterkünfte (gecekondus) in dem von Kurden bewohnten Stadtteil Tintin in Salihli (Provinz Manisa) niedergerissen. Wie verlautete sollen alle 250 Unterkünfte in diesem Stadtteil niedergerissen werden.

Am 3. Juli wurden weitere 33 "gecekondus" im selben Stadtteil niedergerissen. Nach dem Vorfall wurden 37 Personen verhaftet. Sie wurden am 5. Juli wieder freigelassen. Nach ihrer Freilassung berichteten sie, daß sie schon während der Zerstörungsaktion von der Polizei geschlagen wurden. Die Polizei hätte in die Luft geschossen und der Polizeichef von Salihli habe gerufen: "Geht dahin, wo ihr hergekommen seid. Wenn ihr vernünftig seid, schließt euch der PKK an." Auf der Wache seien die Schläge mit Kolben und Riemen weitergegangen. Sie seien dann vor Gericht gebracht worden, da sie angeblich die Polizei angegriffen hätten. Dabei sei an ihrer Verfassung klar, wer angegriffen habe. Behcet Yubas und Sabri Becenek, die an den Beinen verletzt waren, beschwerten sich außerdem darüber, daß im Staatskrankenhaus von Salihli einige Ärzte sich nicht um sie gekümmert hätten, weil sie Kurden seien.

Am 13. August wurden im Stadtteil Cennetcesme von Izmir 15 gecekondus niedergerissen. Eine der Betroffenen, Ayse Yildirim sagte, daß dies schon das fünfte Mal sei, daß ihre Unterkunft niedergerissen wurde.

Nach einem Bericht in Özgür Ülke vom 22.08.94 hat das Governeursamt von Izmir beschlossen, Häuser im Stadtteil Cigli, der vorwiegend von Kurden bewohnt wird, niederzureissen, da sie ohne offizielle Genehmigung erbaut wurden. Dem Bericht zufolge sollen 40 Familien dadurch obdachlos geworden sein.

Im Stadtteil Kücükarmutlu in Istanbul sollten am 14.09.94 18 Häuser niedergerissen werden. Ca. 250 Bewohner versuchten mit den Zuständigen zu reden, wurden aber durch Schüsse in die Luft und Polizeiknüppel zurückgetrieben. Dabei wurden etliche Personen verletzt und 5 Personen verhaftet.

Im Viertel Kavacik von Beykoz in Istanbul wurden am 22.09.94 15 "gecekondus" durch die Stadtverwaltung von Beykoz abgerissen. Die Familien zogen aus Protest vor die Stadtverwaltung. Der Bürgermeister Yücel Celikbilek behauptete, daß die niedergerissenen Häuser unbewohnt gewesen seien, kündigte aber an, daß im Falle, daß es Geschädigte gebe, diesen von der Stadtverwaltung geholfen werde.

Wie mir von meinen Gesprächspartner in Izmir versichert wurde, sollen zumindestens die abgerissenen Häuser im Stadtteil Tintin (Salihli) mit Baugenehmigung errichtet worden sein, d.h. hinter dieser Aktion wurde die Willkür des MHP-Bürgermeisters vermutet, der keine Kurden in seiner Stadt haben wolle. Unter meinen Kontakten in Istanbul, Izmir und Adana war zwar niemand, dessen Haus in letzter Zeit zerstört worden war, aber das Schild am Ortseingang des "Kurden-Viertels" Yamanlar in Izmir () macht deutlich, wie real die Gefahr für kurdische Bewohner von "gecekondus" ist, ihre Wohnungen zu verlieren.

Bei meinen Gesprächen kam nur in einigen Fällen die Sprache auf die wirtschaftliche Lage der Betroffenen vor der Flucht. Es war aber in praktisch allen Fällen klar, daß sie nicht in erster Linie aus einer wirtschaftlichen Notlage heraus geflohen waren, obwohl etliche unter ihnen berichteten, daß neben den Häusern auch ihre Felder zerstört und ihre Tiere getötet (teilweise mit den Häusern verbrannt) worden waren. Sie hatten also nicht nur ihre Unterkunft, sondern auch die Grundlage ihrer Existenz verloren. In etlichen Fällen wurde deutlich, daß die Flüchtlinge in der Heimat über ein gesichertes Einkommen verfügt hatten und ohne die "Leiden des Krieges" nicht in den Westen der Türkei geflohen wären. Der Mann aus Cizre, der nach Ceyhan geflohen war, mag mit 3 Mietshäusern und einem Geschäft in der Heimatstadt vielleicht eine Ausnahme sein, aber es gab unter den Bauern, die ihre Dörfer verlassen hatten, durchaus welche, die einen großen Bestand an Vieh oder reiche Äcker besessen hatten, und für die Verhältnisse in der Türkei durch-aus als wohlhabend zu betrachten sind.

Bezeichnend waren die Antworten auf meine an manchen Orten gestellte Frage, ob und wie häufig die Familien nach der Flucht Fleischgerichte zu sich genommen haben. () Fast standardgemäß kam die Antwort, daß sie in der Heimat häufig Fleisch essen konnten (evtl. Tiere aus der eigenen Haltung schlachteten), aber nach der Flucht entweder gar kein Fleisch oder ein paar Brocken Hühnerfleisch (an Feiertagen) zu sich genommen hatten. Alle Gesprächspartner waren sich einig, daß sie lieber heute als morgen wieder in die Heimat zurückkehren wollten, ohne dabei die etwas kämpferische Haltung der Frauen innerhalb der HADEP in Adana überbewerten zu wollen, die immer wieder betonten, daß sie nur in ein befreites Kurdistan zurückkehren würden und sich notfalls dafür (anstelle der Männer in den Familien) auch bewaffnen würden. Die Mitglieder der Kommission des Menschenrechtsvereins Istanbul für die "Rechte und Freiheiten der Kurden" hatten bei ihren Umfragen immer wieder festgestellt, daß die Flüchtlinge keinen sehnlicheren Wunsch hatten, als möglichst rasch wieder in die Heimat zurückzukehren.

Als Resümee ergibt sich die Schlußfolgerung, daß (ohne den Krieg) für die überwiegende Mehrzahl der Flüchtlinge an ihrem Herkunftsort keine existentielle Gefährdung bestanden hat. Nach ihrer Flucht sind viele von ihnen als Bewohner von "gecekondu"- Vierteln vom Abriß ihrer Häuser bedroht. Sie werden bei der Arbeitssuche benachteiligt. Die Mehrzahl von ihnen sind ungelernte Landwirte und haben in den Städten der Westtürkei fast nur die Möglichkeit, sich als Tagelöhner (im Baugewerbe oder als Lastenträger) oder als Straßenhändler zu verdingen. Die schon aus dem Jahre 1993 gemeldeten Behinderungen von vorwiegend kurdischen Straßenhändlern haben gerade in Orten mit nationalistisch ausgerichteten Bürgermeistern (nach den Wahlen im März 1994) zugenommen.

Die Gesamtheit der Schwierigkeiten (allgemeine Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne für Gelegenheitsarbeit, Benachteiligung bei der Arbeitssuche, Behinderung der Straßenhändler) haben dazu geführt, daß viele der Flüchtlingsfamilien unterhalb des Existenzminimums leben müssen. Dies dürfte auch für die Mehrheit der abgelehnten kurdischen Asylbewerber zutreffen, d.h. es dürften nur sehr wenige Akademiker und Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung unter ihnen sein. Es muß daher befürchtet werden, daß sie nach einer Rückkehr in die Türkei im wirtschaftlichen Bereich Nachteilen und Gefahren ausgesetzt sind, die nach ihrer Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung gleichkommen, da eine derartige existentielle Gefährdung an ihrem Herkunftsort (zumindestens in Friedenszeiten) so nicht bestanden hätte.