Kosten des Krieges
Die menschlichen, sozialen und ökonomischen Kosten des Krieges
Der "Krieg ohne Namen"
Seit mehr als 13 Jahren tobt eine Art von Bürgerkrieg zwischen den türkischen Sicherheitskräften und der kurdischen Guerilla, der offiziell keinen Namen hat, und von einer Seite als "Auseinandersetzung minderer Intensität" und der anderen Seite als "schmutziger Krieg" bezeichnet wird.
Die Zahl der Toten wird von beiden Seiten mit weit über 30.000 angegeben, wobei jeweils der Gegenseite die größten Verluste unterstellt werden. Es ist davon auszugehen, daß jede Seite über 10.000 Tote zu beklagen hat. Zusätzlich sind türkische Zeitungsberichte vom Winter 1996 ernst zu nehmen, die von Armeestudien berichten, denen zufolge jeder fünfte aus dem kurdischen Kriegsgebiet zurückgekehrte Soldat unter dem "Vietnam-Syndrom" leide, d.h. schwer traumatisiert ist.
Anfänglich wurde die Zahl der Guerillakämpfer auf 300 geschätzt. Nachdem 1993 von 20.000 bewaffneten Kämpfern gesprochen wurde und als Ziel die Truppenstärke der "kurdischen Armee" auf 50.000 erhöht werden sollte, liegen Ende 1997 die Schätzungen zwischen 5.000 und 20.000 Guerillas. Auch die Angaben über die Stärke der türkischen Armee in den kurdischen Gebieten schwanken: Inclusive der zahlreichen Sondereinheiten dürfte die Personenstärke wohl bei 250.000 liegen.
Allerdings kämpfen in diesem "Krieg ohne Namen" neben der türkischen Armee weitere Organe im Namen des türkischen Staates gegen die kurdische Guerilla der ARGK.
Staatliche Kombattanten: Die kurdischen Dorfschützer
Kurz nachdem die PKK den Kampf im August 1984 mit Angriffen auf die Gendarmeriestationen in Eruh und Semdinli eröffnet hatte, holte die Regierung des späteren Staatspräsidenten Turgut Özal ein Gesetz aus dem Jahre 1924 hervor und bewaffnete Dorfbewohner in der Region als Milizen, sogenannte Dorfschützer, die gegen die Guerillaeinheiten kämpfen sollten. Es handelte sich um das Gesetz Nr. 442 vom 17.03.1924. Es wurde durch die Gesetze Nr. 3175 vom 26.03.1985 und Nr. 3612 vom 07.02.1990 erweitert. Es wird demnach nach regulären "Schützern" (korucular), "temporären Dorfschützern" (gecici köy korucular) und "freiwilligen Dorfschützern"(gönüllü korucular) unterschieden. Diese Konstruktion führte dazu, daß der bewaffnete Konflikt auch eine innerkurdische Dimension erhielt.
In der Anfangszeit fanden sich einige staatsloyale Stämme bereit, für einen annehmbaren Monatslohn Waffen gegen die Kämpfer der PKK zu richten. Später wurde die Akzeptanz von Waffen als Maßstab für Staatstreue bzw. Staatsfeindschaft genommen. Dorfbewohner, die keine Waffen akzeptieren, müssen seither damit rechnen, von den türkischen Sicherheitskräften als PKK-Sympathisanten verfolgt zu werden, auf der anderen Seite sind Dorfschützer und ihre Familien ein bevorzugtes Ziel bei Strafexpeditionen der PKK.
Im Mai 1997 gab die damalige Innenministerin Meral Aksener die Zahl der "temporären" Dorfschützer mit 62.654 (in dieser Zahl sind die unbewaffneten (freiwilligen) Dorfschützer nicht enthalten) an, für deren Bezahlung im Haushalt 1997 eine Summe von 11,5 Billionen türkische Pfund TL (ca. 1,6 Millionen DM) vorgesehen seien.
Wichtiger als die finanzielle Belastung durch das Dorfschützerwesen ist jedoch die Zwietracht, die damit unter den KurdInnen gesät wurde. Die vom Staat bewaffneten Stämme tragen mit der neu gewonnenen Macht alte Fehden aus und bereichern sich in krimineller Weise durch Waffen- und Rauschgiftschmuggel.
Im Auftrage des Staates: Spezialteams und Überläufer
Unterstützt werden die Machenschaften der Dorfschützer sowohl durch lokale Militärkommandanten (meistens aus der Reihe der "ländlichen Polizei", der Gendarmerie), aber auch durch Angehörige von Spezialeinheiten und/oder "Überläufern" aus den Reihen der PKK.
Die Spezialteams (özel tim) wurden in den 90er Jahren für den Nahkampf mit den Guerillas ausgebildet, werden häufig aber auch als bis an die Zähne bewaffnete "Rambos" als Ordnungskräfte in den Städten eingesetzt. Die formell dem Innenministerium unterstellte Sondertruppe arbeitet mit Ausnahmekompetenzen und vielfach entsteht der Eindruck, daß sie keiner Kontrolle unterstehen, denn sowohl Gouverneure als auch Landräte bekunden immer wieder, daß sie keinen Einfluß auf die Willkür dieser gut verdienenden "Rambos" haben.
Zu Killern wurden auch viele Überläufer der PKK gemacht. Durch extreme Folter und "Kronzeugenregelungen", mit denen "geständigen" oder "reumütigen" PKK-Mitgliedern Strafmilderung zugesagt wurde, hat sich der Staat willfährige Werkzeuge geschaffen, die zu jedem Verbrechen einsetzbar sind, da sie nur mit dem "Schutz" des Staates ihr Leben retten können. Nach einer Meldung in der Zeitung Emek vom 13.07.97 sollen bei Operationen im Gebiet von Kulp-Lice und Bingöl 85 "Geständige" zum Einsatz gekommen sein. Obwohl sich eigentlich 443 "Geständige" der PKK im Gefängnis von Diyarbakir befinden, werde ihre Zahl mit 358 angegeben.
Kurz darauf gab das Innenministerium an, daß 2.992 Personen einen Antrag auf Anwendung des Reuegesetzes gestellt haben (d.h. als "Geständige" behandelt werden wollten) und in 680 Fällen positiv entschieden wurde. Neben den Einsätzen bei militärischen Operationen haben sich die "Überläufer", von denen führende Köpfe in Polizeiwohnungen in Diyarbakir untergebracht sind, vor allem bei Morden an kurdischen Politikern und "Patrioten" hervorgetan.
Im Zusammenhang mit den durch den Unfall von Susurluk aufgedeckten Verbindungen zwischen Politikern, führenden Personen aus dem Polizeiapparat und Killern aus rechtsextremen Kreisen wurde wiederholt auf die Sonderstellung einiger besonders brutaler Überläufer hingewiesen. Gleichzeitig sind etliche von ihnen aber auch in illegale Waffen- und Drogengeschäfte verwickelt, ein mafia-artiger Sektor, der sich gerade im Kriegsgebiet zu einer Art von "Schattenwirtschaft" entwickelt hat.
Die Entvölkerung der kurdischen Dörfer
Die Zeitung "Hürriyet" vom 25.09.96 zitierte Innenminister Mehmet Agar, der die Zahl der ganz oder teilweise entvölkerten Dörfer und Weiler mit 2.754 angab. Aus der parlamentarischen Kommission zur Untersuchung der "Flucht" verlautete Anfang November 1997, daß ingesamt 3.380 Dörfer und Weiler entvölkert seien. Mitte November gab der Gouverneur für das Gebiet unter Ausnahmezustand, Aydin Aslan, bekannt, daß zwischen 1992 und 1994 ingesamt 3.165 Siedlungsorte, darunter 820 Dörfer entvölkert (worden) seien.
Ziel der Vertreibungen war es, der PKK die Versorgungsbasis in den Dörfern zu entziehen. Die Dorfbewohner wurden vor die Wahl gestellt, "entweder Dorfschützer, PKK’ler oder Flüchtling" (ya korucu, ya Apocu ya yolcu) zu werden. In einer Stadt wie Cizre wurden 1994 alteingesessene Familien unter dieser Devise gespalten. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung überließ die Stadt einigen hundert Dorfschützern, mit denen sie nichts zu tun haben wollten, obwohl sie miteinander verwandt sind.
Bewohner von Dörfern, die nicht bereit waren, Dorfschützer zu stellen und damit zur Partei in dem Konflikt zu werden, wurden gewaltsam vertrieben und ihre Dörfer häufig zerstört. Auf der anderen Seite wurden Dorfbewohner von den PKK-Kämpfern unter Druck gesetzt, sie zu unterstützen. Gegen Familien von Dorfschützern wurde quasi die Tradition der "Blutrache" angewandt: sie wurden mit Frauen, Kindern und Tieren umgebracht.
Die kurdische Bevölkerung auf der Flucht
Erhebliche Schwankungen gibt es bei den Schätzungen zur Zahl der Flüchtlinge. Aydin Aslan gab die Zahl der Flüchtlinge mit 367.000 Personen an.
Der Bericht des U.S. Department of State "Turkey Country Report on Human Rights Practices for 1996" vom Januar 1997 spricht von Schätzungen zwischen 330.000 and 2 Millionen Menschen, um dann zu folgern: "A credible estimate given by a former Member of Parliament from the region is around 560,000." Dabei hatte schon 1994 der ehemalige Ministerpräsident Necmettin Erbakan die Zahl der Flüchtlinge mit 3,5 Millionen angegeben (Hürriyet vom 31.10.1994).
Unabhängig davon, wieviele Hunderttausende von Menschen betroffen waren und ob diese Politik als "Entkurdisierung von Kurdistan" oder als "Trockenlegen des Meeres, um an die Fische (Guerillas) heranzukommen" interpretiert wird, an der Fluchtbewegung des letzten Jahrzehntes wird eines der schlimmsten menschlichen Dramen deutlich, die dieser "Krieg ohne Namen" mit sich gebracht hat.
Die Verschleppung von Dorfbewohnern, Morde von "unbekannten Tätern", die den "Überläufern", der "Konterguerilla" oder der türkischen Variante der "Hizbullah" zugerechnet werden und Massenverhaftungen aus dem sogenannten Unterstützerumfeld haben die Einschüchterung der Bevölkerung zum Ziel und trugen damit zur Entvölkerung des Kriegsgebietes bei.
Die soziale Dimension
Es kann mit Fug und Recht behauptet werden, daß das Bildungssystem im Südosten des Landes unter den Kriegsbedingungen zusammengebrochen ist. Die Zahl der Analphabeten ist in den kurdischen Provinzen bereits überdurchschnittlich hoch. Heute sind nach Angaben der Zeitung "Emek" vom 30.10.97 im Gebiet unter Ausnahmezustand von 5331 Schulen mehr als 40%, nämlich 2203, geschlossen.
Es sind kaum noch Lehrer bereit, in den kurdischen Provinzen ihren Dienst auszuführen. Dies liegt einerseits an der allgemein unsicheren Lage, andererseits an der Politik der PKK, die Anfang der 90er Jahren zahlreiche Lehrer ermordete, weil sie in ihren Augen mit dem türkischen Staat kollaborierten. Nach einer Aufstellung der Menschenrechtsstiftung der Türkei vom November 1995 gingen von den 142 Morden an Lehrern, die zwischen dem 15.08.84 und dem 20.11.95 im Gebiet unter Ausnahmezustand verübt wurden, 91 auf das Konto der PKK. 46 wurden den bekannten "unbekannten Tätern" zugerechnet.
Das Gesundheitswesen leidet ebenfalls unter der Kriegssituation. Neben einer Zunahme an Krankheiten, mangelnder Versorgung mit Personal und Medikamten, kommt für Mediziner und Krankenschwestern erschwerend hinzu, daß sie auf vielfältige Art und Weise "unter die Räder der Kriegsmaschinerie" geraten können, wenn sie z.B. verwundete Guerillakämpfer behandeln oder dessen verdächtigt werden. Dies kann Inhaftierung, Folter und Mord zur Folge haben. Allein im Jahre 1993 wurden 20 Bedienstete im Gesundheitswesen (darunter 5 Ärzte) im Gebiet unter Ausnahmezustand ermordet; zwischen 1992 und 1994 wurden 60 Beschäftigte im Gesundheitsdienst (darunter 11 Ärzte) in Haft genommen - laut einem Bericht der Ärztekammer der Türkei an ein internationales Symposium zu "Menschenrechten und die Verantwortung von Medizinern", das am 5. und 6. Januar 1995 in Istanbul abgehalten wurde.
Die Kosten des Krieges
In der Tageszeitung "Evrensel" vom 20.04.1996 wurden verschiedene Quellen mit ihren Schätzungen zu den Kosten des Krieges zitiert.
Sie lagen zwischen 6 bis 10 Milliarden Dollar jährlich, wovon die Ministerpräsidentin Tansu Ciller mit geschätzten 7 Milliarden Dollar noch im unteren Bereich lag.
Laut der Zeitung "Hürriyet" vom 17.10.96 forderte die Armee für das Jahr 1997 einen zusätzlichen Etat von 7 Milliarden Dollar, um damit ihren Haushalt um 100% aufzustocken. An "Kriegskosten" waren in diesem Betrag z.B. die Löhne für das Personal (u.a. auch Spezialeinheiten, Beamte mit Sonderprämien im Gebiet unter Ausnahmezustand etc.) noch nicht enthalten.
Der "Krieg ohne Namen" verschlingt nach allgemeinen Schätzungen ein Drittel des türkischen Staatshaushaltes. Die Staatsverschuldung kletterte von 1992 bis 1997 von 55 Milliarden Dollar auf 80 Milliarden Dollar, dazu kommen weitere 30 Milliarden Dollar sogenannter innerstaatlicher Verschuldung.
Hinter den Kulissen: Die Profiteure des Krieges
Am Kriegsgeschäft profitiert ein ganzer Sektor. Das Militär ist mit seinem Multiunternehmen OYAK an verschiedenen Produktionen beteiligt. In den Aufsichtsräten der überwiegend in Staatsbesitz befindlichen Betriebe KIT (kamu iktisadi teseküller - öffentliche Wirtschaftseinrichtungen) sitzen wiederum pensionierte Generäle. Jedoch: nicht alle diese Wirtschaftszweige profitieren vom Krieg.
Im Kriegsgebiet selbst ist der allgemeine Markt zusammengebrochen und ganz allgemein ist vor allem die Kaufkraft gesunken, die Staatsverschuldung tut ein übriges, um Investitionen etc. zu verhindern. Aber im Militärapparat und seinen wirtschaftlichen Unternehmen scheinen dennoch die Nutznießer des Krieges in der Mehrheit zu sein, nicht die durch den Marktzusammenbruch Geschädigten. D.h. es gibt dort anscheinend keine wirtschaftlich motivierte Haltung gegen den Krieg.
Neben den kurdischen Großgrundbesitzern, die ihre Stämme als Dorfschützer arbeiten lassen und den größten Verdienst selber einstreichen, haben "Banden" von Überläufern, Spezialteams und Dorfschützern ihre Sonderrechte dazu genutzt, sich in Mafia-Art durch Drogenhandel, Erpressungen und andere "Geschäfte" zu bereichern. Diese zeichnen sich auch durch ihre Beziehungen bis auf Regierungsebene aus. Es kann hier allgemein von einer florierenden "Schattenwirtschaft" gesprochen werden.
weiter mit Aktuelle Lage - 1996
weiter mit Die Geschichte des Konfliktes
zurück zur Übersicht Kurdenfrage