Fragen des Bayerischen VGH und die Antworten
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof VGH formulierte 4 Fragen in einem Beweisbeschluss vom 19. Juli 2011 im Zusammenhang mit dem Widerruf der Anerkennung als politischer Flüchtling (Anerkennung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 26. Juli 1996 und Widerruf am 11. Oktober 2005). Hierzu hatte das VG Ansbach am 3. April 2008 (Az.: AN 1 K 05.31304) entschieden, dass die Klage gegen den Widerruf abgewiesen werde.
Frage 1
- Ist angesichts der politischen und rechtlichen Entwicklung in der jüngeren Vergangenheit davon auszugehen, dass ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, der wegen der während des Wehrdienstes geäußerten Kritik am Vorgehen der türkischen Armee gegen die kurdische Bevölkerung, wegen der Ablehnung des Dorfschützeramtes und wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Unterstützung der PKK bis Mitte der 90er Jahre asylrechtliche relevanten Repressalien (mehrmalige Polizeihaft unter Anwendung von Folter) ausgesetzt war und deshalb seinerzeit die Türkei vorverfolgt verlassen hat, bei einer Rückkehr in die Türkei wegen dieser früheren Aktivitäten keine staatlichen Maßnahmen oder Strafen mehr zu befürchten hat?
- Wenn nicht, mit welchen Maßnahmen/Strafen ist zu rechnen und mit welcher Wahrscheinlichkeit drohen sie?
Antwort
Die der Anfrage beigefügte Fallschilderung lässt es als durchaus möglich erscheinen, dass gegen den Kläger vor oder kurz nach seiner Ausreise Ermittlungen unter dem Verdacht, die PKK unterstützt zu haben, geführt worden sind. Ich kann allerdings nicht sagen, ob dies wirklich der Fall war und ob sich evtl. daraus weitere Konsequenzen (wie ein Haftbefehl zum Beispiel) ergeben haben. Unabhängig von der Verjährungsfrist, die bei einem Vergehen nach Artikel 169 altes Strafgesetz bei fünf Jahren liegen dürfte, muss aufgrund eines Gesetzes aus dem Jahre 2000 nicht mehr mit einer Strafverfolgung gerechnet werden.
Nach Artikel 4 des Gesetzes 4616 "über die bedingte Haftentlassung und Aussetzung von Verfahren und Strafen bezüglich bis zum 23.04.1999 begangener Straftaten" vom 21. Dezember 2000 gilt: "… "Soweit wegen vor dem 23.04.1999 begangener Straftaten, die mit weniger als 10 Jahren Haft als Höchststrafe bedroht sind, die Strafverfolgung oder das Ermittlungsverfahren nicht eingeleitet, die Anklage nicht erhoben, im Hauptverfahren ein Urteil nicht ausgesprochen, oder das Urteil noch nicht rechtskräftig geworden ist, werden Anklageerhebung oder Urteil ausgesetzt, gegebenenfalls wird die Untersuchungshaft aufgehoben."
Sollten seinerzeit Ermittlungen eingeleitet und im Zuge dessen so etwas wie ein Suchvermerk in das GBT (Sammlung allgemeiner Informationen, eine Datenbank, aus der sich ergibt, ob gegen eine Person etwas "vorliegt") eingegeben worden sein, kann es passieren (d.h. es ist schon öfter vorgekommen), dass der Eintrag nicht entfernt wurde. Dann wird eine solche Person solange festgehalten, bis die Sachlage geklärt wurde. Notfalls wird auf ein Schreiben der Staatsanwaltschaft oder des mit der Sache befassten Gerichts gewartet.
Frage 2
- Ist angesichts der politischen und rechtlichen Entwicklung in der jüngeren Vergangenheit davon auszugehen, dass ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, der sich nach den Erkenntnissen deutscher Verfassungsschutzbehörden seit Ende der 90er Jahre kontinuierlich im Bereich der DHKP-C-Anhängerschaft engagiert (Teilnahme an DHKP-C Veranstaltungen im Inland und europäischen Ausland; freundschaftliche Beziehungen zu DHKP-C Funktionären), ohne sich indes selbst als Mitglied dieser Vereinigung zu bezeichnen oder als solches öffentlich in Erscheinung getreten zu sein, bei einer Rückkehr in die Türkei wegen dieser Aktivitäten keine staatlichen Maßnahmen oder Strafen zu befürchten hat?
- Wenn nicht, mit welchen Maßnahmen/Strafen ist zu rechnen und mit welcher Wahrscheinlichkeit drohen sie?
- Ist davon auszugehen, dass die den deutschen Verfassungsschutzbehörden vorliegenden Erkenntnisse auch den türkischen Sicherheitsbehörden bekannt sind?
Antwort
Ich denke nicht, dass davon ausgegangen werden kann, dass keine Maßnahmen oder Strafen gegen eine Person ergriffen werden, die eine offen zur Schau getragenen Sympathie für eine illegale Organisation gezeigt hat, auch wenn dies im Ausland geschehen ist. Die oben zitierte Aussage des Auswärtigen Amtes, derzufolge nur "die Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder (deutliche) Unterstützung illegaler Organisationen" in der Türkei strafrechtlich verfolgt werden, ist durch nichts belegt und entspricht eher einem Wunschdenken, das im gleich darauf folgenden Satz vom Auswärtigen Amt selber widerlegt wurde.
Der viel gelobte Reformprozess kam bis auf geringfügige positive Schritte (wie die Verfassungsänderung im September 2010) nicht nur zu einem Stillstand. Es sind demgegenüber Entwicklungen auch anhand der neuen Gesetze zu verzeichnen, die eher einen Rückschritt bedeuten.
Da sind zum Einen die Änderungen am Gesetz 3713 zur Bekämpfung des Terrorismus (Anti-Terror-Gesetz ATG) zu nennen. Zu den Änderungen mit dem Gesetz 5532 vom 29.06.2006 gehörte u.a.
Der Artikel 7 ATG wurde folgendermaßen geändert (eigene Übersetzung):
"Wer die im Artikel 1 beschriebenen Organisationen... gründet, leitet oder ihnen angehört, wird nach Artikel 314 StG bestraft. Wer Aktivitäten der Organisation organisiert, wird als Leiter der Organisation bestraft.
Wer Propaganda für die Organisation macht, wird mit 1-5 Jahren Haft bestraft. Falls die Straftat mithilfe der Presse oder Publikationen begangen wird, wird die Strafe um die Hälfte angehoben... Folgende Vergehen und Verhalten werden nach diesem Absatz bestraft:
- a) teilweise oder vollkommene Vermummung bei Kundgebungen und Demonstrationen, die zu Propaganda einer terroristischen Organisationen werden;
- b) falls Embleme oder Zeichen getragen werden, Parolen gerufen oder mit Lautsprechern ausgestrahlt wird oder wenn Uniformen mit Emblemen und Zeichen der Organisation angezogen werden, die deutlich machen, dass jemand Mitglied oder Unterstützer der Organisation ist.
Wenn die im 2. Absatz beschriebenen Vergehen in Gebäuden, Lokalen, Büros oder Anbauten von Vereinen, Stiftungen, politischen Parteien, Arbeiter- oder Berufseinrichtungen oder ihren Unterorganisationen begangen wird, wird die Strafe verdoppelt."
Das bedeutet:
- Es wird im Strafmaß nicht mehr nach bewaffneten und unbewaffneten Organisationen unterschieden.
- Die Strafe für führende Mitglieder illegaler (ursprünglich nur bewaffnete, nun aber auch unbewaffnete "terroristische") Organisationen liegt nach Artikel 314 StG zwischen 10 und 15 Jahren Haft. Die Strafe für einfache Mitglieder illegaler Organisationen liegt zwischen 5 und 10 Jahren Haft. Ein einfaches Mitglied einer unbewaffneten Organisation wird demnach nicht mehr mit 2,5 Jahren Haft, sondern mit 6 Jahren, 3 Monaten Haft bestraft (wenn die Untergrenze angewandt wird).
- Die Propaganda für eine solche Organisation wurde um bestimmte Formen der Beteiligung an Demonstrationen und Kundgebungen erweitert. Das Strafmaß ist gleich geblieben.
Wenn ich mir das Schreiben... anschaue, so hat der Kläger an verschiedenen Veranstaltungen teilgenommen, die zum Teil als Veranstaltungen der DHKP-C zu erkennen waren und bei denen entsprechende Spruchbänder ausgerollt und Parolen gerufen wurden. Nach der in der Türkei derzeit gültigen Fassung des Anti-Terror-Gesetzes hat er demnach "Propaganda für eine illegale Organisation" betrieben und müsste mit einer Strafe von 1-5 Jahren Haft rechnen.
Allerdings ist die oberste Rechtsprechung noch einen Schritt weiter gegangen. Wie ich in einem Gutachten an das VG Göttingen vom 11. Dezember 2008 (Az. 1 A 233/06) ausgeführt habe, geht es dabei um Folgendes:
In einem Verfahren gegen Teilnehmer an Beerdigungen in Diyarbakir vom März 2006 wurde vom Kassationshof der mittlerweile in vielen Anklageschriften zitierte Grundsatz entwickelt: "...es ist nicht notwendig, dass der Aufruf einer Organisation, der durch Veröffentlichung in den Organen der Organisation konkretisiert wurde, an eine bestimmte Person gerichtet ist. Es steht fest, dass diese Aktionen, die mit Wissen und Willen der Organisation durchgeführt werden, im Namen der Organisation realisiert wurden. Die Aktion des Angeklagten, der sich an Aktionen im Namen der Organisation beteiligt, stellt neben anderen Vergehen auch einen Verstoß nach Artikel 314/2 türkisches Strafgesetz mit der Nummer 5237 in Verbindung mit Artikel 220/6 StG dar."
Was nach der Verschärfung des ATG eigentlich "nur" als Propaganda für eine illegale Organisation angesehen werden sollte, wird mit der Formulierung "eine Aktion im Namen der Organisation durchführen, ohne selbst Mitglied zu sein" (Artikel 220/6 StG) zur Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation (Strafmaß zwischen 5-10 Jahren Haft).
Hinzu kommt, dass nach dem neuen Strafgesetz jedes Vergehen gesondert abgeurteilt werden muss. Teilnehmer an einer Beerdigung, die durch das Rufen von Parolen z.B. zu einer Demonstration im Namen einer Organisation wird, könnten sowohl wegen Propaganda für und Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation angeklagt und verurteilt werden (evtl. kämen noch weitere Anklagepunkte wie Sachbeschädigung oder Widerstand gegen die Staatsgewalt hinzu).
Nach dieser Rechtsprechung ist es sogar denkbar, dass jemand, der auf einer öffentlichen Veranstaltung Unterricht in der Muttersprache fordert und sich evtl. nicht einmal bewusst ist, dass eine illegale Organisation gerade eine Kampagne mit der gleichen Forderung durchführt, ebenfalls als Organisationsmitglied angeklagt wird.
Einschränkend sollte ich jedoch bemerken, dass die Praxis, die vor allem deswegen kritisiert wurde, weil von ihr viele Jugendlichen betroffen waren,[1] in erster Linie gegen Unterstützer der PKK gerichtet zu sein scheint. Im Zusammenhang mit einer Demonstration in Hopa (Provinz Artvin) wurde nämlich anders verfahren.
Verfahren wegen Demonstration in Hopa
Premierminister Recep Tayyip Erdoğan war am 31. Mai 2011 zu einer Wahlveranstaltung nach Hopa gekommen. Die Polizei schritt gegen Demonstranten ein. Unter der Wirkung von Gasbomben erlitt der pensionierte Lehrer Metin Lokumcu (54) einen Herzinfarkt und verstarb. Es kam danach in Hopa und anderen Städten, wo gegen das Vorgehen der Polizei demonstriert wurde, zu etlichen Festnahmen und auch Anordnung von Untersuchungshaft.
Eine erste Anklage wurde Ende August 2011 bekannt. Den Angeklagten wurde Propaganda für die Volksbefreiungspartei-Front der Türkei (Türkiye Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi THKP-C), Revolutionärer Weg (Devrimci Yol) zur Last gelegt. Als Beweise wurden gerufene Parolen, gesungene Märsche, Plakate und das Erheben der linken Faust aufgeführt. Betroffen waren zunächst sieben der 14 Personen, die in Hopa inhaftiert wurden. Sie müssen sich zusammen mit den anderen auch wegen eines Vergehens gegen das Gesetz 2911 zu Kundgebungen und Demonstrationen verantworten.
Die Staatsanwaltschaft in Erzurum (hier ist das Gericht mit Sonderbefugnissen, das die Aufgabe des Staatssicherheitsgerichts fortführt) hatte auch wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation ermittelt, diesen Vorwurf am 8. August 2011 jedoch fallen gelassen. Das könnte evtl. damit zusammenhängen, dass von der THKP-C Devrimci Yol aus der letzten Zeit so gut wie keine (und erst recht keine bewaffneten) Aktionen bekannt sind. Mithin dürfte der Nachweis schwer fallen, dass es sich hier um eine Organisation im Sinne des Artikel 314 des neuen Strafgesetzes handelt. Wenn jedoch nach Artikel 7(2) ATG verurteilt werden soll, dann wird auch der Nachweis zu erbringen sein, dass es sich um eine unbewaffnete, terroristische Organisation handelt.
Da in der Rechtsprechung der Türkei die DHKP-C nach wie vor als eine bewaffnete Organisation (im Sinne des Artikel 314 neues Strafgesetz) angesehen wird, könnte bei Demonstrationen im Sinne der Organisation vielleicht anders verfahren und Teilnehmer dann als Mitglieder der Organisation abgeurteilt werden.
Informationen der Geheimdienste
Die Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger wegen Propaganda für eine terroristische oder Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation verurteilt wird, hängt natürlich entscheidend davon ab, ob seine Aktivitäten im Ausland den Behörden in der Türkei bekannt geworden sind. Insofern sollte zunächst der letzte Teil der Frage beantwortet werden. Ich gehe davon aus, dass die den deutschen Verfassungsschutzbehörden vorliegenden Erkenntnisse auch den türkischen Sicherheitsbehörden bekannt sind. In dem Schreiben... sind eine Reihe von Aktivitäten des Klägers zwischen 2004 und 2008 (... ergänzt durch eine Aktion im Jahre 2009) aufgeführt. Es handelt sich hier um Erkenntnisse, "die offen gelegt werden können". Das könnte heißen, dass noch weitere Erkenntnisse vorhanden sind, die nicht offen gelegt wurden. Die jeweilige Notiz am Ende jedes Ereignisses "mittelbar beweisbar" deutet darauf hin, dass die Informationen wohl von Mittelsmänner (so genannte V-Leute) stammen und, um sie nicht zu enttarnen, die "Betreuer" deren Aussagen bezeugen können.
Es hat in den Reihen der DHKP-C schon immer Polizeispitzel (V-Leute) gegeben. Sie werden nicht nur den deutschen Verfassungsschutz sondern auch den türkischen Geheimdienst (Nationale Intelligenz-Organisation, Milli İstihbarat Teşkilatı MİT) mit Informationen versorgt haben.
In einer Nachricht der Nachrichtenagentur Firat (ANF) vom 10. April 2011[2] steht u.a. folgendes:
Es hat sich heraus gestellt, dass der im Rahmen des DHKP-C Verfahrens in Düsseldorf in U-Haft befindliche Alaattin Ateş für den Bundesnachrichtendienst (BND) gearbeitet hat. In den Ermittlungsakten, an die ANF gelangte, berichtet er detailliert, wie er für den deutschen Geheimdienst gearbeitet hat. Alaattin Ateş gehörte zu den Personen, die bei Polizeioperationen gegen Mitglieder der DHKP-C an 7 Orten in NRW am 24. Februar 2010 festgenommen worden war. Im August 2010 kam er in Untersuchungshaft. Er soll 2008 und 2009 für die DHKP-C in Deutschland verantwortlich gewesen sein.
Ateş ist vermutlich 2002 nach Deutschland gekommen und wurde von Interpol gesucht. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, so dass er das Angebot des BND für sie zu arbeiten, annahm. Dies hat er dem Bundeskriminalamt detailliert geschildert. In dem Vernehmungsprotokoll vom 10.12.2009, das ANF vorliegt, sagt er, dass er den Beamten “Robert” und “Stefan” über Jahre hinweg Informationen zur Organisation lieferte. In der ersten Verhandlung gegen ihn wies er am 13.01.2011 auf seine Arbeit für den Geheimdienst hin und gab dem vorsitzenden Richter eine Telefonnummer, um das zu bestätigen."
In einem Forum, das sich bydigi.net nennt, werden unter Berufung auf die gleiche Nachricht noch weitere Details genannt.[3]
"Ateş gab an, 4 Jahre für den BND gearbeitet zu haben. Er habe einen Dolmetscher mit dem Namen ‘Cihan’ in Verdacht, für den türkischen Geheimdienst MIT zu arbeiten. Er sei stets von ‘Cihan’ und ‘Robert’ zusammen besucht worden und 'Cihan' habe öfter von Besuchen in der Heimat oder Reisen nach Ankara gesprochen. Nach der Aussage von Alaattin Ates beim BKA soll der Dolmetscher 'Cihan' entlassen worden sein."
Den Wahrheitsgehalt dieser Nachrichten kann ich mit meinen Mitteln nicht überprüfen. Ich sehe darin jedoch einen Hinweis darauf, dass sowohl der deutsche als auch der türkische Geheimdienst Informanten in den Reihen der DHKP-C hat. Inwieweit ein offizieller oder inoffizieller Austausch von Informationen stattfindet, kann ebenfalls nicht sicher beurteilt werden. Aber auch hierauf gibt es Hinweise.
Offizieller Austausch von Informationen
Am 1. April 2004 startete eine europaweite Aktion gegen die DHKP-C. In Istanbul wurden der Gefangenenhilfsverein Marmara TAYAD, die Zeitschrift "Ekmek ve Adalet" (Brot und Gerechtigkeit), der Jugendverein Istanbul, das Kulturzentrum Idil, die Zeitungen "Halkin Sesi" (Stimme des Volkes), "Gençlik Gelecektir" (Jugend ist die Zukunft), der Verein für Grundrechte und –freiheiten, 2 Radiostationen und das Büro der Volksjustiz durchsucht. Dabei wurden (zunächst) 37 Personen festgenommen. In Italien, Belgien, Deutschland und den Niederlanden wurden gleichzeitig Operationen durchgeführt. Die Gesamtzahl der Festnahmen wurde mit über 60 angegeben (vgl. http://derstandard.at/?id=1620935), wobei als wichtige Personen die Festnahme von Avni Er (Italien) und Fehriye Erdal (Belgien) genannt wurden.
Leider sind mir keine Details aus Deutschland bekannt. Wie es scheint, bzw. mir teilweise aufgrund einer Prozessbeobachtung aus eigener Anschauung bekannt ist, wurden vermutlich Telefone in der Türkei abgehört und die deutsche Polizei um Mithilfe bei der Ermittlung und notfalls Festnahme der Gesprächspartner in Deutschland gebeten.
Zur Zusammenarbeit auf offizieller Ebene sei noch folgendes Ereignis genannt. Am 23. September 2010 besuchte eine 6-köpfige Delegation aus Richtern, Staatsanwälten und Anwälten aus Deutschland Istanbul. Sie kamen zum Gerichtsgebäude in Beşiktaş, um Semih Genç, der im Ergenekon Verfahren Zeuge ist, ebenfalls als Zeuge zu vernehmen. Die Vernehmung im Rahmen der Amtshilfe steht im Zusammenhang mit einem Verfahren vor dem Landgericht Düsseldorf gegen ein führendes Mitglied der DHKP-C, Faruk Ereren. Die Staatsanwaltschaft in Deutschland wirft ihm vor, in den Mord an zwei türkischen Beamten im April 1993 und 11 Selbstmordattentaten in Istanbul und Ankara zwischen 2001 und 2005 verwickelt zu sein.
Semih Genç war 1993 aus dem Gefängnis Bayrampaşa als vermeintlich führendes Mitglied der DHKP/C ausgebrochen; später in Rumänien gefasst und an die Türkei ausgeliefert worden.[4] Ich kann nicht beurteilen, ob Semih Genç die Person war, die die Juristen aus Deutschland befragen wollten und besitze auch keine Informationen darüber, was das Ergebnis der Befragung betrifft. Ein Austausch von geheimdienstlicher Information kann wohl ausgeschlossen werden, denn es wird in erster Linie darum gegangen sein, aktenkundige Informationen zu erhärten. Dieses Ereignis deutet jedoch auch auf eine durchaus vorhanden Zusammenarbeit der deutschen und türkischen Institutionen bei der Strafverfolgung von DHKP-C Mitgliedern hin.
Ausgehend von der Annahme, dass der türkische Geheimdienst genau so gut (vielleicht sogar besser) im Vergleich zum deutschen Geheimdienst über den Kläger informiert sein dürfte, muss dies nicht zwingend bedeuten, dass sofort gegen ihn (auf der oben beschriebenen gesetzlichen und praktischen Grundlage) ein Verfahren eröffnet wird. Die "Erkenntnisse" der Geheimdienste können (soweit bekannt) durchaus bei Verhören der politischen Polizei (offiziell: Dezernat zur Bekämpfung des Terrorismus) eine Rolle spielen. Um zur Grundlage eines Gerichtsverfahrens zu werden, bedürfen diese Erkenntnisse aber eines Nachweises in Form einer beschuldigenden Aussage, eines eigenen Geständnissen oder aber materielle Beweise wie Fotos zum Beispiel.
Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob gegen den Kläger eine beschuldigende Aussage vorliegt. Ich kann auch nicht sagen, ob er bei einem Verhör (unter psychischem und vielleicht auch physischem Druck) ein Geständnis ablegen würde, das inhaltlich über das hinausgeht, was er in seinem Asylverfahren angegeben hat (nämlich eine gewisse Sympathie für die DHKP-C zu empfinden).
Ich besitze auch keine Informationen darüber, ob die Informanten ihre Beobachtungen mit Fotos belegten, oder ob zum Beispiel Fotos von der Demonstration in Antwerpen im Februar 2008 im Internet existieren (eine oberflächliche Suche brachte kein Ergebnis), auf denen der Kläger zu erkennen ist.
Auf diesem Hintergrund ist es schwer, eine Prognose zur Wahrscheinlichkeit strafrechtlicher Verfolgung des Klägers bei einer Rückkehr in die Türkei abzugeben. Anhand eines weiteren Fallbeispiels kann aber gezeigt werden, dass es mehr als nur eine theoretische Möglichkeit ist.
Der Fall Hüseyin Edemir
Es geht hierbei um den Studenten Hüseyin Edemir. Er absolvierte die Middle East Technical University (METU) in Ankara im Jahr 2008 auf dem Gebiet Geschichte. Er wurde sodann für das Masterprogramm, das gemeinsam von METU und der Humboldt Universität durchgeführt wird, im Jahre 2009 als Stipendiat angenommen. Von den 3 Jahren sollten zwei in Ankara und ein Jahr in Berlin stattfinden. Die Semesterferien hatten gerade begonnen, als am 31. Januar 2010 bei einer Personenkontrolle, das Zentralregister GBT abgefragt wurde und sich herausstellte, dass er unter dem Verdacht, Mitglied einer illegalen Organisation (nämlich der DHKP-C) zu sein, gesucht werde. Hüseyin Edemir wurde festgenommen und am 1. Februar 2010 wurde gegen ihn U-Haft angeordnet.
Die Anklage gegen Hüseyin Edemir stützt sich vor allem auf zwei Dokumente, die vor mehr als einem Jahrzehnt jeweils auf Computern gefunden worden sein sollen. Ein Dokument aus dem Jahre 1999 soll in Belgien entdeckt worden sein. Das aus dem Jahre 2001 stammende Dokument soll bei einer Razzia auf die Zeitschrift "Gençlik" (Jugend) beschlagnahmt worden sein.[5] Im GBT stand auch, dass Hüseyin Edemir an verschiedenen Demonstrationen teilgenommen hatte, aber in den Fällen, wo er deshalb angeklagt wurde, war er immer freigesprochen worden.
Da die Dokumente (bzw. mindestens ein Dokument) schon in anderen Verfahren eine Rolle gespielt hatten, aber als nicht verwertbar angesehen worden waren, erwartete Hüseyin Edemir und seine Anwälte, dass er in der ersten Verhandlung vor der 10. Kammer für schwere Straftaten in Istanbul aus der Haft entlassen würde, sahen sich aber getäuscht. Es wurde von April auf den 27. Juli 2010 und von da auf den 8. Februar 2011 vertagt und jedes Mal wurden die Anträge auf Haftentlassung abgelehnt.
In der 5. Verhandlung am 23. Juni 2011 wurde Hüseyin Edemir zu 6 Jahren, 3 Monaten Haft verurteilt. In Erwartung einer Revision wurde er aus der Haft entlassen, aber ihm wurde ein Ausreiseverbot auferlegt. Einer der Staatsanwälte, der auch für das Ergenekon Verfahren zuständig war, Kasım İlimlioğlu, war auch für das Verfahren gegen Hüseyin Edemir zuständig. Er hatte Freispruch gefordert und legte nach der Verurteilung Revision ein. Jedoch hatte der Hohe Rat für Richter und Staatsanwälte am 20. Juni seine Versetzung nach Büyükçekmece beschlossen (ihm die Sonderbefugnisse entzogen). An seine Stelle kam der Staatsanwalt Adnan Çimen. Eine seiner ersten Amtshandlungen war, die eingelegt Revision im Falle von Hüseyin Edemir wieder rückgängig zu machen.[6]
Dieser vielleicht etwas außergewöhnliche Fall ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. In den Jahren 1999 und 2001 gelangte die Polizei in der Türkei in den Besitz von Dokumenten, die anscheinend Hüseyin Edemir belasten. Auf dem Hintergrund der Dokumente wurde ermittelt, aber nicht (sofort) gegen Hüseyin Edemir. Er wurde mehrfach festgenommen, aber erst im Jahr 2011 wurde festgestellt, dass gegen ihn belastendes Material vorliegt.[7] Es ist unklar, wie die Behörden in den Besitz von Dokumenten aus Belgien gelangten. Vorstellbar ist, dass dieses Dokument erst im Jahre 2009 bekannt wurde. Daraufhin wurde ein Eintrag im GBT vorgenommen und Hüseyin Edemir auf eine Suchliste gesetzt.
Auf den Kläger übertragen bedeutet dies, dass die Kenntnisse über seine exilpolitischen Aktivitäten auch Jahre später, wenn sie bekannt werden (d.h. der Geheimdienst Staatsanwaltschaft oder Polizei informiert), noch zu einem Verfahren führen können. Ich kenne den Fall Hüseyin Edemir leider nicht gut genug, um andere Fragen, wie "warum wurde die Sache nicht wegen Verjährung eingestellt?" oder "hätte das Gesetz 4616 (eine Art Amnestie für Vergehen vor Februar 1999) nicht Anwendung finden müssen?" beantworten zu können.
Frage 3
- Sind aktuelle Fälle bekannt, in denen Personen, die wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Unterstützung im Sinne der in Nr. 1 genannten und hiermit vergleichbaren Aktivitäten die Türkei Mitte der 90er Jahre vorverfolgt verlassen haben und sich in der Bundesrepublik Deutschland exilpolitisch in der in Nr. 2 genannten Art und Weise betätigt haben, nach ihrer Rückkehr in die Türkei deswegen der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen worden sind? Wenn ja, wird um eine möglichst ausführliche Darstellung der Fälle gebeten.
Antwort
Mir sind aus den letzten Jahren solche Fälle nicht bekannt.
Frage 4
- Kann ausgeschlossen werden, dass ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit aufgrund seiner in Nr. 1 und 2 genannten Aktivitäten im Falle einer Abschiebung in die Türkei
- a) der Gefahr ausgesetzt ist, bei der Einreise oder zu einem späteren Zeitpunkt der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden?
- b) mit einem strafrechtlichen Verfahren und/oder in diesem Zusammenhang mit Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung rechnen muss?
Antwort
Aufgrund der von der nun seit mehr als 8 Jahren in der Türkei im Amt befindlichen Regierung erklärten "Null-Toleranz" gegenüber Folter wird vielerorts davon ausgegangen, dass eine effektive Bekämpfung solcher Übergriffe zu einer stetigen Abnahme von Folter geführt hat. So stand im Fortschrittsbericht der EU vom November 2010, dass die Bemühungen der Regierung weiterhin zu positiven Ergebnissen führten. Das US Außenministerium verwies lediglich auf Berichte von Menschenrechtsorganisationen über weiterhin vorkommende Folterfälle. Amnesty International sprach im Jahresbericht für das Jahr 2010 davon, dass Folter und Misshandlung vor allem außerhalb der Haftorte andauerten. Ähnlich äußerte sich Human Rights Watch mit dem Zusatz, dass es 2010 zu vier zweifelhaften Todesfällen in Polizeihaft gekommen sei.[8]
Das Ausmaß von Folter und Misshandlung
In einem Lagebericht der deutschen Sektion von amnesty international vom Dezember 2010 wird zur Folter gesagt, dass nach der Änderung des Antiterrorgesetzes vom Juli 2006 Berichte über Folter und Misshandlungen im Gewahrsam der Sicherheitskräfte wieder zugenommen haben.[9]Dies lässt sich anhand der von der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) und dem Menschenrechtsverein IHD heraus gegebenen Zahlen im Wesentlichen bestätigen. Für die Jahre 2003-2010 habe ich folgende Zahlen gefunden:[10]
Jahr/Quelle 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 IHD 1202 1040 825 708 678 1546 1835 1349 TIHV 925 898 675 337 452 425 459 363 Folter in dem Jahr 340 348 193 252 320 269 259 163
Angemerkt werden sollte zu den Zahlen, dass die TIHV sich auf die Fälle von Personen beschränkt, die eine kostenlose Behandlung in den Rehabilitationszentren der Stiftung beantragten. Der IHD wiederum zählt in erster Linie die Zahl der Beschwerden an die diversen Zweigstellen des Vereins. Die wirkliche Zahl der Folterfälle wird damit nicht erfasst. Im August 2008 z.B. erklärte das türkische Justizministerium auf eine parlamentarische Anfrage, dass in den Jahren 2006 und 2007 4719 Bürger wegen Misshandlung und Folter durch Sicherheitsbeamte Klage eingereicht hätten.[11] Für den gleichen Zeitraum nannte der IHD 1386 Fälle von Folter und Misshandlung. Noch deutlicher wird die Diskrepanz bei einer Gegenüberstellung der Statistiken zu den Zahlen, die die Türkei dem Ministerkomitee im Europarat vorgelegt hat. Sie stehen in der Interim Resolution CM/ResDH(2008)69 vom 18. September 2008.[12]
Daraus ergibt sich für die Jahre 2003-2007:
Jahr/Quelle 2003 2004 2005 2006 2007 IHD 1202 1040 825 708 678 Regierung 3000 3291 3635 3962 3339
Ohne auf die Schwankungen in den einzelnen Jahr eingehen zu wollen, sind die Zahlen ein Hinweis darauf, dass das Phänomen Folter in der Türkei nach wie vor auf eine fundamentale Lösung wartet.
Auch im Jahr 2011 ist keine grundsätzliche Wende eingetreten. So hat die TIHV in den ersten Monaten 211 Anträge auf kostenlose Behandlung von Folgen der Folter und Misshandlung erhalten; 79 davon betrafen Übergriffe im Jahr 2011.[13]In der gleichen Erklärung vom Juni 2011 machte die TIHV darauf aufmerksam, dass 6 Personen im Jahre 2010 in Polizeihaft ums Leben kamen. Bis zum 2. Juni 2011 seien 2 Todesfälle in Polizeihaft zu beklagen gewesen.[14] Für die ersten vier Monate des Jahres 2011 verzeichnete die Zweigstelle Diyarbakir des IHD 776 Vorwürfe von Folter und Misshandlung und das nur für das vormals unter Ausnahmezustand stehende Gebiet. Das ist mehr als die Hälfte aller Fälle, die sich im Vorjahr in der Gesamttürkei ereigneten.[15]
Brutales Vorgehen der Polizei am Beispiel Hopa
Exemplarisch sollte auch auf die Ereignisse um eine Demonstration in der Kreisstadt Hopa (Provinz Artvin) am 31. Mai 2011 eingegangen werden. Ich hatte weiter oben schon von einem daraus resultierenden Verfahren berichtet. Hier geht es jedoch um die Vorwürfe von Folter und Misshandlung, die nach den Festnahmen erhoben wurden.
Nach den Ereignissen gingen Anwälte aus Ankara und Istanbul nach Hopa, um sich für die festgenommenen Demonstranten einzusetzen. Am 3. Juni hielten sie eine Pressekonferenz ab. Sie sagten, dass Teams für Sondereinsätze die Leute unter Einsatz von brutaler Gewalt festgenommen hätten. Einigen sei mit Stiefeln auf den Kopf getreten worden. Den Anwälten habe man nichts über die Festgenommenen gesagt. Auf der Polizeiwache hätten sie gesehen, dass die Festgenommenen Spuren von Gewalt an Köpfen, Augen, Mund und Nase aufwiesen. Für İbrahim Aksu sei bei der Festnahme ein Attest ausgestellt worden, dass er gesund sei. Am 2. Juni sei er dann in Staatskrankenhaus Hopa eingewiesen worden, wo ihm gebrochene Rippen attestiert wurden.
Kurz darauf machte sich eine Delegation der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV), des Menschenrechtsverein (IHD), der Ärztekammer der Türkei (TTB) und des Verband von Gewerkschaften im öffentlichen Dienst (KESK) auf den Weg nach Hopa. Die Recherche fand am 6. und 7. Juni statt. Ärzte der TIHV und TTB untersuchten Opfer zwischen 11 und 17.30 Uhr, während andere Delegationsmitglieder mit dem Landrat und dem Bürgermeister von Hopa sprachen.
Bei den Untersuchungen von 10 Männern und 3 Frauen im Alter von 20 bis 45 Jahren wurden Läsionen der Haut aufgrund von Schlägen festgestellt. Die Wirkung von chemischen Mitteln im Gas war im Abklingen. Von den 13 Personen gab es bei 6 Personen keine psychiatrischen Beschwerden. Bei 6 Personen wurden psychiatrische Symptome festgestellt. Bei einer Person hatten sich die schon vor dem Ereignis existierenden Beschwerden verschlimmert. Drei Personen nahmen Medikamente zu sich und 3 Personen wurde empfohlen, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben.
Auf einer Pressekonferenz berichteten am 9. Juni Personen, die bei den Protesten in Ankara festgenommen worden waren, von den Schlägen, denen sie bei der Festnahme ausgesetzt waren und wie sie an den Haaren über den Boden gezogen wurde. Ein Opfer machte auf die sexuelle Belästigung der Frauen unter den Festgenommenen aufmerksam.[16]
Dieses Beispiel deutet vor allem auf die unangemessene Brutalität der Polizei beim Einsatz gegen Demonstranten hin. Diese Gewalt hat sich bei den Protesten in und um Hopa zumindest teilweise auch noch in der Polizeihaft fortgesetzt. So hatte jemand, der bei Antritt der Polizeihaft als "gesund" eingestuft wurde, am Ende der Polizeihaft gebrochene Rippen.
Tote und Verletzte bei Demonstrationen
Es hat im Jahr 2011 weitere Vorfälle gegeben, in denen durch brutale Einsätze der Polizei Demonstranten verletzt oder auch getötet wurden. Der IHD hat in einem Bericht vom 5. Mai 2011 Ereignisse zusammen gestellt, die sich im Rahmen der als ziviler Ungehorsam deklarierten Aktionen der Partei für Frieden und Demokratie ([Barış ve Demokrasi Partisi] BDP) mit dem Aufbau von "Zelten für eine demokratische Lösung" in 26 Städten zwischen dem 15. März und 28. April 2011 ereignet haben. In diesem Zeitraum hat die Polizei insgesamt 56 Mal eingegriffen. Dabei wurden 872 Personen festgenommen. Zwei Personen kamen ums Leben und 63 Demonstranten wurden verletzt.
Einer der Getöteten war İbrahim Oruç (17). Er wurde bei einer Demonstration gegen die Ablehnung der Kandidaten des "Blocks für Arbeit, Freiheit und Demokratie" durch den Wahlausschuss des Landes (YSK) in der Kreisstadt Bismil in der Provinz Diyarbakir am 20. April durch Schüsse der Polizei getötet. Gültekin Kuşu und Mustafa Baykal wurden durch Schüsse der Polizei verletzt. In den Medien tauchten Bilder auf, auf denen Polizisten auf İbrahim Oruç eintraten, als dieser schon am Boden lag.[17]
Eine Woche danach fand ein Protestmarsch gegen die Ermordung des Gymnasiasten statt. Die Polizei setzte Gasbomben ein. Der Demonstrant Kazım Şeker (60) erlitt einen Herzinfarkt und verstarb.
Am 28. August 2001 setzte die Polizei im Kreis Çukurca (Provinz Hakkari) Pfeffergas gegen eine Gruppe von Demonstranten ein, die gegen den Einsatz der Türkischen Streitkräfte über die Grenze zum Irak protestierten. Yıldırım Ayhan, der dem Parteiparlament der BDP in der Provinz Van angehört, verstarb. Es wurde eine Autopsie durchgeführt, die zu dem Schluss kam, dass durch Schüsse die Lunge und das Herz verletzt wurden und Ayhan durch innere und äußere Blutung verstarb.[18]
Diese Vorfälle sind natürlich nicht direkt in Bezug zu einer möglichen Gefahr des Klägers, bei einer Rückkehr in die Türkei Folter oder Misshandlungen ausgesetzt zu sein, zu setzen. Sie machen aber die Atmosphäre deutlich, in denen die Polizei gegen vermeintliche oder wirkliche Gegner des Systems agiert. Während es in den letzten Jahren kaum noch Berichte darüber gibt, dass Verdächtige bei der Polizei mit dem Ziel der Erpressung eines Geständnisses gefoltert werden, häufen sich die Berichte über Folter als eine Art "Vorbestrafung".
Falls der Kläger – aus welchem Grund auch immer – in die Hände von Polizeibeamten fällt, die ihn als Sympathisanten oder gar Mitglied der DHKP-C ansehen, dann ist er als "Staatsfeind" eben dieser Gefahr physischer Gewalt ausgesetzt. Dass die Gefahr nicht nur für Personen gilt, die mit der Waffe in der Hand für die DHKP-C gekämpft haben, belegt der Foltertod von Engin Ceber.
Engin Ceber gehörte zu einer Gruppe, die am 28. September 2008 während einer Demonstration und einer Pressekonferenz im Istanbuler Stadtteil Sariyer festgenommen wurde. Die Gruppe hatte gegen die fortwährende Straflosigkeit im Fall von Ferhat Gerçek protestiert. Der 18-jährige Ferhat Gerçek war am 7. Oktober 2007 von der Polizei angeschossen worden, während er die legale linksgerichtete Zeitschrift Yürüyüs (Demonstration) verkaufte. Am 10. Oktober 2008 starb Engin Ceber im Krankenhaus an den Folgen der in Haft erlittenen Verletzungen.[19] Obwohl es sich bei Ferhat Gerçek und Engin Ceber nicht um Militante handelt, können sie zum Sympathisantenkreis der DHKP-C gerechnet werden.
Einzelnachweise
- ↑ Bis zu einer Gesetzesänderung im Juli 2010 erhielten Minderjährige Haftstrafen zwischen 4 und 5 Jahren. Einige wurden zu 7,5 Jahren Haft verurteilt.
- ↑ Zu finden im Portal Sinews
- ↑ Fundstelle am 29. August 2011
- ↑ Dies habe ich einer Meldung in der Tageszeitung Hürriyet entnommen
- ↑ Die mir vorliegenden Informationen ergeben kein klares Bild. Anscheinend hat das bei der Razzia auf eine Zeitschrift in Istanbul (der korrekte Name könnte "Gençlik Gelecektir", Jugend ist die Zukunft) sein. Das Dokument, das aus Belgien stammen soll, könnte ein Lebenslauf sein, den Hüseyin Edemir der Organisation (DHKP-C) gegeben haben soll. Es kann vermutet werden, dass ähnlich wie bei den Lebensläufen, die in der Zentrale der radikal-islamischen Organisation Hizbullah im Januar 2000 gefunden wurden, es sich um Dateien auf einem Computer handelt. Obwohl die Lebensläufe nicht zwingend von den betroffenen Personen erstellt sein müssen, wurden und werden sie als Beweis der Mitgliedschaft in der jeweiligen Organisation genommen.
- ↑ Ich habe verschiedene Quellen aus dem Internet benutzt, um diese Schilderung zusammenzustellen. Eine davon ist http://www.t24.com.tr/haberdetay/153311.aspx
- ↑ Die Ermittlungen gegen ihn sollen 2009 eingesetzt haben.
- ↑ Der exakte (englische) Wortlaut der getroffenen Aussagen kann beim DTF nachgelesen werden.
- ↑ Länderbericht amnesty international vom Dezember 2010
- ↑ Die verwendeten Quellen sind: Zahlen des IHD und Zahlen der TIHV
- ↑ Siehe einen Bericht beim DTF
- ↑ Wortlaut der Resolution in Englisch
- ↑ Zu finden ist der Text der Pressekonferenz in Türkisch
- ↑ In meinem Gutachten für das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg Vorpommern vom 5. Mai 2010 zum Aktenzeichen 3 L 451/04 bin ich ebenfalls auf das Phänomen der Todesfälle in Polizeihaft und auf die Zunahme von "geheimen Zeugen" in politischen Prozessen eingegangen.
- ↑ Die Zahlen sind im Montsbericht Mai 2011 des DTF zu finden.
- ↑ Diese Angaben sind einem Sonderbericht des DTF zu entnehmen.
- ↑ Der gesamte Bericht ist auf den Seiten des IHD in Türkisch zu finden.
- ↑ Siehe dazu eine Nachricht auf Türkisch beim Netzwerk BIA.
- ↑ Siehe eine Eilaktion von amnesty international